Rezension zu Zana Ramadani: Die verschleierte Gefahr. Die Macht der muslimischen Mütter und der Toleranzwahn der Deutschen. Europa-Verlag, Berlin, 2017
Politische Korrektheit ist zu einem Menetekel geworden. Einst als sprachbewusste Kategorie gestartet, hat sich der Begriff von Gegenständen und Sachverhalten abgelöst und rückverwandelt nun die Realität in bloße Sprachspiele. Wenn alles eingeebnet ist und gut Begründetes gleichrangig neben schlecht oder gar nicht Begründetem steht, ist alles gleichwertig. Kultur heißt aber auch, Unterscheidungen treffen zu können. Politische Korrektheit ist eben nicht wissenschaftliche, auch nicht epistemologische Korrektheit, sondern ein politischer Imperativ, den man teilen kann oder eben nicht. In der jetzigen Handhabung ist er brandgefährlich, nicht nur weil er gesellschaftliche Machtstrukturen verschleiert mitsamt Denunziation und Exkommunikation ihrer Gegner, sondern weil Bedeutungsfelder ausgeblendet werden, die latent bleiben, aber erspürt werden.
Zum Glück hat die ehemalige Femen-Aktivistin Zana Ramadani das begriffen und letztes Jahr ein Buch vorgelegt, das ihr – wie könnte es anders sein – einiges an Scherereien gebracht hat. Doch mutig genug, heiße deutsche Eisen anzufassen, konnte sie schon bei Femen ihr Engagement unter Beweis stellen, als sie im Jahr 2013 mit ihren Kolleginnen Heidi Klums Verkennungs-Wettbewerb, genannt ´GNTM´, bloßstellte. Im Nachgang zu der Aktion kam bei Femen-Aktivistin Hellen Langhorst ein seltsamer Rechtfertigungsdruck auf, den jene jedoch angemessen agierte: Femen kämpfe gegen Sexindustrie, Religion und Diktatur. ´Diktatur, wo?´ mochten manche fragen, ´in Nord-Korea?´ Oder vielleicht in unseren Köpfen? Nichts weniger als die allumfassende Diktatur des marktradikalen Neoliberalismus war kurzerhand Thema. So machten Femen einen gesellschaftlichen blinden Fleck mittels situativer Objektivierung sichtbar, und deren Bild-(Ver)störung bewirkte allerhand Unruhe, die im kurzatmigen medialen Raum gleichermaßen Wellen schlagen wie verhallen musste.
Nach „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011, was nach der Finanzkrise 2008 eine der überzeugenderen Schriften aus dem politischen Feld darstellt, ist 2016 mit „Reichtum ohne Gier – wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ ein neues Buch von Sahra Wagenknecht bei Campus erschienen.
Zentral, und dies bemerkt auch das Stadtmagazin HAMBURG WOMAN ganz richtig, sind die darin benannten wirtschaftsfeudalen Strukturen und Mechanismen, die ermöglichen, was Wagenknecht „leistungslose Spitzeneinkommen“ nennt – dies in Anbetracht von deutscher Kinderarmut und dem, was die Soziologie als Anomie bezeichnet. Hier ist keine schmallippige Spaßverderberhaltung am Werk, sondern eine brisante Gegenwartsdiagnostik, die in den letzten Jahren bereits vielfach seriös erarbeitet wurde. Es handelt sich hier auch nicht um moralische Kategorien, in denen Gier und Neid verhandelt werden, sondern um Zugänge zu gesellschaftswirksamen politischen Setzungen, die von Menschen erzeugt werden und nicht vom Himmel fallen.
Ja, Ludwig Erhard als zentrale Figur in Wagenknechts Verständnis bringt ihr regelmäßig den Vorwurf eines „Zurück in die 70er?“ ein, das total veraltet sei und auch nicht hip und überhaupt. Worum es aber geht, ist nichts weniger als die Rückeroberung des Wirtschaftlichen durch das Politische. Nur all zu bereitwillig haben sich Wagenknechts Kritiker daran gewöhnt, die Wirtschaftssphäre nicht etwa als treibende Kraft, sondern als Primat, das dem Politischen vorausgeht, zu akzeptieren. Nach Hannah Arendt hieße dies, wenn dem so ist, ist das Politische nicht einmal mehr politisch. Die Idee von einer Deutschland-AG konnte wohl nur auf dem Boden einer Schröder-Ära gedeihen, dessen Geschäftsführer wohl jenes fehlte, was Nietzsche „Pathos der Distanz“ nannte, dessen Mangel nur all zu oft mit dem überhöhten Begehr einhergeht, den qualitativen Eliten, möglichst samt Oberschicht-Biographie, anzugehören. Wagenknecht hingegen hat das nicht nötig und erteilt derlei Sperenzien eine souveräne Absage, und das mit stringent volkswirtschaftlicher Argumentation, die dennoch den Menschen darin nicht vergisst. Dazu bedarf es keiner Sentimentalität, sondern Nüchternheit.
Charmant und locker formuliert HAMBURG WOMAN also, wie Wagenknechts Deutschland aussehen soll. Das Stadtmagazin, dessen Cover übrigens Nadja Atwal ziert (die nicht nur aus Hamburger Polizeikreisen einiges zu berichten weiß, sondern mehr von den USA versteht als manch jahrelanger Korrespondent), trifft Wagenknechts entscheidende Ideen und Analysen und rückt sie in jenes verdiente Licht, das nicht links noch rechts, dafür an den Schnittstellen von Vernunft und Leidenschaft anzusiedeln ist. Vielleicht ist es nun Zeit für eine Querfront der politischen Klugheit… Daher darf gelten: ein Hoch auf politische Querdenkerinnen – und auf gelungene Stadtmagazine!
Internationale wissenschaftliche Neuerscheinung Den wissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Konzepten in der Psychopathologie präsentiert der neue im New Yorker Wissenschaftsverlag Nova Science erschienene Band „Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, herausgegeben von Jeremy Williams. Der Band vereinigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, mit Schwerpunkten auf klinischer Persönlichkeitsforschung und Gewaltentstehung. In acht Kapiteln werden Daten und Überlegungen vorgelegt und zukünftige Forschungsperspektiven ausgewiesen.
Nicole Schluep und Junaid Hassim untersuchen im ersten Kapitel „Prognosis in Context“ Prognoseperspektiven im Hinblick auf psychische Störungen. Dabei werden sowohl Faktoren zur Prognosestellung vorgestellt als auch kritisches Denken bei der klinischen Einschätzung in den Blick genommen. Es zeigen sich Notwendigkeiten von Kontextualisierungen, d.h. von Perspektivenrelativierungen, die schwierig, weil individuell anpassungsbedürftig sind, zumal soziale und persönliche Mechanismen psychisches Erleben in einem kulturellen Gefüge definieren. Die Prognosestellung, wie die Autoren es formulieren, variiert notwendigerweise mit der Tatsache, auf welcher Seite des Zaunes sich die Konzeption von Psychopathologie befindet.
Nicole Schluep ist Dozentin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria und niedergelassen in privater Praxis. Junaid Hassim ist klinischer Psychologe, Heilpraktiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria.
Im zweiten Beitrag des Bandes „Pathological Personality Traits: The Darker Aspects of Personality“ widmen sich Gillian McCabe, Jennifer Vrabel und Virgil Zeigler-Hill jenen psychischen Anteilen, die im psychopathologischen Konzept der ´Dark Personality´ ihren Eingang gefunden haben. Mittels kategorialer und dimensionaler Zugänge werden hier Persönlichkeitsmerkmale diskutiert. Interessant ist, dass es eine Rückkehr zur alten psychoanalytischen Einsicht geben könnte, dass Persönlichkeitsmerkmale sich stets auf einem Kontinuum konstituieren, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren ging.
Gillian A. McCabe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan Jennifer K. Vrabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan Virgil Zeigler-Hill, Persönlichkeitsforscher mit den Schwerpunkten Selbstwert, Narzissmus und interpersonelle Beziehungen, Associate Professor am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Eine weitere Perspektive auf die „Dark Personality“ eröffnet András Láng in seinem Beitrag „Early Maladaptive Schema Domains and The Dark Triad: Core Beliefs Show What is Common and What is Distinct in Dark Personalities“. Jene Verhaltensmuster, deren sogenannte Eigenschaften Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus die ´Dunkle Triade´ begründen, werden auf ihre kognitiven Konstrukte hin untersucht. In seiner Studie arbeitet der Autor klinische und subklinische Merkmale heraus. Es lassen sich verschiedene Folgerungen ableiten, von denen die Hypothese frühkindlicher kognitiver Fehlanpassungen eine wesentliche ist.
András Láng, Assistant Professor an der Universität Pécs in Ungarn im Fachbereich klinische und Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsforschung
Das vierte Kapitel des Bandes behandelt das Thema Vermeidung. Santiago Barajas, Luis Garra und Marisa García-Pérez stellen in “Avoidance: Implications for Psychopathology and Advances in Research” das Phänomen der Vermeidung im psychopathologischen Kontext derer Vorzüge und Nachteile vor und verweisen auf die Bedeutung der Funktionalität von Vermeidungsvorgängen für Diagnostik und Behandlung sowie auf Zusammenhänge mit Angststörungen und Depressionen. Ihr Studienüberblick fächert Vermeidungsvorgänge in Subtypen auf, die in grundlegend verhaltensbezogene, kognitive und erfahrungsgenerierte unterteilt werden. Daraus ergeben sich Optionen für Einschätzung und Behandlung. Wichtig erscheint dabei, dass gleichermaßen Verhalten, Denken und Fühlen angesprochen werden sollten.
Santiago Barajas, klinische Forschung, Universitätsklinik Guadalajara, Spanien Luis Garra, Psychologe an der Universität Castilla-La Mancha Marisa García-Pérez, Ärztin für Anästhesie, Schmerztherapie, Universitätsklinik Valencia
Das Forscherteam um Giulio Cesare Zavattini an der medizinisch-psychologischen Fakultät der Sapienza Universität Rom behandelt in ihrem Beitrag “The Intergenerational Impact of Trauma: Individual, Family and Community Implications”, dem fünften Kapitel, die Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg, eine Thematik, die in den letzten Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt hat. Ihre Übersichtsarbeit führt Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt schweres Trauma zusammen und referiert individuelle psychische Funktionen ebenso wie familiendynamische und soziodynamische Manifestationen der Weitergabe. Es zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass Trauma-Aspekte transgenerational wirksam werden. In der Zusammenschau zeigt sich ebenso die erhebliche Bedeutung der Thematik, die lange Zeit vielfach unterschätzt wurde.
Giulio Cesare Zavattini ist Psychoanalytiker und leitet die Sektion dynamische und klinische Psychologie an der Sapienza Universität Rom Antonio Gnazzo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sapienza Universität Rom Mojgan Khademi, niedergelassene Psychoanalytikerin und Associate Professor an der Alliant International University, Alhambra, Calif. Viviana Guerriero, Psychologin, Sapienza Universität Rom Julie Manoogian, niedergelassene Psychotherapeutin in San Diego, Calif., affil., Alliant International University, San Diego Ani Kalayjian, Kulturwissenschaftlerin an der Columbia University New York Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin
Das sechste Kapitel fokussiert “On Pre- and Postnatal Mental Health Intervention Concepts” und trifft eine Bestandsaufnahme von Ansätzen früher Interventionen bei Mutter und Kind im vor- und nachgeburtlichen Bereich. Existierende Programme werden vorgestellt und der Forschungsstand beleuchtet. Vor dem Hintergrund einer materialistischen Sozialisationstheorie werden die Grundlagen um Einflüsse zu Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltentstehung erweitert; ebenso wird die psychosomatische Bedeutung pränataler Prägungen im intrauterinen Lebensraum einbezogen.
Götz Egloff, nach psychoanalytischer und psychotherapeutischer Ausbildung in Heidelberg, Mannheim und Düsseldorf niedergelassen in Mannheim Dragana Djordjevic, nach Tätigkeit als Ärztin im Kreißsaal Gastwissenschaftlerin an der Universität Heidelberg und Stipendiatin für den Aufbau psychosozialer Behandlungskonzepte für Neugeborene im jugoslawischen Raum, Oberärztin an der Universitätsklinik Niš. Forschung zur Psychosomatik der Herzfrequenzvariabilität
Robert Emes Beitrag “Advances in the Study of Male Psychopathy” bildet das siebte Kapitel. Die nach wie vor männliche Domäne der Psychopathie, einem Konzept, das auch als Soziopathie beschrieben wird und aufs Engste mit dem Phänomen Gewalt verknüpft ist, rekapituliert der Autor hinsichtlich der ihr unterliegenden Forschung. Eme weist auf Entwicklungspotentiale und -grenzen von Persönlichkeit hin und verbindet Ergebnisse und Erfahrungen mit neurowissenschaftlicher Forschung. In seinem Beitrag werden entwicklungspsychologische Fragestellungen neu aufgeworfen; und es zeigt sich auch, dass selbst Programme, die frühzeitig einwirken, im Bereich Delinquenz bislang wenig erfolgreich waren.
Robert Eme forscht zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom in den Grenzgebieten Neurowissenschaften, Pädiatrie und Endokrinologie. Als Professor an der Argosy University in Schaumburg, Illinois, betreibt er langjährig Forschung zu Delinquenz
Last but not least, “Biofeedback – an Evidence-based Approach to the Management of Two Major Health Diseases: Obesity and Perinatal Mood Disorders” behandelt als achtes und letztes Kapitel des Bandes ein effektives, doch bislang wenig beachtetes Verfahren zur Beeinflussung von Übergewicht und Essstörungen sowie der postpartalen Depression. In ihrer Vorstellung des Verfahrens weisen Gaia deCampora, Luciano Giromini und Richard Gevirtz auf die Bedeutsamkeit der Regulierung des Autonomen Nervensystems bei psychischen und psychosomatischen Störungen hin. Die insbesondere in der Postpartum-Phase auftretenden Stimmungsstörungen können frühzeitig beeinflusst werden, so wie auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Steigerung der Flexibilität mittels Selbst-Regulation möglich und wünschenswert ist. Biofeedback, richtig eingesetzt, kann eine wertvolle Intervention sein, gerade wenn weitergehende Maßnahmen nicht passend sind.
Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin Luciano Giromini, Dozent an der Universität Turin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alliant International University, San Diego, Calif. Richard Gevirtz, Alliant International University, San Diego, Calif., Forschung zur Herzfrequenzvariabilität
Der englischsprachige Band zeichnet sich durch eine ausgewogene Auswahl von Forschungsansätzen und -perspektiven aus. Sowohl Studien als auch theoretische Grundlagen werden vorgestellt. Die am Band beteiligten Wissenschaftler geben mit ihren Beiträgen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen der Psychopathologie als Untersuchungsgegenstand und als Konzeption. Möglichkeiten und Grenzen werden dabei deutlich, ebenso wie die Erkenntnisbemühungen an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften.
„Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, Jeremy Williams (ed.). Nova Science, New York. 225 pages, $ 160
Überraschend ansprechend kommt die Ausgabe 12-01/2016 des deutschen Penthouse zum Jahreswechsel daher – dem schwierigen Kind der deutschen Männermagazin-Landschaft, in der es Print-Produkte in Zeiten der bewegten Bilder ohnehin schwer haben. Ein knackiges Heft, attraktiv und ohne übertriebenen Schnickschnack. Vielleicht hat das mit der Herausgeberschaft durch die Delmenhorster Borgmeier-Mediengruppe zu tun, die die Sache norddeutsch-entspannt angeht und mit dieser Ausgabe gediegenes Understatement vermittelt und damit auch mit der Idee des Glamour „von nebenan“ ernst macht. Das ist wahrscheinlich das Vernünftigste, was man zur Zeit dem allgegenwärtigen Magazin-Mainstream entgegensetzen sollte. Nun also, zum Abschluss des 50. Jubiläums von Bob Gucciones Penthouse-Gründung, ein Neustart, wer hätte das gedacht? Continue reading „Locker und entspannt“
Der Spielfilm Black Swan von Darren Aronofsky bildet in besonderer Weise die spätadoleszente Entwicklung der Protagonistin Nina mit ihren Anforderungen und ihren Schwierigkeiten ab. Doch nur wenige der zahlreich erschienenen Interpretationen dieses erfolgreichen Films betten diese in einen kulturpsychologischen Kontext ein. Das Lebensalter zwischen 15. und 25. Lebensjahr hält nicht nur ungewöhnlich viele Herausforderungen in der Entwicklung bereit, die Entwicklung selbst unterliegt gleichermaßen zeitlich-gesellschaftlich bedingten Einflüssen. So beginnt die Adoleszenz-Phase heutzutage nicht nur deutlich früher als noch vor wenigen Jahrzehnten, sondern sie dehnt sich oft bis weit über das Ende der Studien- bzw. Ausbildungszeit hinaus aus. Black Swan stellt gewissermaßen einen filmischen Entwicklungs- oder Bildungsroman wie z.B. Der Nachsommer von Adalbert Stifter (1857) oder Das Parfüm von Patrick Süskind (1985) dar. Als filmische Erzählung bewegt der Film sich in seiner mitunter surrealen Bildsprache nahe an Nacht und Traum, wie Dirk Blothner Continue reading „Black Swan – Kultur- und Entwicklungspsychologie im Film“
Ein beeindruckendes Kompendium zum Themenkomplex des Mentalisierens legt Ulrich Schultz-Venrath vor. Im theoretischen Teil zeichnet der Autor die Entwicklung des Konzepts aus der französischen psychosomatischen Schule, über das Alexithymie-Konzept, hin zur Fonagy-Gruppe nach, gewahr der verschiedenen Betonungen körper-orientierter Ansätze. Der praktische Teil bietet reichhaltige Ausarbeitungen und Beispiele nicht nur zu verschiedenen Störungsbildern, sondern in verschiedensten therapeutischen Settings. Deutlich wird immer wieder die Grundlage der psychoanalytisch-interaktionellen Methode des Göttinger Modells (Heigl/Heigl-Evers, König), die letztlich auch den Weg zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) bahnte.
Crits-Christoph, Luborsky, Gabbard fallen spontan ein, pragmatische Analytiker; allen voran Sullivan mit seiner leider weithin vergessenen, doch brillanten interpersonellen Psychoanalyse. Continue reading „Alphabetisierung der Empfindungen“
Rezension zu Michael Giefer, Otto Jägersberg, Walter H. Krause (Hg.): Wege zum Es. VAS – Verlag für akademische Schriften, Bad Homburg, 2010.
Dieses Buch, das die Vorträge des Baden-Badener Georg-Groddeck-Symposions 2009 der
deutschen Georg-Groddeck-Gesellschaft anlässlich dessen 75. Todesjahrs versammelt, ist alles andere als eine trockene Vortragssammlung. Selten werden Psychotherapie und Psychosomatik so lebendig vermittelt wie in den Beiträgen dieser internationalen (und wirklich interdisziplinären) Denker und Praktiker (Damen wie Herren). Damit wird man dem Altmeister der „wilden Analyse“, dem Schöpfer des „Buch vom Es“ und all zu oft enfant terrible Geschimpften mehr als gerecht. Zu sperrig, zu kauzig, um im überrationalisierten Wissenschaftsdiskurs heute noch Erwähnung zu finden. Lässt man sich auf ihn ein, öffnen sich Welten. So oder so ähnlich muss Freud empfunden haben, der nur wenige Häretiker um sich ertragen konnte; Ferenczi und Groddeck waren persönlich und inhaltlich einfach zu originell, um sie loswerden zu wollen. Continue reading „Neues vom wilden Analytiker“
Jubiläum für Kathrin Angerer: 20 Jahre auf der Volksbühne
„Endstation Amerika“, „Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Der Meister und Margarita“, „Lehrstück“, „Nach Moskau!“, „Der Spieler“: legendäre Castorf-Inszenierungen, denen Kathrin Angerer ihr unverwechselbares Schauspiel verliehen hat. Mit Meese, Gotscheff und Bondy hat sie gearbeitet; vor allem aber hat Kathrin Angerer Stil und Erscheinung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin maßgeblich mitgeprägt.
Mit der Spielzeit 1993/94 begann ihr Weg durch manche Trümmer des Schauspiel-Kanons und deren Transformation in hochaktuelle Meilensteine gesellschaftskritischer Kunst durch Frank Castorf. Der Zeit voraus, oft in greller Ästhetik, doch ohne leise Töne zu vernachlässigen. Zur Jahrtausendwende, einer Zeit, als Hartz IV-Empfänger noch Arbeitslose genannt wurden, entstanden Abende, die die Zustände gesellschaftlicher Prekarisierung vorwegnahmen und immer zwischen Terror und Wahn, Alltag und Armut oszillierten. Post-9/11 in Höchstform, durften Continue reading „Kathrin Angerer: 20 Jahre auf der Volksbühne“
– Tagung am Freitag, 12. April 2013 im Hotel Adlon, Berlin –
Medizin und Philosophie sind seit jeher Wissenschaften von den Zuständen und deren Veränderung gewesen. Die Psychotherapie als Disziplin zwischen jenen Wissenschaften ist folgerichtig sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften beheimatet, wie in letzter Zeit wieder zu lesen war (Rieken, 2012). Es wird nun immer mehr erkannt, dass die Komplexität psychotherapeutischen Verstehens und Handelns ein solides wissenschaftliches Fundament erfordert, das dem Gegenstand gerecht wird (Pritz, 1996; Fischer, 2011). Auch Initiativen, die z.B. psychoanalytisches Denken wieder an die Universitäten bringen wollen, finden mittlerweile den Weg in die akademische Öffentlichkeit und werden vielerorts unterstützt.
Im Rahmen der in Berlin am Freitag, 12. April 2013 stattfindenden Tagung zur Zukunft der Deutschen Psychotherapie in Europa werden der Präsident der European Association for Psychotherapy, Wien (EAP), Adrian Rhodes, UK, mit Bernhard Strauß, Jena, Alfred Pritz, Wien/Paris und Volker Tschuschke, Köln, über Strategien und Notwendigkeiten hinsichtlich eines sinnvollen Studiums der Psychotherapiewissenschaft sprechen. Continue reading „Psychotherapiewissenschaft – ein neues, altes Fach geht an die Uni“
Forschungsprojekt zur Bulimia nervosa an den Universitätskliniken Heidelberg und Göttingen 2007-2010. Aspekte moderner und postmoderner Symptomatik.
Beim Studiendesign handelte es sich um eine randomisiert-kontrollierte Therapiestudie (RCT-Studie), deren Ziel unter anderem die Überprüfung der Wirksamkeit psychodynamischer (also psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer) Psychotherapie war. Patientinnen mit (nach ICD-10) F 50.2 Bulimia nervosa und F 50.3 atypischer Bulimia nervosa nahmen teil. Vor Beginn der Behandlung, nach 30 und 45 Therapiestunden sowie nach Beendigung der Behandlung wurden Erhebungen durchgeführt, sechs und zwölf Monate nach Beendigung Katamnese-Untersuchungen. Mittels Fremd- und Selbsteinschätzungserhebungen wurden somit die Therapieverläufe kontinuierlich begleitet. Das der Studie zugrunde liegende Therapiemanual gibt für psychodynamische Therapie ein 60-stündiges Behandlungssetting vor; Therapiedauer etwa ein bis anderthalb Jahre. Nach einer Continue reading „Therapie der Bulimie bei jugendlichen Mädchen und jungen Frauen“
Christoph Marthaler gehört zu den Wenigen, die den Wahnsinn der Normalität durchschauen
Je netter wir werden, desto tiefer wird der Abgrund. Mit dieser Erkenntnis macht sich Slavoj Žižek, slowenischer Psychoanalytiker und Kulturwissenschaftler, seit Jahren weltweit unbeliebt. Andererseits schaffte er es im Sommer d.J. mit seiner gewohnt sperrigen Perspektive dennoch – und ein bisschen deswegen – in den US-amerikanischen Playboy. Dies gibt milde Hoffnung auf bessere Zeiten, die sich in Deutschland jedoch erst realisieren werden, wenn Žižek im deutschen Playboy spricht; also nie. Continue reading „Edmund Stoiber als Prinzip“
Die im August d.J. gegründete MPSIF – Agentur für Kommunikation mit Sitz in Karlsruhe hat ihre Arbeit aufgenommen. Die Agentur, die aus einem festen Kernteam besteht und themenspezifisch freie externe Spezialisten hinzuziehen kann, nimmt Ratings vor, erstellt Gutachten und Kommentare zu den Bereichen Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, wobei diese Bereiche nicht als getrennt, sondern als zueinander gehörig, ineinander verschränkt und auseinander hervorgehend betrachtet werden.
So ziehen bspw. wirtschaftliche Entscheidungen, die in diesem Verständnis als kultureller Vorgang definiert werden, gesellschaftlich-kulturelle, also intra- und interindividuelle Folgen nach sich; genauso wie intra- und interindividuelle, also gesellschaftlich-kulturelle, Determinanten wirtschaftliche Entscheidungen anstoßen, bahnen, nach sich ziehen. Continue reading „Deutschlands erste interdisziplinäre Rating-Agentur“
Rezension zu Katharina Pohl, Schönes Scheitern? Die Suche nach Identität in den Inszenierungen Florian Fiedlers. Tectum Verlag, Marburg, 2010
Die in der Reihe Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft erschienene 182-Seiten-starke Untersuchung zur zeitgenössischen Theaterpraxis bietet eine intensive und höchst eindrückliche Leseerfahrung. Auch Rezipienten, die die beiden besprochenen Inszenierungen Florian Fiedlers nicht gesehen haben, werden von der detaillierten und äußerst nachvollziehbaren Analyse profitieren, die Katharina Pohl hier vorlegt.
Den Topos des Scheiterns in der Postmoderne, in der eine als kohärent erfahrene Identität wenn nicht brüchig, eher schon in der Auflösung begriffen ist, beleuchtet Pohl anhand der Inszenierungen Fiedlers von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ und Kaurismäkis „I Hired a Contract Killer oder Wie feuere ich meinen Mörder?“ am Frankfurter Schauspielhaus 2004 und 2005. Was Fiedler mittels Raum, Zeit und Personal auf der Bühne konstelliert, findet in Pohls Analyse dabei seine akademische Entsprechung. Dabei entbehrt diese nicht des nötigen Continue reading „Das mühsame Ringen um Identität“
Rezension zu Hermann Lang, Die strukturale Triade und die Entstehung früher Störungen. Klett-Cotta, Stuttgart, 2011
Höchst fundiert führt Hermann Lang, Heidelberg-Würzburger Emeritus für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, auch in seinem neuen Buch den Leser in die Überlegungen zur strukturalen Psychoanalyse ein, zeigt geistesgeschichtliche Hintergründe, Denkrichtungen und Interpretationsfolien auf, mittels derer er zu detaillierten klinischen Fällen aus dem Formenkreis schizophrener, psychosomatischer und Borderline-Störungsbilder überleitet, auf sie zurückgreift und weiterentwickelt. Die ätiopathogenetischen Implikationen für die Behandlung erschließen sich geradezu von selbst; entlang derer rundet Lang seine Konzeption dann auch sehr nachvollziehbar ab.
Rezension zu Eva Rass, Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Psychodynamische Entwicklungspsychologie. Klett-Cotta, Stuttgart, 2011
Die Autorin, langgediente Psychoanalytikerin und Kinderpsychotherapeutin, legt mit diesem Buch einen weitgespannten Bogen über die beobachtungsnahe Entwicklungspsychologie des Menschen unter psychodynamischem Blickwinkel vor. Unterstützt von neuen Forschungsergebnissen aus akademischer Psychologie und Neurowissenschaften, aber v.a. angelehnt an Erik Eriksons epigenetisches Entwicklungsmodell psychosozialer Krisen, werden entscheidende menschliche Entwicklungsaspekte dargestellt, die vom pränatalen Erleben bis hin zum späten Lebensalter reichen. Ich-psychologisch griffig, leicht verständlich und beherzt beschreibt Rass die wichtigen, nötigen und oft so kritischen Stufen der Bewältigung der Abschnitte in den verschiedenen Lebensaltern und ruft zu einer reflektierten, empathischen Selbstwahrnehmung dieser auf. Continue reading „Eine Entwicklungspsychologie der Lebensspanne“
Für Psychoanalytiker und Psychotherapeuten für Essstörungen in Heidelberg, Mannheim und Göttingen stellt eine mehrjährige Studie zur Bulimia nervosa ein spannendes Unterfangen dar, das im Idealfall Patientinnen von einer schweren Störung befreit – oder zumindest Linderung verschafft – und noch dazu weiteren Aufschluss über Entstehung, Aufrechterhaltung und Therapie dieser Symptomatik gibt. Nach langjährigen Therapien, ebenso langjähriger Datenerhebung und -auswertung werden nun erste Ergebnisse des „Forschungsprojekts zur Bulimia nervosa bei jugendlichen Mädchen und jungen Frauen“ vorgestellt, das an den Universitätskliniken Heidelberg und Göttingen von 2007 bis 2010 unter der Leitung von Günter Reich, Professor für Psychosomatik der Essstörungen in Göttingen, durchgeführt wurde. Continue reading „Zur Psychotherapie bei Bulimie“
Rezension zum Buch „Mehr vom Leben – Wege aus der Anorexie“ von Georg Eifert und Alix Timko, Beltz, Weinheim, 2012
Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Familientherapie stellen in der Behandlung der Magersucht die Mittel der Wahl dar. Motivierte Patientinnen haben hier die Chance, ihre Symptomatik zu verlieren oder deutlich zu lindern. Doch woher die Motivation nehmen, wenn man jede Nahrungsaufnahme fürchtet, da sie die subjektive Traumfigur in weite Ferne rücken lässt? Eine übertriebene Kontrolle über Nahrungsaufnahme und Körperform stellt meist ein verschobenes Kontrollbedürfnis über das eigene Leben dar, hat also mit Autonomie, Eigensinn und dem tiefen Bedürfnis nach Identität zu tun. Diese alte Einsicht der psychoanalytischen Theorie konzeptualisieren die Autoren Eifert und Timko nach der Acceptance- und Commitment-Devise in diesem Selbsthilfebuch. Keine Frage, dass eben dieser Ansatz für jede Therapie sehr wichtig ist. Mittels durchaus gelungener Übungen wie Denkvorschlägen, Atemübungen, Umdeutungen und einigem mehr sollen Menschen mit Anorexia Continue reading „Hilfe bei Magersucht“
Pillen, Pillen, Pillen – viele Frauen jenseits der 30 sind nicht nur der Einnahme all zu vieler Tabletten müde, sondern auch der einen Pille, die vor kurzem ihr 50-jähriges Jubiläum feierte. Wiederum hat eben diese orale hormonale Kontrazeption einen weltweiten Siegeszug angetreten, der auch mit der deutlichen Senkung der hormonalen Dosen über die letzten Jahrzehnte einhergeht. Mittlerweile ist der Einfluss der Pille auf Neurotransmitter gut erforscht. Er geht in zwei Richtungen: einerseits in Richtung eines leicht stimmungsdämpfenden Akzents, andererseits in Richtung einer Linderung dysphorischer Symptome im Rahmen prä- und perimenstrueller Syndrome (Rohde & Dorn, 2007). Es gibt also, wie so oft, gegenläufige psychosomatische (Neben-)Wirkungen, die von den Anwenderinnen individuell auszutarieren sind. Continue reading „Der Monatsring: Innovation in der Kontrazeption“