Sibyl Gräfin Schönfeldt ist gestorben

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Die Journalistin, Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin war eins der langjährigsten Mitglieder unseres Journalisten-Verbands. Sie hat die literarische Landschaft mit geprägt, sei es durch ihre unterhaltsamen Bücher wie das „Kochbuch für die kleine alte Frau“, durch ihre klugen Gedanken in „Anstand: Warum wir Takt und gutes Benehmen brauchen“, ihre Weihnachtsbücher und nicht zuletzt ihre prunkvoll ausgestatteten Bibel-Ausgaben – um nur einige ihrer zahlreichen Veröffentlichungen zu nennen.

Unvergessen ist für mich eine urkomische Lesung gemeinsam mit Gerlind Fischer-Diehl (1937-2014) von der Hamburger Autorenvereinigung, in der es um Truthähne zu Thanksgiving und diverse kulinarische und andere Katastrophen rund um die Weihnachtszeit ging.

Sibyl Gräfin Schönfeldt wurde 1927 in Österreich geboren und verstarb 95-jährig am 14. Dezember 2022 in Hamburg. Wir werden ihr Andenken in Ehren halten.

Siri, die Gänse reden

Alsterabend
Foto: Privat

Ich fragte Siri nach dem Sinn des Lebens
und sie sagte: 42
seitdem vertraue ich ihr
und nun warte ich vor dem Neptun
der seinen Dreizack hoch über das Gewässer hält
Zur Rechten und zur Linken flüstert der Wind
in Schilf und Weiden
in meinem Rücken eine asphaltierte Promenade
und das Gras auf der Liegewiese dahinter
ist raspelkurz gehaltenen von einer Herde Gänse
alle beringt und sprachfreudig und von guter Verdauung

Ich frage Siri, und sie sagt
die Gänse sprechen von Futter und Liebe
Genau wie ich, ist meine Antwort
und Siri sagt: deine Verabredung
ist 30 Minuten überfällig
Ich sage: das hat nichts zu bedeuten
sie wird schon kommen
wir haben uns mehr zu sagen
als alle Gänse zusammengenommen
und Bilder lügen nicht
davon hat sie mir auch genügend geschickt
das Grübchen, dieser offene Blick

Siri sagt: dein Provider ist vertrauenswürdig
aber das besagt nichts
über die Nutzerinnen der Programme
Ich ärgere mich über die Antwort
wir schweigen beide und lauschen den Gänsen
bis hinter dem Sockel des Neptuns
eine Bewegung entsteht und
meine Verabredung hervortritt und mich fragt
sprichst du mit deinem Handy?
ich habe mich nicht getraut dich zu stören

Darauf will ich etwas entgegnen
aber Siri übernimmt und sagt
so einfach liegen die Dinge nicht
ich kenne eine Angststörung
wenn ich sie höre
wie lange bist du schon in Therapie?
Und meine Verabredung sagt
seit einem Jahr, mein Therapeut meint
ich mache gute Fortschritte

In der Pause, die folgt, schnattern die Gänse
der Wind streicht durch Schilf und Weidenlaub
und winzige Wellen glucksen ans Ufer
während meine Verabredung
die Finger zu einer Raute aneinanderlegt
Siri fragt dann an meiner statt
warum versteckst du dich hinter einem Denkmal
gehört das zur Therapie?
Ich komme meiner Verabredung zuvor
und sage zu meinem Phone
die Frage ist berechtigt
doch sollte sie nicht zur Unzeit gestellt werden
hörst du nicht die Gänse
von Futter und Liebe und Sex reden?

Und Siri sagt: dieses Gespräch führt zu keinem Ziel
es ist ein Fehler, wir sollten es löschen
aber wie du willst – kein Problem
wenn du deine Verabredung behalten möchtest
dann wirf mich ins Wasser
Worauf meine Verabredung gründlich erschrickt
das kann ich nicht zulassen
also gehe ich jetzt wieder zum Neptun
dahinter hat es eine schöne Aussicht
über den See und wir alle tun so
als hätte es dieses Treffen nie gegeben

Siri sagt: das scheint mir eine elegante Lösung
bravo und nichts für ungut
richte das deinem Therapeuten aus
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Uhr
und Siri sagt: jetzt schon 45 Minuten Verspätung
du sollest dich nach einer Alternative umsehen
Meine Verabredung winkt mir Adieu und sagt
ich werde meinem Therapeuten von dir erzählen
Grüße an dein Phone, wenn’s genehm ist
Hinter mir schnattern die Gänse
während meine Verabredung Leine zieht,
Siri was reden die Gänse?
komm mit auf die Wiese
wir wollen uns umhören

 

X-Mas oder Weihnachtsmänner sind auch nur Menschen

Bild: Hanna Malzahn

Der Countdown läuft, am  24.12. ist Deadline.
Der Weihnachtsmann ist soo müde, ginge er in Urlaub, gäbe es einen Shitstorm, denn er hat Millionen Follower.
Unser Weihnachtsmann und seine Crew, The Angel Company, sponsered by himmlischer Power, gehen zum Meeting-Point, einer Location im Norden zu einem Get-together.
Es ist kein junges Start-up, dieses Business is old-school.

Die Engel sind ein Dream-Team.

Sie geben viel Support und arbeiten rund um die Uhr im Job-Sharing, eine Challenge mit der Zeit.
Es gibt lange To-Do-Listen, und es ist ein Full-Time-Job. Viel Action, High Speed und Multitasking sind angesagt.
Briefings, Stop and Go. Es geht zu wie beim Black Friday Sale.
Das Arbeiten im Standby-Modus, – das wäre ein absolutes No-Go.
Ebenso sind Flops – obwohl –  shit happens – ein absolutes Don’t,
–  never, ever  –
jetzt braucht man viel Manpower und ein gutes Timing, dann ist alles easy going.

Viele Wunschzettel treffen als Last-Minute-Order ein.

Nachdem der Weihnachtsmann die Mails gecheckt hat, hört er die Voice-Mails in der Mailbox seiner Hotline ab.
Beim Check-up der Wunschzettel wird der Code gescannt und an das Marketing-Management weitergeleitet. Es kommen auch Spams und Fakes an, die der Weihnachtsmann als Junkmails gleich cancelt.
Im Callcenter, das wie ein Show-Room mit einem High Tech Equipment aussieht, arbeiten viele Engel auf höchstem Level an Terminals, Screenings und einem Counter für Sonderwünsche.
Es ist ein seasonal Trade, viele Freelancer und Newcomer angeworben durch Headhunter gehören zum Team.
Hashtag: job placement.
Der Weihnachtsmann macht ein Pokerface, denn er ist soo müde, er denkt, für eine Midlife-crisis  ist er eigentlich zu alt.
So holt er sich erst einmal im Drive-in  einen Coffee to Go, einen iced flavored Latte mit Caramel Cream.
Er träumt von einer ruhigen After-work-party, oder an das Chillen mit einem guten Sience- Fiction-Thriller, einem Bestseller und Pageturner in seinem Kingsize-Bett oder im Whirl-Pool.
Trotz Kaffee fühlt er sich ausgepowert, er isst ein Sandwich und trinkt einen Energy Drink, schöner wäre ein Cocktail bei einem Sundowner zur Happy Hour.
Vor dem großen Weihnachtshappening ist der Weihnachtsmann ein richtiger Workaholic, und um einem Burn-Out vorzubeugen, geht er erst mal in die Lounge zum Relaxen und Come down.
Dort trifft er ohne die geringste Lust auf einen Small Talk seinen Coach.
Dieser gibt Crash-Kurse in Beauty Treatment, er verteilt Papers und Handouts für Workshops.

Von Zeit zu Zeit gibt es auch eine Supervision für die Work-Life-Balance.

Der Weihnachtsmann ist als Frontman everybody’s Darling.
Coca-Cola machte ihn zum Shooting-Star und Teaser für das Weihnachtsbusiness.
Sein old fashioned Vintage-Look, etwas oversized, und sein mega Bart sind absolute Eyecatcher. Auf sein groovy Styling hat er ein Copyright, auch in Schokolade gegossen.
Jetzt sitzt er erschöpft wie ein Couch Potatoe auf dem Sofa.
Sein Personal- Trainer macht ein paar Warm-ups mit ihm. Er empfiehlt ihm Nordic Walken, Stretching und Aerobic sowie die Zeitschrift Mens‘ Health. Dort gibt es Workouts, Bodycare und Food Specials für die Sixpack-Figur. Der Weihnachtsmann liebt aber all you can eat!
Vielleicht  Finger-Food als Appetizer und dann etwas Ordentliches, einen homemade Brunch, jedenfalls kein Fast Food.
Und beim Big-Body-Mass-Index gibt ja auch noch die Weight Watchers.

Nach einem Softdrink mit Bitter Lemon und einem Hot Dog mit French Dressing im Self-Service-Restaurant muss der Weihnachtsmann mit einem Milchshake in sein Home-Office.
Er war schließlich die ganze Zeit offline.
Sein Büro ist durchdesigned, es hat einen Touch von Lifestyle,
ein sehr kluges Investment, gelernt in der Trading Masterclass,
alles gegen Cash, keine Peanuts, kein Leasing.
Es hat Airconditioning, Spotlights und einen Lift zum Basement.
Dort sind in vielen Containern die Geschenke, zum Teil in Limited Edition. Die Security ist im Ground floor.
Der Weihnachtsmann fährt seinen Laptop hoch. Er loggt sich ein und macht Backups und Upgrades der vielen Wunschzettel.
Dabei muss er zwischen vielen Anfragen hin und her switchen und einiges googlen. Er macht Online Banking und muss sich als Kontroll-Freak sehr viele Pin-Codes merken.
Sein Arbeitsplatz ist ein Activity-Center mit Hot Spots und App-Stores.

Aber Weihnachten boomt, da ist nichts mit just for fun.

Er ist auch der Ghostwriter des himmlischen Newsletters „X-mas goes public“ mit weihnachtlichem Cover, vielen Statements und Headlines.
Und er steckt sein Know-How in die x-mas-Homepage:
die Website www.x-mas.com .
Weihnachtsshows  und die Charity-Events organisiert er als Public Viewing für die Publicity.
Ein Weihnachtsumzug ist genauso ein Highlight wie die Love Parade oder der Schlager-Move.
Das grooved.
Die himmlische Public-Relation-Abteilung hat gute Connections zur Fashion Week,  – exklusiv – kein Mainstream.
Auch  der Weihnachtsmann hat sich schon bei einem Stylisten coachen lassen. Abgesehen von seiner Dienstkleidung mag er schon Labels.
Er geht gern in Factory-Outlet-Stores zum Late-Night-Shoppen.
Second Hand Shops promoten keine Fashion, die seinem Dresscode entsprechen. Und manche Outfits eignen sich eher für eine Bad-Taste-Party, das ist ihm zu strange und entspricht nicht seinem Mindset.

Das ist nicht der Burner, sondern Bullshit.

Ein gewisses Understatement findet er abgefuckt, obwohl, für die Fahrt mit dem Rentierschlitten – Open Air in der Kälte – bevorzugt er Sport- und Streetwear, Jeans im Five-Pocket-Style, blue used, stone-washed mit dezente destroyed Effekten und die Musthave XL-Bodybag mit einem Lunchpaket.
Er hat viele Relationships und macht gute Deals. Besonders zur Community der Sales-Manager hat sich im Laufe der Jahre eine Win-Win-Beziehung entwickelt.
Gutscheine stehen im Ranking der Geschenke ganz oben. Ein Gutschein für ein Candlelight- Dinner, für eine Pool-Party mit Top-Catering, für Piercings, eine Reise all inclusive mit Sightseeing ins Survival Camp.
Es gibt auch Wünsche nach einem Speed- oder Blind-Date, nach einem One-Night-Stand, nach einem coolen Lover mit Sex-Appeal, nach einem toughen Womanizer, nach einem Model Scout, nach einem Bodygard, nach Sex and Drugs und Rock´ n Roll und nach etwas Glamour, Love and Peace und nach Happiness.

Wenn der Weihnachtsmann alle Wunschzettel abgearbeitet hat, schickt er sie mit einem Shuttle-Bus ans Controlling.
Die Geschenke werden dann vom Facility Manager auf den Schlitten geladen.
Der Pick-up-und-Return-Service und das Recycling gehen in die Holidays, die holy Days bedeuten eine echte Verschnaufpause.

Der Weihnachtsmann ist ein Allround-Entertainer, immer just in Time, immer cool und voll im Trend.
Er bekommt gute Feedbacks und viele Likes.
Er ist ein Global Player mit jährlichem Comeback.
Und er ist nicht zu toppen,
alle Jahre wieder!

 

(Hanna Malzahn las diesen Text bei unserer Weihnachtsfeier 2022, s. dazu den Artikel von Uta Buhr vom 10.12.2022)

Oh Tannenbaum…

Weihnachtstisch

Endlich! Nach zweijähriger Abstinenz konnten wir unsere langjährige Tradition wieder aufnehmen und die DAP-Weihnachtsfeier am 2. Dezember im „Marriott“ begehen. Wie üblich, hatten die Mitarbeiter des Hotels den Saal festlich dekoriert. Auch der weihnachtlich geschmückte Tannenbaum fehlte nicht. Dessen Anblick hätte Frau Puvogel, die Mutter der legendären Hamburger Göre Klein Erna, bestimmt zu dem begeisterten Ausruf hingerissen: „Guck mal, Erna, sieht tscha aus wie gemaln!“

An diesem bitterkalten Abend kam das als Begrüßungsgetränk gereichte Glas Glühwein den 22 Teilnehmern gerade recht. Nach einer kurzen Ansprache durch unsere Präsidentin Maren Schönfeld ging es mitten hinein in das vorweihnachtliche Programm. Lesungen unserer Mitglieder aus eigenen oder fremden Werken gehörten stets zum Ablauf einer jeden Weihnachtsfeier.

Wolf-Ulrich Cropp

Den Anfang machte Wolf-Ulrich Cropp, der eine Geschichte aus seinem jüngst erschienenen Buch „Zwischen Hamburg und der Ferne“ vorlas. Je weiter die Geschichte voranschreitet, entpuppt „Hautnah“ sich als ein perfides Spiel, das ein junger Student mit seinen arglosen Gastgebern treibt. Wer erinnert sich nicht an den 11. September 2001 – ins kollektive Gedächtnis eingegangen als „Nine Eleven“ – als eine Gruppe von Terroristen die beiden Türme des New Yorker World Trade Center in die Luft sprengte. Das Unheil nahm seinen Lauf in Hamburg-Harburg, wo Mohammed Atta, der Drahtzieher des Attentats, jahrelang scheinbar friedlich unter uns lebte, im wahrsten Sinne des Wortes „hautnah.“ Ein begabter fleißiger Student aus Ägypten, wie alle fassungslos beteuerten, die ihn kannten: „Welche Schlange haben wir an unserem Busen genährt!“ Ein wahres, vom Autor sensibel vorgetragenes Drama.

Das von Gesine Mariona rezitierte Gedicht aus der Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern bildete einen willkommenen Kontrast zu Wolfs Erzählung.

Hanna Malzahn, Foto: Maren Schönfeld

Hanna Malzahn, unser neues Mitglied, gab ihren Einstand mit einem echten „Wumms“, wie man neuerdings sagt, indem sie in lockerer Folge aufzählte, wie viele Bürger dieses Landes unsere schöne Sprache verunstalten. Es hat den Anschein, als seien manche nicht mehr in der Lage, einen Satz ohne eine Anzahl völlig überflüssiger Anglizismen zu formulieren. Heute ist ja alles sexy, shit, strange – and by the way – mega-cool. Teenies und Twens geben sich high-five, chatten, chillen und machen sich Gedanken über eine work-life-balance. Dies sind nur einige Kostproben aus Hanna Malzahns akribisch zusammengetragener Fäkal- und Vulgärsprache, wie sie heute leider an der Tagesordnung ist. Unser kürzlich verstorbener Sprachpapst Wolf Schneider hatte immer wieder vor der Verballhornung unserer Sprache gewarnt und auch ein Buch mit dem Titel „Sprecht deutsch“ veröffentlicht. Übrigens sprach Schneider ein makelloses Oxford-Englisch. Im Gegensatz zu unseren Sprachpanschern war er in der Lage, ganze, grammatikalisch einwandfreie Sätze im englischen Idiom zu formulieren. Diesen Text finden Sie hier:
https://die-auswaertige-presse.de/2022/12/x-mas-oder-weihnachtsmaenner-sind-auch-nur-menschen/

Nach den Lesungen genossen wir ein exquisites Büffet – einen Gaumengenuss aus diversen Vorspeisen, krosser Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen sowie leckere Desserts – das keinen Wunsch offenließ.

Natürlich durfte auch unser beliebtes Würfelspiel nicht fehlen, das diesmal ohne Würfel stattfand, weil ein Mitglied Knobelbecher und Würfel zu Hause vergessen hatte. So ein Pech. Doch kluge Leute wie die Mitglieder der DAP finden immer eine Lösung. Diesmal wurden die Geschenke qua Münze „erwürfelt.“ Das klappte vorzüglich. Viele waren sogar der Meinung, die Münze sei die bessere Alternative, weil das Spiel schneller von statten gehe. Dennoch, nächstes Jahr werden wir zum Würfel zurückkehren. Allein schon deshalb, weil wir hoffen, 2023 wieder unseren Ehrenpräsidenten Günther Falbe bei uns zu haben, dessen Aufgabe es in über 15 Jahren war, stets das Spiel erneut zu erklären.

Fazit: Diese Weihnachtsfeier wurde von allen als besonders gelungen und harmonisch bewertet. Ein herzlicher Dank geht an die Mitwirkenden an diesem Ereignis. Um ein Haar hätte ich Event geschrieben. Doch im Geiste erschien mir Hanna Malzahns erhobener Zeigefinger gerade noch zur rechten Zeit.

Allen Mitgliedern der DAP ein gesegnetes Weihnachtsfest und den berühmten guten Rutsch in ein hoffentlich friedliches 2023! Apropos, der gute Rutsch kommt aus dem jiddischen „Roscheschone.“ Locker übersetzt heißt der Gruß so viel wie „Auch im Neuen Jahr einen klaren Kopf.“ Den werden wir alle dringend brauchen.

Fotos: Hanna Malzahn

Lisas Bild

Foto: Verlag Expeditionen

Eine Kurzgeschichte aus dem Buch „Weihnachtsgeheimnisse“.

Zufrieden saß sie auf dem extra für sie zurechtgerückten Sessel, damit ihr Blick ungehindert auf den in diesem Jahr ganz in Rot und Gold gehaltenen Weihnachtsbaum fallen konnte. Dabei mochte sie die ganz bunt geschmückten Bäume viel lieber, in denen wie früher bunte Kugeln hingen, silbernes Lametta glänzte und echte Kerzen brannten. „Heutzutage muss ja alles geschmackvoll harmonisch komponiert sein“, dachte sie. Nie hätte sie das ausgesprochen, weil dabei ein spöttischer, sogar etwas verächtlicher Ton unvermeidlich gewesen wäre, der ihr nichts außer einem missbilligenden Blick unter wenigstens einer hochgezogenen Augenbraue ihrer stilbewussten Schwiegertochter eingebracht hätte. Trotzdem freute sie sich wirklich darüber, auch dieses Jahr den Heiligen Abend im Kreise der immer größer werdenden Familie feiern zu dürfen. „Das ist das eigentliche Geschenk“, dachte sie dankbar, denn wenn man auf das achtzigste Lebensjahr zugeht, hat man kaum noch Wünsche, die in Weihnachtspapier eingewickelt werden können.

Als nach dem Abendessen die Bescherung beginnen sollte, wurden von überall die Kartons mit Geschenken herbeigeholt. Nur sie selbst blieb in dem bequemen Sessel sitzen, denn seit es vor Jahren mit dem Gehen immer beschwerlicher geworden war, hatte sie um die Vergünstigung gebeten, ihre Gaben auf die sogenannten „Flachgeschenke“ reduzieren zu dürfen – jedenfalls für die Erwachsenen, die daraufhin nicht einmal zaghaft versucht hatten, ihrem Vorschlag  mit dem geringsten, fadenscheinigen Anzeichen von Enttäuschung zu widersprechen. Nur für die Kinder suchte sie immer noch selbst die Sachen aus, weil es ihr zu viel Freude bereitete, in den Spielzeugparadiesen das Richtige auszuwählen – nicht ganz selbstlos, wie sie sich eingestand, denn damit verbanden sich Erinnerungen an die eigene Kindheit, als weihnachtsdekorierte Straßen und Geschäfte einen fiebrigen Zauber entfaltet und die ganze Welt erfasst zu haben schienen. Heute erreichte sie nur ein Hauch von dem Vielmehr an Lichtern und Glanz, und der war vor allem dem Erinnern geschuldet, vergleichbar dem Betrachten alter Fotografien, wenn sich Wehmut mit Wärme harmonisch verbindet. Dagegen freute sie sich noch immer sehr auf das weihnachtliche Glück der Kinder. Deren Aufgeregtheit war über Jahrzehnte und Generationen hinweg immer die gleiche geblieben, nur hatten sich für sie selbst die Perspektiven verschoben.

Nach der Tradition der Familie durften die Kinder ihre Geschenke als erste auspacken, und im Nu verwandelte sich die gediegene Festtagsordnung des Wohnzimmers in ein Chaos. Ganz so, als müsste die starre Weihnachtsdekoration endlich mit prallem Leben erfüllt werden, wirbelte ein Sturm aus Kartons, Papier, Schleifen und Bändern um das nun weithin unbeachtete, kerzenbeschienene Goldrot des Weihnachtsbaumes. Freudiges Johlen und Schreien der Kleinen, die mit Autos, Puppen, Kästen und Schachteln umherliefen, erstickte verschneit klingende Kirchenglocken vom CD-Player.

Stillvergnügt beobachtete sie die lautstarke Freude der anderen und dachte daran, wie sehr sich mit dem Älterwerden alles Wünschen und Hoffen auf ganz Weniges konzentriert, das nicht zu kaufen ist und weder ge- noch verschenkt werden kann, sondern allmählich schwindet, bis es still und klein im Inneren ruht und mit der Zeit langsam, langsam beinahe gänzlich  erlischt.

Nach den Kindern wurde sie als die Älteste der Familie beschenkt. Ja, es war ein bisschen gespielt, wie sie sich überschwänglich bei ihren Kindern und Enkelkindern für Gutscheine, die zu Theaterbesuchen, Konzerten und Ausflügen einluden, Schachteln und Dosen voller Pralinés und Marzipan, gut gemeinte Präsentkörbe aus dem Reformhaus, für selbst gebackene Kekse, Bücher voller heiterer und besinnlicher Geschichten und einen Schal bedankte, den sie – das wusste sie schon jetzt – nie tragen würde. Wirklich neugierig war sie dagegen darauf, wie das Bild von Lisa aussehen würde.

Vor zwei Wochen, beim traditionellen Advents-Kaffee der Familie, hatte die Vierjährige sie nämlich gefragt, was sich die Großmutter von ihr zu Weihnachten wünschen würde.
„Also, mein Deern“, lautete ihre Antwort, „ am meisten würde ich mich darüber freuen, wenn du mir ein Bild malen würdest.“
„Au, jaaa“, hatte Lisa mit ihrer hohen Kinderstimme ausgerufen und dabei begeistert in die Hände geklatscht, „ich male dir ein Bild mit uns beiden darauf!“
„Das ist ja eine ganz feine Idee“, hatte die Großmutter gesagt, und seither war sie gespannt auf dieses Bild gewesen, das sie jetzt behutsam wie etwas sehr Kostbares entrollte.
Lisa stand mit derart freudestrahlenden Augen vor ihr, wie sie nur Kinder beim Schenken haben: „Für meine allerliebste Omi!“

Die blickte auf das leicht verknickte Blatt, auf dem in bunten Farben ein Haus, ein Baum, ein Kind, das Zöpfe wie Lisa trug, und links oben eine große Sonne zu sehen waren, die ganz grell schien, so leuchtend gelb war sie.

„Sehr schön, Lisa, das hast du wunderbar gemacht“, freute sie sich anerkennend, gleichzeitig befürchtend, dass Lisa die leise Enttäuschung in ihrer Stimme bemerken würde, weil nur das Mädchen, nicht aber sie selbst auf dem Bild zu sehen war. Hatte die Kleine wohl vergessen, na ja, machte ja im Grunde genommen nichts, aber dennoch wäre es doch schön gewesen, wenn …
„Hab´ ich ganz alleine gemacht!“, triumphierte Lisa stolz.
„Prima, mein Deern, aber eigentlich sollte ich doch ein Bild haben, auf dem wir beide drauf sind. Hast du mich vergessen?“, konnte sie sich ein Nachfragen nicht verkneifen.
Lisa guckte ungläubig: „Nein, wieso?“
„Ja, dich mit deinen Zöpfen kann ich hier sehen und da den Baum vor eurem Haus auch, aber mich kann ich nirgends entdecken.“
Lisa beugte sich über das Bild: „Aber Oma, da! Das bist doch du!“, und dabei zeigte sie auf die große gelbe Sonne, deren Strahlen über das Bild fluteten und Lisa ganz umhüllten.


Buchcover, Verlag Expeditionen

In den Geschichten von Joachim Frank verbindet sich weihnachtliches Empfinden mit kleinen Erlebnissen. Rätselhafte Geheimnisse, ein unerwünschter Weihnachtsmann, das Bild der Enkelin oder ein Geschenk zu viel werden in ihnen zum Anlass für Freude, Verdruss oder Nachdenklichkeit. Und wer kennt das nicht: Am letzten Tag vor Heiligabend fehlt noch immer das wichtigste Geschenk! Da bleibt dem Verzweifelten nur die Wahl zwischen den ultimativen Ladenhütern. Es sei denn, er trifft eine mitfühlende Ladenhüterin …

Für viele Menschen ist die Advents- und Weihnachtszeit von dem Wunsch geprägt, innezuhalten, den von Hast, Hektik, Anforderungen und Ansprüchen geprägten Kreislauf des Alltäglichen zu durchbrechen. Mit seinen sechzehn Geschichten zum Träumen, Erinnern und Schmunzeln möchte der Autor ein wenig dazu beitragen.

 

 

 

Finissage der Ausstellung „Sprache der BildKunst“

„Sprache der BildKunst“. Foto: Witka und Dr. László Kova.

Geschickte Architekten zauberten aus einem alten Schulgebäude (erbaut 1887), das seit 1980 als Bürgerhaus und Kulturzentrum fungierte, ein modernes, attraktives Kulturhaus. Zur Eröffnung des Kulturhauses Eidelstedt „steeedt“ (Alte Elbgaustr. 12, 22523 Hamburg) am 2. September 2022 veranstaltete die Künstlergruppe „Eidelstedter Farbpinsel“ eine Gemälde- und Fotoausstellung unter dem Titel „Sprache der BildKunst“ mit den Arbeiten aus den jüngsten Kursen für Malerei.
Die Präsentation lockte viele Besucher von nah und fern ins Haus, wo am Eröffnungstag auch eine Galerieführung unter der Leitung des Kursleiters und Künstlers Dr. László Kova stattfand. Die Besucher konnten gleichzeitig die Ausstellerinnen und Aussteller persönlich kennenlernen, die vor ihren Bildern ein kurzes Exposé über Inspiration, Bildaufbau, Malprozess, Geheimnisse der Fotografie usw. erteilten. Das große Interesse veranlasste den Veranstalter dazu, die Ausstellung durch eine Finissage noch einmal in den Blickpunkt zu stellen. Durch digitale Medien, Plakate und Flyer wurde das breite Publikum zu einer Abschlussveranstaltung zum Termin am 1. November 2022 um 18:00 Uhr eingeladen.

Kunstinteressierte bei „Sprache der BildKunst“. Foto: Witka und Dr. László Kova.

Beim Sektempfang begrüßte der Geschäftsführer Herr Holger Börgartz die Interessierten zum vielversprechenden Abend. Dann übernahm Herr Dr. László Kova das Wort und hielt einen Vortrag über die Techniken der bildenden Kunst mit den Schwerpunkten von Radierungen, Lithografien und Holzschnitt, die als Druckgrafik besonders populär und beliebt sind. Es wurden reichlich Beispiele für die traditionsreichen, originalen Grafikarten gezeigt, die auf wertvolles Bütten-Papier von dem Künstler eigenhändig durch eine Handpresse gedruckt worden sind. Der Unterschied zwischen Originalgrafik (Büttenpapier, Nummerierung, Unterschrift, gesetzliche Vorschriften) und Offsetdruck (Art Print als fotografisches, technisches Verfahren) wurde ausführlich behandelt.

Publikum und Kunstschaffende im Ausstellungsraum. Foto: Witka und Dr. László Kova.

Seine Erörterungen gingen auch auf die Malerei in Aquarell, Acryl und Öl in Details ein, die durch mehrere expressive Gemälde veranschaulicht wurden. Hinter dem Vortragenden Kova hing diesbezüglich sein großes Tafelbild (3×1 m) in Acryl auf Leinen zum Thema Küstenlandschaft, auf dem u.a. See und Sandküste, ein romantisches, Reet bedecktes Haus sowie ein Leuchtturm – wie in List auf Sylt – dargestellt sind. Nach dem Vortrag erfolgte eine Galerieführung in der Ausstellung „Sprache der BildKunst“ in Begleitung des Publikums und der Kunstschaffenden, wo sich über Inspirationen, Themenauswahl, Pinselführung usw. rege ausgetauscht wurde.
Dann führte der Weg in den Vortragsraum zurück, wo Künstler und Kunstinteressierte in einer Podiumsdiskussion über ihre persönlichen „Erlebnisse mit Kunst“ sprechen konnten. Spontane Fragen und Antworten prasselten aufeinander ein und machten die Finissage richtig dynamisch.

Die Ausstellung gestalteten Ute Bantin (abstrahierte, großformatige Landschaften), Beatrice Funk (kreative Abstraktionen) , Sigrid Garz-Othmer (Impressionen: Hafenansicht, Loch Ness), Traute Haase (tosende See), Brigitte Konieczni (Stadtlandschaft Schwabing, Herbst) Denise Krohn (Farbenwunder, Meine liebe Kuh), Laki (Meditation, Lichtstrahl, Garten), Lieselotte Lehmann (Farbkomposition, Wasserfall, Bergkirche), Joachim Lunk (Kunstfotografie: Honigbiene, Heidelibelle, Segelfalter), Margritt Lunk (Hamburger Hafen, Speicherstadt in Hamburg,Tierwelt in Afrika), Ruth Mothes (Mohnlandschaft, Rapsfeld, Sonnenblume), Britta Nürnberger (Seerosen, Segelbote, Damen mit Regenschirm).

Übrigens treffen sich die Ausstellerinnen und Aussteller regelmäßig montags in den Kursen schon seit mehr als 20 Jahren, wo sie ihre Bilder für Ausstellungen malen,
die sie in diversen öffentlichen Räumen innerhalb und außerhalb Hamburgs zweimal jährlich präsentieren. Die Kurse laufen unter dem Motto „Malen kann jede/jeder“ und sind für Interessierte (Anfänger und/oder Fortgeschrittene) jeder Zeit offen.
Der Kursleiter ist Herr Dr. László Kova.
Erreichbar unter:
Tel.: 040 – 57 45 77
E-Mail: edition.kova@web.de

 

 

 

“Romance in D” by James Sherman – The New Play at The English Theatre of Hamburg

„Don’t touch me. I am a noli me tangere.“ Photo: Stefan Kock

Season Opening
Following the much acclaimed adaptation of Charles Dickens’s novel “Great Expectations”, director Clifford Dean has realized the bittersweet comedy “Romance in D” by the American playwright James Sherman. Little is known about the author outside the Anglo-Saxon world although Sherman has written a number of plays that proved blockbusters on the stages of New York and other big cities in the United States. Dear spectator, this play was chosen by the theatre to warm your heart on a number of cold, foggy and rainy winter days before and after Christmas. Remember Shakespeare’s poem about heavy storms in winter?: “Blow, blow thou winter winds…” Even then you will be warm and comfortable on your seat in the English theatre and enjoy one of the most touching plays ever written.

Chicago, Chicago
„Wow – I am completely groggy.“ Photo: Stefan Kock

In medias res: At first sight the setting will remind you of New York. But you are completely wrong. The skyscrapers in the background of the stage belong to Chicago. In apartment number 4E in one of the mega city’s highrise buildings a young attractive woman tries to commit suicide by putting her head into her gas oven. What a blessing that the man next door smells the gas in time and dials the emer-gency number 911. By reacting quickly, 40-year-old Charles Norton saved Isabel Foxe’s life. Every normal person would think that this heroic feat would automatically lead to a love affair between Isabel and Charles. What an error. When Isabel wants to thank her “knight in shining armour” he replies curtly “You are welcome.” No doubt, Charles Norton is a difficult person, to say the least. You may even call him a notorious bachelor. His profession is that of a musicologist which means that he Is infatuated with music and could not care less about the rest of the world. He is a loner and horrified by the very idea of having a relationship with a woman, no matter how attractive. Isabel Fox next door was once married to a man who left her for a much younger woman. She is deeply depressed and lonely. As a poetess she tries to compensate her loss by writing poems.

Worried Parents

Charles’s mother Helen Norton and George Fox, Isabel’s father, are worried about their offspring. Helen, being a typical “Yiddish Momme”, pampers her son and cooks him his favourite meals every day. Her heart’s desire is to see him happily married to a nice woman who bears him children. However, Charles defends his lonely life with claws and teeth. The only thing he wants is to be left alone. Full stop. Helen is desperate and at the end of Latin. The same refers to George Fox. Since he lost his wife a couple of years ago, his only close relative is his beloved daughter Isabel. He cannot bear to see her suffer. To hell with her unfaithful ex-husband. What about finding her a suitable partner?

Matchmakers
„What do the three of you want from me?“ Photo: Stefan Kock

Helen and George do their utmost to bring their children together. Wouldn’t Isabel and Charles make a perfect couple? The try fails. What a pity.
Christmas Eve brings the Nortons and the Foxes together. Everybody is relaxed and happy. While George and Isabel light their Christmas tree Helen and Charles stick to their Jewish tradition. Charles lights the candles on their menorah. Merry Christmas, merry Chanukka!
Helen and George are in high spirits and dance while Isabel and Charles are looking on. This perfect evening ends for the older generation in Isabel’s bedroom. Isabel and Charles are utterly shocked. How dare they at their age!

As time goes by
„Let’s dance.“ Photo: Stefan Kock

In the long run Isabel and Charles find out that they have a lot in common. He likes and composes music while she writes poems, strictly speaking music in verse form.
Dear spectator, if you want to know more about the progress in Isabel’s and Charles’s relationship you need to be patient. Will Helen’s and George’s wish finally come true? That you have to find out yourself. Just buy a ticket and enjoy this bittersweet comedy. We wish you two inspiring hours!
What a play. We are suffering with poor Isabel who has to wait a long time before Charles comes to terms. Doesn’t it remind us of prince William’s Kate who was disrespectfully nicknamed “waity Katie” by some rude British paparazzi? However, that brave girl never lost her temper and waited patiently until her prince declared to her. It is true that not every woman can become a princess, let alone Princess of Wales…

„Love, love, love…“ Photo: Stefan Kock

A big hand for the four Thesbians who brought jollity into this grey November evening. Our thanks go to Helena Ashwell as depressed Isabel, Brian Tynan as “nerdy” Charles, Jonny Magnanti in the role of Isabel’s charming dad George and last but not least to Joanne Hildon as Charles’s highly spirited “Momme.”
As already stated in the beginning, we practically know nothing about James Sherman, although he already wrote many plays that proved box-office hits in the United States: “Beau Jest”, “This old man came rolling home” and “Magic Time” are very popular plays in the United States. By the way, one of the American critics described “Romance in D” as having “two romances in one.” Indeed, more is not possible.

Last performance of “Romance in D” January 7, 2023.
Tickets under phone number: 040 – 227 70 89
Online under: www.englishtheatre.de

Next premiere: “The Pride” by Alexi Kay Campbell, on January 26, 2023

„Romance in D“ von James Sherman. Die neue Premiere am English Theatre of Hamburg

„Keiner fasst mich an. Ich bin ein noli me tangere.“ Foto: Stefan Kock

Willkommen in der „theatralischen“ Herbst- und Wintersaison! Im Anschluss an die vom Publikum begeistert gefeierte Adaption von Charles Dickens‘ „Great Expectations steht jetzt die Komödie „Romance in D“ des amerikanischen Bühnenautors James Sherman auf dem Programm. Gerade die richtige leichte, aber keineswegs seichte Kost, die dem Publikum am Ende eines trüben nebligen Tages das Herz erwärmt.

Schicksalhafte Rettung in Chicago

Die Handlung entführt uns in die Megacity Chicago, deren gigantische Skyline sich im Hintergrund der Bühne gegen einen leuchtenden Himmel abzeichnet. Romantik pur? Nur auf den ersten Blick. Denn In Apartment 4E steckt gerade eine junge Frau den Kopf in ihren Gasofen, um sich das Leben zu nehmen. Gottlob bemerkt ihr Nachbar den penetranten Geruch, wählt geistesgegenwärtig den Notruf 911 und verhindert einen Suizid. Wie das Schicksal so spielt. Manchmal bringen dramatische Ereignisse Menschen zusammen, die sich unter normalen Umständen nie begegnet wären. Wie in diesem Fall.

„Wow, ich bin total kaputt.“ Foto: Stefan Kock

Charles Norton, seines Zeichens Musikologe, und die Dichterin Isabel Fox, beide Anfang vierzig, leben Seit‘ and Seit‘ in einem riesigen Apartmenthaus. Beide sind notorische Einzelgänger. Während Charles sich ausschließlich seiner Musik widmet, eigene Kompositionen auf dem Klavier intoniert und sein Stereogerät auf volle Dezibelstärke schaltet, gibt sich Isabel hemmungslos ihrem Schmerz über eine verlorene Liebe hin.
In China gilt, dass ein Mensch, der einem anderen einst das Leben rettete, für diesen bis ans Ende seiner Tage verantwortlich ist. Richtet sich Charles nach dieser Maxime? Hat er jemals von ihr gehört? Gleichwohl. Ganz gegen seine Natur, sich nach Möglichkeit mit niemandem – speziell mit Frauen – einzulassen, empfindet er Sympathie für die unglückliche Nachbarin und wird nach und nach zu ihrem Ver-trauten. Auch Isabel fühlt sich zu Charles hingezogen.

Aufkeimende Liebe

Befeuert wird die vermeintlich aufkeimende Liebe von den Altvorderen der beiden. Helen Norton, Charles‘ temperamentvolle Mutter, und Isabels um das Wohl seiner Tochter besorgter Vater George bemühen sich redlich, ihre Sprösslinge zusammen zu bringen. Helen ist eine waschechte „Yiddische Momme“, die nicht nur wie das berühmte Lied erzählt, für ihr Kind durch Feuer und Wasser gehen würde, sondern ihr Söhnchen auch mit größter Selbstverständlichkeit bekocht und verwöhnt. Ihr größter Wunsch ist, dass ihr geliebter Hagestolz endlich in den Hafen der Ehe einläuft und eine Familie gründet. Doch der Junge will sich einfach nicht binden. Helen erklärt Charles zum Helden, als sie erfährt, dass er Isabel Fox durch sein schnelles Eingreifen das Leben rettete. Lächerlich, erklärt Charles kurz, er sei kein Held, sondern habe nur seine Pflicht getan, als er den Rettungswagen rief. Was soll man nur zu einem solchen Sturkopf sagen! Auch Isabels Vater arbeitet fieberhaft daran, aus den beiden Eigenbrötlern ein Paar zu machen. Vergebliche Liebesmüh‘. Die beiden Königskinder wollen einfach nicht zueinander finden. Das Wasser zwischen ihnen ist viel zu tief…

Heiliger Abend
„Was wollt ihr drei eigentlich von mir?“ Foto: Stefan Kock

Schwung kommt in die Angelegenheit, als die beiden Familien sich am Heiligen Abend zusammenfinden. Während die christlichen Foxens unter einem festlich geschmückten Tannenbaum sitzen, entzündet Charles zur Feier des jüdischen Chanukkah die Kerzen an der neunarmigen Menora, einem der wichtigsten Symbole des Judentums. Zwei verschiedene Glaubensrichtungen am Fest der Liebe in Harmonie vereint! Bei bester Laune legen Helen und George eine Sohle aufs Parkett, die den Salon erbeben lässt. Na sowas, die beiden Alten sprühen vor Temperament, während die Jungen etwas konsterniert zuschauen. Doch wie schockiert ist der Nachwuchs, als ihre Eltern nach einem Schäferstündchen leicht zerzaust aus Isabels Wohnung treten.

„Okay, lass‘ uns tanzen.“ Foto: Stefan Kock

Alle Daumen hoch. Was den Alten recht ist, sollte den Jungen doch billig sein. Oder?
Es kommt, wie es in einer echten Komödie kommen muss. Nach einer Reihe von Missverständnissen kommen sich Isabel und Charles immer näher. Zögerlich, aber unabwendbar. Haben sie nicht vieles gemeinsam? Während er der Musik frönt, schreibt sie Gedichte, so zu sagen Musik in Versen. Als Charles noch eine „Fuge für Isabel“ komponiert, scheint das Eis zwischen beiden endgültig gebrochen. Werden demnächst die Hochzeitsglocken läuten oder wird ihre Liebe erneut auf die Probe gestellt? Das herauszufinden, liebe Zuschauer, ist nun Ihre Aufgabe. Viel Spaß dabei!

Ein Wechselbad der Gefühle
„Endlich – der erlösende Kuss.“ Foto: Stefan Kock

„Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum ander’n. Sie nimmt uns alles. Doch sie gibt uns auch viel. Die Liebe ist ein seltsames Spiel.“ Ein Lied, welches das Phänomen Liebe treffend beschreibt. Auch Autor James Sherman kennt sich offenbar in Liebesdingen aus. Andernfalls hätte er diese bittersüße Komödie nicht ersinnen können. Der Zuschauer erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Wenn er denkt, jetzt hat es endgültig bei dem linkischen Charles gefunkt, sieht er sich düpiert. Ständig wirft der Stoffel sich selbst Knüppel zwischen die Beine. Wer fühlt sich nicht an den un-lücklichen Griechen Sisyphus erinnert, der – fast am Ziel – mit seiner schweren Bürde immer wieder in die Tiefe abrutscht? Auch die Figur der innerlich zerrissenen Isabel ist dem Autor glänzend gelungen. Ehe sie ihre Ängste vor Nähe überwindet, muss sie einen langen Leidensweg zurücklegen. Helena und George, die Eltern der beiden, erweisen sich als erstaunlich resistent gegen die Irrungen und Wirrungen des Lebens. Sie treten als eine Art Buffo-Paar auf in dieser Romanze in D.
Fazit: Ein bezauberndes Stück, das laut einem Kritiker gleich zwei Romanzen in einer enthält.

Regisseur Clifford Dean bewies erneut ein glückliches Händchen bei der Besetzung des Stücks: Alle vier Darsteller überzeugen in ihren Rollen – Brian Tynan als autistischer Charles sowie Helena Ashwell, die die depressive Isabel verkörpert. Paraderollen für Joanne Hildon als spritzige Helen Norton und Jonny Magnanti, der den nicht weniger temperamentvollen George gibt. Grandios die Tanzszene, die das Publikum zu Beifallsstürmen hinriss.
Über den Autor James Sherman ist bei uns wenig bekannt. Und das, obgleich er eine Reihe in der angelsächsischen Welt sehr erfolgreicher Stücke geschrieben hat. Echte Blockbuster scheinen „Beau Jest“ und das Stück mit dem verheißungsvollen Titel „This old man came rolling home“ zu sein.
Vielleicht demnächst in diesem Theater?

„Romance in D“ läuft bis einschließlich 7. Januar 2023.
Tickets unter: 040 – 227 70 89
Online unter: www.englishtheatre.de

Nächste Premiere:
„The Pride“ von Alexi Kaye Campbell, am 26. Januar 2023

Schlemmen für die Gesundheit

RIU Palace Maspalomas auf Gran Canaria:  Die Dünenlandschaft vor dem Atlantik ist einzigartig

Das Aufatmen beginnt bereits in der imposanten Hotel-Lobby. Helle, lichte Halle. Überkront von modernen Glasleuchtern mit gebogenen Metallstrukturen in verschiedenen Brauntönen: Alles passend zu den charakteristischen Sandfarben der Dünen von Maspalomas machen die Ankunft zur doppelten Freude. Kaum noch vorstellbar, dass dieses modern anmutende „Adults-only-Hotel“ nach seiner vollständigen Renovierung im Sommer 2021 eines der nostalgischsten RIU-Hotels auf Gran Canaria war. Seine vielen Stammkunden liebten das Fünf-Sterne-Haus nicht zuletzt wegen des gediegenen Kolonialstils seiner Inneneinrichtung.

Im neuen Glanz : Die Lobby RIU Palace Maspalomas

Und jetzt? Schon der in weiß und Erdtönen marmorglänzende Empfangsbereich versetzt in Wohlfühlstimmung: Modernes, italienisches Design, handgemalte Fresken, helle Hölzer strahlen Frische aus. Ein Ambiente, das sich bis in die eleganten und mit 33 qm großzügig geschnittenen 350 Zimmer und Suiten fortsetzt. Jedes einzelne Element des Mobiliars wurde in hellen Grau-, Beige-, Brauntönen perfekt aufeinander abgestimmt, die Bäder elegant und hochwertig restauriert. Unverändert geblieben sind die weißen Balkone der Zimmer mit Meerblick. Sitzt man dort in der Abendsonne, hat man das Gefühl, das wellenlose Meer wäre aus Glas und hinter den golden glänzenden Dünen nicht 800 Meter, sondern nur einen Katzensprung entfernt. Rechts am Horizont ragt der Leuchtturm von Maspalomas majestätisch in den Himmel. Ein unvergesslich schönes Bild.

Zimmer mit Ausblick

Hier also, im neu anmutenden RIU Palace Maspalomas, lässt es sich eigentlich rund ums Jahr Wohlsein. Ruhe und vor allem Loslassen stehen in dieser November-Woche für mich auf dem Programm. Nicht nur der Stress soll abfallen, sondern auch das ein oder andere Kilo. Ob das gelingen wird? „Entspannen. Fitness und Abnehmen bei nicht mehr als 1000 Kilokalorien am Tag“ ist das erklärte Ziel meiner Smartphone-App. Zunächst allerdings gilt es, den Wochenplan so zusammenzustellen, dass auch genügend Zeit für die Entdeckung der Insel bleibt. Zum Strand und Paseo Marítimo, der oberen Promenade von Maspalomas mit seinem berühmten Leuchtturm, wandert man durch die hügelige Dünenlandschaft stramme 20 Minuten. Doch zuerst ergründe ich die unmittelbare Umgebung um das RIU Palace. Noch mehr schlichte Wohnblocks, Villen und weiße Reihenhäuser sind seit meinem letzten Besuch dazugekommen – zum größeren Shopping-Center sind es etwa 15 Fußminuten.

Die Seeluft macht Appetit, und so zieht es mich nach Ausflügen – zu empfehlen sind Playa de Amadores, der Ruque Nublo oder die Altstadt von Agüimes – immer wieder schnell zurück ins Hotel. Denn das Abendessen ist meine Tages-Hauptmahlzeit im Büffetrestaurant  und ein kulinarisches Highlight!

Genuss vom Feinsten im Hauptrestaurant

Ich starte täglich mit einem frischen Wildkräuter-Salat: Mango, Orangensplitter, Gurken, Radieschen, Himbeeren, Cranberry,  auch mal ein Hauch von Schalotten und vierlerlei  Dressings und Toppings. Vorschriftsmäßig langsam und mit großem Genuss verzehre ich Abend für Abend einen voluminösen Salatteller. Die verführerisch duftende Pasta-Station  lasse ich schweren Herzens links liegen. Vielmehr fällt meine Wahl für den Zwischengang auf bunte Sushis, super-erstklassig. Auch eine kleine Portion Beef Tartar, gebratener Thunfisch oder Shrimps bringen nur 200 Kalorien laut meiner App auf die Waage. Und alles wird vor den Augen des Gastes  superfrisch zubereitet, nichts liegt länger herum oder wird warm gehalten. Mein Hauptgang besteht entweder aus gegrilltem Fisch oder Fleisch, begleitet wahlweise von gedämpftem Blattspinat, grünen Bohnen, Erbsen, Karotten, Spargel, Paprika oder Fenchel. Meine Diät, die ich mir als Halbpensionsgast zusammenstelle ist vitamin-und mineralstoffreich und bietet dem Körper die ganze Vielfalt an Vitalstoffen, die die Immunabwehr stimuliert und den Stoffwechsel auf Trab hält. Sagt meine Gesundheits-App. Ich kombiniere mein Abnehmprogramm laut „Health-Plan“ auf zwei Mahlzeiten am Tag: Zum Frühstück gibt’s frische exotische Früchte und frisch gepresste Säfte, auch mal eine kleine Eierspeise oder Magerjoghurt. Zugegeben, der Verzicht auf duftende  Croissants oder frische Brötchen fällt schwer. Aber ich vermeide jede Art von Getreide, nur gelegentlich gönne ich mir abends eine Mini-Portion Naturreis. Eine ausgewogene, kalorienarme Mischkost also, die als perfektes Vorbild für zu Hause dienen könnte.  Der Vorteil hier im RIU Palace Maspalomas: Sie wird ohne mein Zutun vor meinen Augen abwechslungsreich und vielfältig zubereitet und hübsch dekoriert auf Tellern präsentiert. Und zum Abschluss  dieser Luxusdiät darf ich täglich vom Dessertbüffet noch eine winzige Kleinigkeit wählen: Petit Fours, frische Erdbeeren, Himbeeren, Feigen, Melone, Früchtesorbet oder eine Schokoladenpraline! Himmlisch!

Nach jeder Schlemmerei auf Sterneniveau fühle ich mich angenehm gesättigt und will kaum glauben, dass ich pro Tag mit Sport, Fußmärschen und Relaxen keine 1000 Kalorien zu mir genommen habe. Lediglich bei den Getränken muss ich auf  die Kalorienbilanz achten. Edle Weine aus der gut sortierten Getränkekarte sind natürlich nicht angesagt, auch kein Alkoholgetränk an der Bar zu später Stunde. Das würde die Zellverbrennung  beim Abnehmprozess erheblich stören, sagt meine App.  Mineralwasser wird zu meinem reichlich genossenen Lielingsgetränk. Alllerdings: Die vielen Runden in den beiden Pools und die Dünen-Abendspaziergänge unter dem Sternenhimmel bringen die nötige Bettschwere.

Wer auch mal à la carte im RIU Palace Maspalomas schlemmen möchte, könnte leicht, vitaminreich und kalorienarm im Fusion-Restaurant „Krystal“ aus der Menükarte wählen. Wer nicht weiß, wie das geht, lässt sich von der erstklassig geschulten Servicecrew beraten. Wer weiß, wie die einzelnen Zutaten auf seiner „Health-App“ abzulesen sind, aber keine Lust auf Geschmack aus verschiedenen Kulturen hat, muss nur ein bisschen Wissen darüber mitbringen, welche Gewürze aus den Regionen der Welt erstklassig zusammenpassen. Wenn man zum Beispiel Tapas mit asiatischen Aromen von der Menükarte wählt, sehr klein, sehr fein, sehr lecker, stimuliert das unterschiedlich die Sinne und man hat eine tolle Gourmet-Erfahrung. Köstlich sind  gegrillte Scampi, Tun-oder Tintenfisch mit vielerlei süß-sauren und scharfen Saucen. Letztlich ist es eine Frage der Menge, womit man kalurienreduziert speist.

Am siebten Schlemmertag habe ich jedenfalls fünf Pfund abgenommen. Ach ja, die Rad-und Wanderausflüge, Aqua-Gymnastik, Bahnen-Schwimmen, Fitnesstraining und Saunagänge haben wohl auch zum Fitnessprogramm beigetragen. Etwas kurz gekommen sind dieses Mal faule Liegestuhlstunden auf der Sonnenterrasse am Pool.

Im RIU Palace Maspalomas kosten 7 Nächte im  November 2022 Flug ab Hamburg HP/im DZ/Meerblick ab 1.688,- Euro (www. TUI.de)

 

Ein großer Mime – in allen Sätteln gerecht

Herbert Tennigkeit
Foto: actorsagency hamburg

Ein Nachruf auf den Schauspieler und Rezitator Herbert Tennigkeit

Dies vorweg. Herbert Tennigkeit war ein lustiger Vogel, stets zu Scherzen und heiteren Geschichten aufgelegt, die er in seiner unnachahmlichen Art zum Besten gab. Hinter dieser mitreißenden Fröhlichkeit verbarg sich ein nachdenklicher belesener Feingeist, der gern über die Dinge philosophierte, die weit über das Alltägliche hinausreichten.

„Mir hat keiner an der Wiege gesungen, dass ich einmal Schauspieler werden würde. Ursprünglich hatte das Leben offenbar etwas ganz anderes mit mir vor,“ gestand Herbert Tennigkeit mir einst, als ich ihn während eines Hamburger Gastspiels in seiner Theatergarderobe aufsuchte.

1937 im ostpreußischen Memelland geboren, floh er 1944 kurz vor Kriegsende unter dramatischen Umständen mit seiner Mutter und seinen Brüdern vor der Roten Armee gen Westen. Nach einem Aufenthalt in Sachsen trieb es die Familie weiter nach Berlin. Herberts Mutter war praktisch veranlagt und bestand darauf, dass der Sohn erst einmal etwas Ordentliches lernte. Der ging daraufhin bei einem Maler und Anstreicher in die Lehre, der ihm beibrachte, wie man vom Krieg verwahrloste Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand zurückversetzte. Geschadet habe ihm diese Ausbildung zum Handwerker nicht, gestand Tennigkeit einmal. Aber sein Traumziel, Schauspieler zu werden, habe er nie aus den Augen verloren. 1962 war es dann so weit. Er zog nach Düsseldorf und nahm dort Unterricht bei einem seinerzeit bekannten Schauspieler. Auch zum Sänger ließ er sich ausbilden.

Diese solide Ausbildung hatte sich gelohnt, denn in der Folgezeit durfte sich der frisch gebackene Mime über eine Reihe von Engagements an bekannten westdeutschen Bühnen freuen.
Während ein Tourneetheater ihn durch viele Städte der Republik führte, stand er auf der Bühne des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters, brillierte bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, trat in der Komödie Frankfurt auf und wirkte in Theaterproduktionen mit, die ihn in die Niederlande, Österreich und nach Großbritannien führten. Sein umfangreiches Repertoire umfasste unter anderen Stücke von Shakespeare, Osborne, Brecht, Kleist und Hochhuth. Auch in Operetten und Musicals trat dieser vielseitige Künstler auf. Besonders gelungen empfand er seinen Auftritt in „Irma la Douce“: „Ein bezaubernd frivoles Stück.“ Schade nur, dass er der Irma aller Irmas Shirley MacLaine nie begegnet ist. Aber man kann halt nicht alles haben.

Als Sprecher machte Herbert Tennigkeit sich ebenfalls einen Namen. Seine sonore Stimme eignete sich gut für Hörspiele. Dabei lagen ihm die Karl-May-Hörspiele besonders am Herzen: „Welcher Jugendliche hat nicht alle oder die meisten der insgesamt 65 Romane dieses Titanen der spannenden Lektüre verschlungen?“ Nicht wenige von uns haben sie mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen. Die Chronistin war eine von ihnen.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann der Mime Tennigkeit noch eine viel beachtete Karriere als Darsteller in Fernsehfilmen und -serien. Unvergessen ist seine Rolle als Anästhesist Dr. Laudann in der „Schwarzwaldklinik“, einer Serie, „die sich zu einem veritablen Straßenfeger entwickelte. Kitsch as Kitsch can? Wahrscheinlich. Aber das Publikum war begeistert von der heilen Welt des Schwarzwaldes und den Protagonisten, die so sympathisch menschlich rüberkamen. Fast genau so beliebt waren Serien vom Schlage „Das Erbe der Guldenbergs“ , „Das Traumschiff“, „Hotel Paradies“ und „Kreuzfahrt ins Glück“, in denen Tennigkeit ebenfalls Erfolge feierte.

Unschlagbar war Herbert Tennigkeit als Rezitator. Seine Lesungen in ostpreußischer Mundart sind bis heute unvergessen. Wenn er aus Siegried Lenz‘ „So zärtlich war Suleyken“ las oder Günther Ruddies‘ „Woher kommen die Marjellchens?“ rezitierte, blitzte in den Augen mancher Zuhörerin aus der „kalten Heimat“ nicht selten ein heimliches Tränchen auf.

Seine ostpreußische Heimat hat Herbert Tennigkeit nie vergessen. Er trug sie immer im Herzen. Mehrmals ist er an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. In einem Interview vor Jahren, das die PAZ mit ihm führte, bekannte er sich offen zu seiner Sehnsucht nach seinem heimatlichen Poggen. Er wollte seinen Sandkasten, den Apfelbaum im elterlichen Garten und auch seine Schule wieder sehen. Und – oh Wunder – alles war noch da. Da darf auch ein gestandenes Mannsbild eine Träne vergießen.

Ich erinnere mich noch genau an eine gemeinsame Fahrt mit Herbert Tennigkeit zu einem Termin an der Ostsee. Während der kurzen Reise erzählte er mir in beredten Worten viel aus seinem ereignisreichen Leben als Darsteller großer Rollen und gestand ganz nebenbei, dass er sogar mit dem Gedanken gespielt habe, Schlagersänger zu werden. Einfach, weil er gern singe. Ganz so wie der große Kollege Gustav Gründgens, der einmal bekannte: „Ich weiß ja, ich kann nicht singen. Und dabei singe ich doch so gern.“ Aber Herbert Tennigkeit konnte wirklich singen. Immerhin hatte er in jungen Jahren Gesangsunterricht genommen. Und so sangen wir auf unserem Weg nach Timmendorfer Strand aus voller Kehle „Lilli Marlen“, „Die Beine von Dolores“ und „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.“ Ein unvergessliches Erlebnis.

Schließlich, doch nicht zuletzt muss an dieser Stelle noch Herbert Tennigkeits langjährige enge Freundschaft mit der in Königsberg geborenen Autorin und Journalistin Ruth Geede erwähnt werden, die im April 2018 im biblischen Alter von 102 Jahren verschied. Ruth, die Doyenne ihrer Zunft, teilte ihre Liebe und lebenslange Sehnsucht nach Ostpreußen mit Herbert. Und niemand konnte ihre Gedichte und Prosa so schön im ostpreußischen Idiom rezitieren wie er. Eine Kostprobe seiner Kunst wurde uns zur Feier des 100. Geburtstages von Ruth Geede im Jahre 2016 geboten.

Nun ist auch Herbert Tennigkeit von uns gegangen. Er starb am 10. Oktober 2022 im Alter von 85 Jahren in seiner Wahlheimat Hamburg.

Requiescat in pace!

(Dieser Nachruf erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung)


Lesen Sie auch diesen Artikel über eine Fahrt mit dem Dampfschiff St. Georg, bei der Herbert Tennigkeit Texte rezitierte: https://die-auswaertige-presse.de/2016/08/alstervergnuegen-auf-dem-historischen-dampfer-st-georg/

 

Kunstaktion im Kottwitzkeller

Glück to go © Oliver Kunst / Foto: Hanna Malzahn

Eine schöne Straße im Generalsviertel in Hamburg-Eimsbüttel: Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, aufwändig renovierte Jugendstil-Fassaden, Kopfsteinpflaster, Balkone und kleine Vorgärten eingefasst in schmiedeeiserne Zäune – die Kottwitzstraße, erbaut 1901, beschaulich und idyllisch.

Einmal im Jahr Ende August findet seit 1996  der KOTTWITZkeller statt, ein Kunstprojekt im Hamburger Untergrund und in privaten Räumen. Eine Non-Profit-Veranstaltung, basierend auf Nachbarschaft, Engagement und Solidarität. Die Freude am Ausprobieren und an der Kunst ist oberste Maxime.

Wohnungen und Treppenhäuser verwandeln sich in Galerien

Die Nachbarn räumen die Keller leer, Fährräder und Hausrat werden weggestellt. Sehr viele Besucher gehen Jahr für Jahr die Treppe in den Kottwitzkeller hinunter, dessen Treppenaufgang ein Gemälde von Horst Wäßle ziert, einem Künstler der Schlumper-Künstlergruppe.

Es gibt viele Kunstgattungen zu sehen: Malerei, Zeichnungen, Drucke, Objekte, Installationen, Theater, Musikimprovisationen, Performance, Video, Film, Modenschau, Gedichte… ein vielfältiges Programm.

Auch die Innenhöfe, Gärten und die Straße werden  bespielt, ein buntes Fest mit Kunst, Musik und fröhlichem Treiben.

Puppen des Glücks © Luise Czerwonatis / Foto: Hanna Malzahn

Die Begründer und Organisatoren Wolfgang Scholz und Dieter Tretow geben ein weitgefasstes Thema vor. Es gibt keine Jury und keine Altersbeschränkung. Die Wahl der Motive zum jeweiligen Thema, die Technik und die Formate sind den Künstlern freigestellt. Das garantiert schon von vornherein eine große Bandbreite und Vielfalt an Kunstwerken. Alle Künstler sind eingeladen, die jeweilige Themenstellung in ihrem eigenen Credo zu bearbeiten. Sie können ausprobieren und experimentieren, bis die Umsetzung der Idee jeweils optimal erscheint. Dabei beschreiten viele Künstler ganz neue Wege.

Es geht um das Glück

Beim diesjährigen 26. Kottwizkeller am 27. und 28. August ging es thematisch um das Glück. Das Logo zeigt einen Wolf.

In Italien wünscht man jemanden mit „in bocca al lupo“ nicht wortwörtlich in das Maul eines Wolfes, sondern viel Glück. Im Deutschen finden wir die Entsprechung im Wunsch des „Hals- und Beinbruchs“. Um das Glück nicht herauszufordern, wünscht man aus Aberglaube genau das Gegenteil.

Lt. Wikipedia ist „Glück ist ein mehrdeutiger Begriff, der momentane oder auch anhaltende positive Empfindungen (Glücksgefühle) einschließt, die von stiller bis zu überschießender Art sein können. Glücklich kann man zudem eine Person nennen, der es anhaltend gut geht, weil ihr Leben viel von dem enthält, was sie als wichtig erachtet.“

Kitsch macht Dich glücklich © und Foto Hanna Malzahn

Ist Glück demnach Zufriedenheit oder ein flüchtiger Augenblick? Oder die positive Bilanz eines Lebensabschnittes?

Das subjektiv beeinflussbare und wahrgenommene Glück in einer Definition als objektive Tatsache festzuhalten, ist äußerst schwierig.

Eine faszinierende Werkschau

So  ist es spannend und inspirierend wie die sechsunddreißig teilnehmenden Künstler das Glück in ihren Arbeiten darstellen, beschreiben und interpretieren, das Glück in mannigfaltiger Gestaltung, unter verschiedenen Aspekten und Fragestellungen, eine faszinierende Werkschau.

Es gibt großartige Exponate: Malerei, Zeichnungen, Collagen, Druckgraphik, Objekte, Scherenschnitte, Installationen, Theater, Film und Musik, Zauberei, Märchen und Seifenblasen  – glückliche Momente  inklusive.

Glückskeks © Wolfgang Scholz Dieter Tretow / Foto: Hanna Malzahn

Im Garten gibt  es einen interaktiven überdimensionierten Glückskeks von der Größe eines Drei-Mann-Zeltes, im Treppenhaus eine Installation mit Spielkarten, der Schriftzug „GLÜCK“ gestaltet mit Centstücken, Scherenschnitte mit faszinierenden Schattenwürfen, Puppen des Glücks chillend zum Feierabend im Waschbecken, Fotoserien, klassische Malerei, zimmergroße Installationen, einen gewebten Wandteppich und vieles, vieles mehr.

Ein Film zum 26. Kottwitzkeller fängt die gute Stimmung ein, zeigt die unterschiedlichsten Positionen und das ungewöhnliche Ambiente.

Weitere Informationen unter www.kottwitzkeller.de

Die Ausstellung kann man virtuell durchwandern: https://www.kottwitzkeller.de/gluecksuebersicht.html

Cocooning © Tanja Soler Zang / Foto: Hanna Malzahn

 

 

 

William Faulkner zum 125. Geburtstag

Foto: Cofield / Mississippi Encyclopedia

Ein hervorragender Geburtstags-Artikel von Uwe Britten im Ärzteblatt für psychotherapeutische Praxen (Britten 2022) darf als Anlass dienen, an dieser Stelle auf einen Meister der klassischen Moderne hinzuweisen, der die berühmt-berüchtigten US-amerikanischen Südstaaten in eine ganz eigene literarische Form gebracht hat.

Wie kaum ein anderer bietet William Faulkner neben dem reinen Lesegenuss dabei sowohl existentialistische als auch essentialistische Lesarten an; und die Achse Bergson – Sartre – Deleuze ist hier ebenso fruchtbar wie beispielsweise die von Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Neben dem Publikumserfolg, der Faulkners Werk – teils mit Verzögerung – letztlich zuteil wurde, handelt es sich um nichts weniger als Weltliteratur. Albert Einstein soll einmal gesagt haben, dass die Lektüre dieses Werkes eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe ist (Sowder 1991) – da lag er gewiss richtig.

Das ewige Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart

Die Lebensphilosophie Henri Bergsons (Bergson 1991; 1994) kann eine hilfreiche Hintergrundfolie für ein Verständnis von Faulkner bieten, deren Aspekt von Zeitlichkeit ein zentraler in dessen Werk ist: Faulkners Leitthema ist nämlich das ewige Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart. Von Bergson, der ´le temps´, die objektive Zeit, von ´la durée´ zu unterscheiden wusste – der subjektiven, sagen wir: erlebten Zeit – kann man nicht wenig über Identitätsbildung und Subjektivität lernen. So hat mittlerweile auch die neuropsychiatrische Zeit- und Gedächtnisforschung (Squire & Kandel 2009) die Unterschiede von semantisch-motorischem Gedächtnis und episodischem Gedächtnis herausgearbeitet, von dem letzteres etwa identitätsbildende Funktion hat.

Bedeutsam ist bei Bergson zudem dessen Anti-Rationalismus, der der vor allem aus dem Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgehenden Vernunftorientierung entgegentritt, was ihm schon damals den Vorwurf von Unschärfe und Mystizismus einbrachte (Fellmann 1996). Dieser Vorwurf gründet aber überwiegend auf einem verengten Wissenschaftsbegriff, der ebenfalls dem Rationalismus – heute vielfach in Verbindung mit einer zu engen Anwendung des anglo-amerikanischen Empirismus – zu verdanken ist.

Man könnte sagen, so wie Bergson etwa Subjektivität konzipiert, erkennt Faulkner die Eigenarten des menschlichen Wesens mit all seinen Abgründen und in all seinen Widersprüchen. Doch ist er dabei nie fernab von Gesellschaftskritik; das Gegenteil ist der Fall. Nur eindimensionale Gemengelagen findet man bei ihm nicht, und eindimensionale Antworten bietet er ebenso wenig an. Der Balanceakt zwischen viktorianischer Vergangenheit und kommender Moderne ist bei Faulkner als Autor zwischen den Welten (und Weltkriegen) persönlich-kulturell gewissermaßen angelegt, obwohl und weil er, wie viele amerikanische Autoren, als „Regionalist“ im Kleinen das Große, im Mikro- den Makrokosmos findet.

Die „Snopes“-Trilogie

So weist Britten im Ärzteblatt-Artikel auch auf die ausgreifende „Snopes“-Trilogie (Faulkner 1994) hin, die jenseits eines ganzen Panoptikums an Figuren, Konflikten und Themen den besonders eindrücklichen Zwist der ungleichen Cousins Flem und Mink Snopes vorstellt. Dabei geht es um Religiosität, Alltagsmaterialismus, Moralität. Gesellschaftskritische Komponenten liegen auf der Hand, etwa wenn Faulkner zeigt, was es bedeuten kann, wenn Aufsteiger aufsteigen, oder wie Unausweichlichkeiten menschliches Handeln determinieren können.

Eine zentrale Figur der Trilogie ist also Flem Snopes, ein Parvenu und Opportunist verwegenster Sorte, der vom Cafébesitzer zum Bankvorstand der fiktiven Stadt Jefferson in Mississippi aufsteigt. Er stiehlt schon einmal seiner erwachsenen Tochter den Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei, um sie beim FBI anzuschwärzen. An anderer Stelle sitzt eben diese Tochter mit den einzigen anderen örtlichen Kommunisten – Arbeitsmigranten aus Finnland – in dessen Haus und spricht über die, wie Faulkner lakonisch ausführt, “emancipation of man from his tragedy, the liberation at last and forever from pain and hunger and injustice, of the human condition,” only two doors away from Flem, “the capitalist himself who owned the parlor and the house, the very circumambience they dreamed in, who had begun life as a nihilist and then softened into a mere anarchist and now was not only a conservative but a tory too: a pillar, rock-fixed, of things as they are” (Egloff 2020, 41-42).

Doch auch Cousin Mink steht Flem in Eigentümlichkeit kaum nach, wenn er auf seiner Vendetta über Memphis nach Jefferson ein sehr persönliches und intuitives, doch immer moralisches Prinzip vertritt und motivisch sowohl in Kontrast als auch in Nähe zum Cousin gerät. Wie Faulkner diese und andere Widersprüchlichkeiten mit Mitteln von Bewusstseinsstrom, Sprache, Bildern darstellt, ist kunstvoll, avantgardistisch, mitunter schwierig zu lesen, aber nicht unlesbar. Wir haben es mit drastischen Charakteren, Konstellationen und Situationen zu tun, und wie Faulkner diese vorbringt, entspricht ganz seiner Eigenart: sotto voce.

Southern Gothic

Zum literarhistorischen Kontext: Die ´Southern Renaissance´ in den USA der 1920er und 1930er Jahre, aus der ab der Nachkriegszeit die als ´Southern Gothic´ bezeichnete, sehr populäre Stilrichtung hervorging, begründet einen nahezu neuen Typus nicht nur schrulliger , sondern auch mysteriöser, manchmal grotesker Charaktere. ´Southern Gothic´ hat längst Einzug in die Alltagskultur gehalten, dies nicht nur in den USA. Autorinnen wie Flannery O´Connor und Katherine Anne Porter gehören gewiss dazu, wie auch Cormac McCarthy, dessen Werke erst in den 1990er Jahren bekannt wurden, diesem aber zu einem rasanten Publikumserfolg verhalfen. Einige seiner Werke dürften mittlerweile auch einem größeren deutschen Publikum bekannt sein.

Faulkners Verarbeitung des Übergangs von viktorianischer Vergangenheit zu kommender Moderne bedeutet eben auch Charaktere in ihren Verwerfungen und ihrer Orientierungslosigkeit zu zeichnen, dies in Zeiten von Umbrüchen (Egloff 2017), die heutzutage geradezu zum Normalfall werden. Die umgreifende Diagnose ist die des Niedergangs von Strukturen. Damit erscheint das zweite zentrale Thema Faulkners, die innere Ortlosigkeit. Wenn Faulkner anhand der Brüchigkeit überlieferter Strukturen darstellt, wie Menschen vor Herausforderungen bezüglich ihres Selbstverständnisses gestellt werden, ist zu sehen, dass hier eine motivische Nähe hinein in die Postmoderne reicht, zu Autoren wie Bret Easton Ellis oder Don DeLillo. Dies zeigt sich z.B. in Ellis´ Roman „Lunar Park“ (Ellis 2005), in dem die Ortlosigkeit auf verschiedenen inhaltlichen und formalen Ebenen deutlich wird, wie die Literaturwissenschaftlerin Alison Lutton eindrucksvoll herausgearbeitet hat (Lutton 2012). „Lunar Park“ wartet dabei mit unerwartet traditionell-erzählerischer Kraft auf, die kaum noch mit dem ´minimal realism´ von Ann Beattie oder Joan Didion zu tun hat. Neben dem epischen Erzählen imponieren zudem – nicht weniger überraschend – für Ellis ungewohnte, teils verstörende ´Southern Gothic´-Elemente. Die innere Ortlosigkeit ist aber auch schon in Ellis´ schmalem, doch grandiosem Erstlingswerk „Less than Zero“ (Ellis 1985) ein zentrales Motiv; die Verbindung von innerer und äußerer Schwierigkeit seinen Ort zu finden, stellt das eigentliche menschliche Drama dar. Und so es ist kein Zufall, dass im Roman des ausgehenden 20. Jahrhunderts nur noch die Lektürehilfe zu Faulkners „As I Lay Dying” auftaucht, das Werk nur noch als Chiffre fungiert.

Was gesellschaftliche Strukturen ordnen sollen, droht sich gerade in der virtuellen Welt der Postmoderne unter dem Regime des Bildmediums aufzulösen, was viele Menschen intuitiv spüren. Die Tendenz zum Eskapismus im Konsumerismus neoliberaler Prägung (Donnelly 2018) lässt die 1980er Jahre fast noch harmlos erscheinen, weil wir es nun noch viel mehr mit der, wie der Amerikanist Heinz Ickstadt in Übereinkunft mit den entscheidenden Traditionslinien der Kritik festhält, „Verdrängung des Realen durch das Bild des Realen“ (Ickstadt 1998, 158) zu tun haben. Was bei Ellis also schillernd-postmodern, virtuell wird, ist bei Faulkner (noch) im Realen zu finden, als facettenreicher Kampf zwischen menschlicher Natur und Kultur.

Die Überschätzung des Rationalen

Wie schon Freud wusste, ist das, was wir Ich nennen, keineswegs Herr im Hause. Doch die Überschätzung des Rationalen ist heute wieder überall vorzufinden, auch und gerade in Politik, Wissenschaft, aber gewiss auch beim Einzelnen. Während Trieb und Begehren zwar als halbwegs anerkannte Kategorien gelten, treten deren Problematiken unter verschärften gesellschaftlichen Bedingungen offen zutage, wenn nämlich Strukturen als Rahmen gebende Orientierungspunkte sich auflösen. Jene Vernunftorientierung, die teils zu Vernunftgläubigkeit werden kann, läuft dann Gefahr – z.B. in Verbindung mit dem deutschen Idealismus –, eine merkwürdige Melange von (einerseits notwendiger) Weltverbesserung und (andererseits überbordender) Realitätsentsagung einzugehen.

Neben dem oben genannten, weit über tausend Seiten starken Spätwerk existieren noch etliche Klassiker der Moderne aus Faulkners früheren Schaffensphasen, von denen „The Sound and the Fury“ („Schall und Wahn“, erschienen 1929; Faulkner 2011) auch heute auf vielen Prüfungslisten der Geisteswissenschaften an deutschen Universitäten steht. Das nicht leicht zu lesende Werk ist immer noch ein Meilenstein des erzählerischen Bewusstseinsstroms. Und auch wenn es etwas ruhiger wurde: die Faulkner-Forschung blüht seit Jahrzehnten mit immer wieder neuen und ertragreichen Zugängen. Nicht nur in den USA, mit regelmäßigen Faulkner-Konferenzen in Mississippi und Missouri, sondern auch in Großbritannien, oder an deutschsprachigen Unis. Die Universität Straßburg stellte übrigens mit dem Lehrstuhl von André Bleikasten über Jahrzehnte hinweg eine Art europäischen Knotenpunkt der Faulkner- Forschung dar (Bleikasten 2017).

Faulkner, der im September 125 Jahre alt geworden wäre, hat also Spuren hinterlassen, die bis weit in die heutige Zeit hineinreichen und die mit unserer ganz konkreten Lebenswelt zu tun haben. Mittlerweile haben schräge Charaktere in Film und Fernsehen zudem geradezu eine gewisse Normalität erreicht – deren wohlkalkulierte Darstellung sich allerdings wie so oft von den Inhalten abzulösen droht. Mindestens aber dann, wenn in US-Filmen oder sonstigen Werken – nicht nur über die Südstaaten – merkwürdige Figuren auftauchen, vom Commis bis zum Schrat, kann man dies getrost als ´Southern Gothic´-Referenz lesen – wenn nicht gar als Verweis auf einen dieser zahlreichen Charaktere in Faulkners Oeuvre.

 

 

Literaturhinweise:

Bergson, H. (1994). Zeit und Freiheit. EVA, Hamburg.

Bergson, H. (1991). Materie und Gedächtnis. Felix Meiner, Hamburg.

Bleikasten, A. (2017). William Faulkner. A Life through Novels. Indiana University Press, Bloomington.

Britten, U. (2022). William Faulkner (1897-1962): Es war Notwehr! Deutsches Ärzteblatt PP 21, 7, 333-334.

Donnelly, A.M. (2018). Subverting Mainstream Narratives in the Reagan Era. Palgrave Macmillan, New York.

Egloff, G. (2020). William Faulkner, Snopes (1940, 1957, 1959). In: Egloff, G. Culture and Psyche – Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert, Beau Bassin, 31-60.

Egloff, G. (2017). Die Autobiographie von Alice B. Toklas – Gertrude Stein aus der Sicht von Alice B. Toklas aus der Sicht von Gertrude Stein. dap-hamburg.de, Dez. 2017.

Ellis, B.E. (2005). Lunar Park. Alfred A. Knopf, New York.

Ellis, B.E. (1985). Less than Zero. Simon & Schuster, New York.

Faulkner, W. (2011). The Sound and the Fury. Knopf Doubleday, New York.

Faulkner, W. (1994). Snopes. The Hamlet, The Town, The Mansion. Random House, New York.

Fellmann, F. (1996). Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Rowohlt, Reinbek.

Ickstadt, H. (1998). Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert – Transformation des Mimetischen. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt.

Lutton, A. (2012). East is (not) East: the Strange Authorial Psychogeography of Bret Easton Ellis. 49th Parallel 28, 1, 1-30.

Sowder, W.L. (1991). Existential-Phenomenological Readings on Faulkner. University of Central Arkansas Press, Conway.

Squire, L., Kandel, E. (2009). Gedächtnis – die Natur des Erinnerns. Spektrum, Heidelberg.

 

Alexandra – eine legendäre Sängerin

Portraitfoto der Sängerin Alexandra. Ostern 1969 in München. Privatfoto von Marleen Zaus.

In diesem Jahr würde die beliebte Sängerin Alexandra ihren 80. Geburtstag feiern. Bekanntheit erreichte Alexandra mit Titeln wie „Sehnsucht“, „Mein Freund der Baum“ und ihrem bekanntesten Hit  „Zigeunerjunge“.

Zur großen Trauer ihrer Fangemeinde wurde der kometenhafte Aufstieg der gebürtigen Memelländerin jedoch am 31. Juli 1969 auf einer  Urlaubsfahrt nach Sylt bei einem Verkehrsunfall im schleswig-holsteinischen Tellingstedt jäh beendet. Sie starb mit nur 27 Jahren.

Höhen und Tiefen einer kurzen Karriere

Ihr Leben war geprägt von Erfolgen, aber auch herben Enttäuschungen. Alexandra kam als Doris Treitz 1942 in Heydekrug zur Welt, und nur zwei Jahre später musste die Familie aus Ostpreußen fliehen. Als der Vater aus dem Krieg zurückkam, fand die Sängerin mit den Eltern und ihren beiden Schwestern in Kiel eine Bleibe.

Alexandra lebte von 1946-1961 in Kiel. Zu Ehren der Sängerin wurde eine Grünfläche im Stadtteil Ravensberg nach ihr benannt. Foto: Ulrike Gaate

Schon während der Schulzeit stellte sie ihr musikalisches und schauspielerisches Talent unter Beweis. Bevor sie sich diesem widmen konnte, bestand der Vater jedoch auf einer bodenständigen Ausbildung. So begann sie eine Grafiker-Lehre.
Nach der Scheidung der Eltern zog die Mutter mit ihren Töchtern nach Hamburg, der Wiege des späteren Erfolgs ihrer Jüngsten. Dort lernte Alexandra den 30 Jahre älteren Russen Nikolaj Nefedov kennen, den sie zum Entsetzen ihrer Familie heiratete. Aus der Ehe ging der Sohn Alexander hervor.

Von Plattenproduzent Fred Weyrich entdeckt
Alexandra wohnte u.a. in diesem Kieler Haus im Knooper Weg 163. Foto: Ulrike Gaate

Die ehrgeizige und durchsetzungsstarke, junge Frau strebte jedoch weder Heim noch Herd an, sondern sie wollte singen und Schauspielerin werden. Bei einer Veranstaltung ihres Chefs, des Verlegers Alfons Semrau, trat sie als Doris Nefedov mit selbst komponierten Liedern auf. Unter den Gästen war der Plattenproduzent Fred Weyrich, der von dem Ausdruck der russischen Seele in ihren Liedern so begeistert war, dass er sie gleich unter Vertrag nahm. Das war der Auftakt einer ebenso atemberaubenden wie kurzen Karriere. Alexandra wurde, wie es vielen Stars der 1960er Jahre ging, „vermarktet“. Sie hetzte von Termin zu Termin und hatte kaum noch Zeit für ihren Sohn. Dass sie beinahe auf einen Heiratsschwindler hereingefallen wäre, ließ sie misstrauisch gegenüber anderen Menschen werden.

Tragisches Ende
Gedenkstein für die Sängerin Alexandra an der Unfallstelle in Tellingstedt. Die Todeskreuzung gibt es nicht mehr. Nachdem es dort immer wieder zu schweren Unfällen kam, führt inzwischen eine Brücke über die B 203, im Hintergrund zu sehen. Foto: Ulrike Gaate

Sie spürte, dass sie dringend Urlaub benötigte. Die Fahrt mit dem eigenen, selbst gesteuerten Auto von München, wo sie zuletzt lebte, nach Sylt wurde ihr zum Verhängnis. Geblieben sind ihre zu Herzen gehenden melancholischen Lieder und Chansons, die Ende der 60er Jahre wie aus der Zeit gefallen schienen. Ein paar Jahre später wäre ihr als „Liedermacherin“ sicher weiterer Erfolg beschieden gewesen.

Autorin: Manuela Rosenthal-Kappi

„Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“

Guy Stern, Foto: privat

Meine Begegnungen mit einem Ritchie Boy extraordinaire
Guy Stern habe ich nur zweimal persönlich getroffen und beide Male mit seiner Frau Susanna. 2013 war es in Detroit und 2018 in Frankfurt/Main. Von ihm gehört hatte ich schon vorher. Mehr mit ihm zu tun bekam ich erst durch die Vorstandsarbeit des P. E. N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (früher Deutscher Exil-P. E. N.). Guy gehörte dem Vorstand schon längere Zeit an, als ich 2017 dazukam. Seit 2018 ist er unser Präsident.

Das Treffen in Frankfurt ergab sich, als er den Ovid-Preis, den er im Jahr zuvor erhalten hatte, an die neue Preisträgerin Herta Müller überreichte. In Detroit hatte ich mich selbst bei ihm eingeladen. Ich wollte ihn kennenlernen, und in Michigan habe ich seit 2012 ein Domizil. Wir verbrachten einen halben Tag zusammen, und aus dem Treffen sind mir zwei Dinge in besonderer Erinnerung geblieben.

Als er mich durch das Holocaust-Museum in Detroit führte, dessen Direktor er einst gewesen war, zog ein Exponat meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der „Hannoversche Bahnhof“ mit einem alten Eisenbahnwaggon, in dem man zur Nazizeit die Juden in die Vernichtungslager transportiert hatte. Von Hamburg aus, meiner Heimatstadt, die gerade einen neuen Stadtteil, die HafenCity, entwickelte. Hier lag der frühere „Hannoversche Bahnhof“. Alle Parteien in Hamburg wollten dort einen Gedenkort einrichten. Uns – ich war in jener Zeit Mitglied in der Deputation der Kulturbehörde – war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass es eine ähnliche Gedenkstätte bereits in Detroit gab. Nach meinem Treffen mit Guy informierte ich meine Kollegen und stellte auch den Kontakt zwischen den zuständigen Personen in Hamburg und Detroit her.

Guy Stern (r.) und Gino Leineweber, Foto: privat

Außerdem werde ich nicht vergessen, wie mich Guy mit einem spitzbübischen Lächeln fragte: „Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“ Ich wusste es nicht, war sehr erstaunt und erfuhr, dass es einen Film von 2004 mit dem Titel The Ritchie Boys gibt, in dem er mitgewirkt hatte. Er schenkte mir zum Abschied eine DVD davon, auf deren Cover neben anderen auch er als „Ritchie Boy“ abgebildet ist.

Der Titel trägt den Namen einer Einheit amerikanischer Soldaten im II. Weltkrieg, die im Camp Ritchie in Maryland ausgebildet wurden. Darunter viele deutsche Juden, die in die USA geflüchtet waren. Ihre Aufgabe war es, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur im Kampf gegen die Nazis zu nutzen, und sie wurden nach der Invasion als Geheimwaffe vor allem für Verhöre von Gefangenen an der Front und zur Spionageabwehr in Europa eingesetzt. Guy Stern war einer von ihnen.

Er war auch einer von drei „Ritchie Boys“, die in der bekannten CBS-Sendung „60 Minutes“ am 9. Mai 2021 zu Wort kamen und in der sie und ihre frühere Einheit für die Effektivität ihrer Arbeit gerühmt wurden: Sie hätten Leben gerettet und man müsse sie als Helden bezeichnen, hieß es.

Guy zu sehen und ihm zuzuhören ist immer eine Bereicherung, wie mir aus den Treffen und vielen Internet-Meetings vertraut ist. Bei CBS wirkte er trotz seiner 99 Jahre mit seiner freundlichen und offenen Art fast jugendlich. Die Sendung führte mich in einen Teil seiner Vergangenheit, der sehr bedeutend für ihn gewesen war. Und wieder sind es zwei Dinge, an die ich seither zurückdenke.

Seinen Eltern war aus finanziellen Gründen nur möglich, eine Person in die USA ausreisen zu lassen, und sie entschieden sich für den ältesten Sohn. Günther, wie er damals noch hieß. Er hat danach weder sie noch seine Geschwister und Großeltern je wiedergesehen. Seine Antwort auf die Frage, was er vom Abschied von seinen Eltern in Erinnerung behalten habe, hat mich gefühlsmäßig stark berührt. Sie bestand aus einem Wort: Taschentücher!

Guy Stern, Foto: Susanna Piontek

Vergessen werde ich auch nicht, was er dabei empfindet, als einziger der Familie überlebt zu haben. Dazu sagte er: „Wenn du gerettet wurdest, sagte ich mir, musst du zeigen, dass du dessen würdig bist. Und das war die treibende Kraft in meinem Berufsleben.“

Im Film The Ritchie Boys gibt es eine Szene, in der Guy mit seinem alten Kameraden Fred Howard im Fond eines Autos sitzt, auf dem Weg zum früheren Camp Ritchie. Während Guy schon glaubt, die Gegend zu erkennen, sagt Fred, das könne auch Texas sein. Sie kabbeln sich ein wenig, bis Fred sagt: „Imagine. You see already the Blue Mountains. –  Guy, you are the best.“

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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(Dieser Artikel erschien zuerst in „Von der Exilerfahrung zur Exilforschung: Zum Jahrhundertleben eines transatlantischen Brückenbauers. Festschrift zu Ehren von Guy Stern“ von Frederick A. Lubich (Herausgeber), Marlen Eckl (Herausgeber), 738 Seiten, Deutsch, Englisch, Französisch, 48 Euro, Verlag Königshausen u. Neumann, Januar 2022

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Die Königin Elizabeth II. ist tot, es lebe der neue König Charles III.

Besuch der Königin mit ihrem Mann Prinz Philip im Jahre 1965 in Salem.
Von rechts nach links: Friederike Prinzessin von Hannover, Marie Prinzessin von Hannover, Ernst August Prinz von Hannover, Prinz Philip, Kraft Fürst zu Hohenlohe-Langenburg, Königin Elizabeth II., Ludwig Prinz von Baden, Theodora Markgräfin von Baden (Philips Schwester) und Max Prinz von Baden. Foto: privat

Als Prinzessin Elizabeth am 21. April 1926 in London das Licht der Welt erblickte, konnten Ihre Eltern, Herzog Albert von York und Elizabeth Bowes-Lyon, nicht ahnen, dass Ihre Tochter einmal als Königin Elizabeth II. den britischen Thron für 70 Jahre besteigen sollte.

Der Herzog von York war als zweitgeborener Sohn von König George V.  nicht für die Thronfolge vorgesehen. Zunächst bestieg Alberts älterer Bruder als König Edward VIII. am 20. Januar 1936 den Thron in London. Er ging später als Herzog von Windsor in die Geschichte ein, denn seine Ehe mit der umstrittenen Wallis Simpson führte zu seiner Abdankung. Seine Regierung dauerte knapp ein Jahr, bis er seinem jüngeren  Bruder  Albert den Thron am 11. Dezember 1936 überließ. Dieser übernahm als König George VI. die britische Krone bis zu seinem Tod im Jahre 1952.

Elizabeths Krönung

Elizabeths Krönung wurde am 2. Juni 1953 glanzvoll begangen, die auch in Deutschland bei vielen Menschen unvergessen blieb. Das Ereignis wurde in Farbe gefilmt, aber in Schwarz-Weiß von der BBC im Fernsehen live übertragen. Millionen von Menschen verfolgten die Krönung am Fernseher. Das königliche Spektakel gehörte zu den ersten Liveübertragungen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Königin  Elizabeth II. und Prinz Philip besuchten Deutschland erstmals am 18. Mai 1965 für elf Tage. Auf dem Flughafen Köln-Bonn wurde die Königin mit 21 Salutschüssen begrüßt und das königliche Paar legte während seines Aufenthalts mehr als 3000 Kilometer zurück.  In der Bundesrepublik wollten hunderttausende Menschen die junge schöne Königin sehen. Der königliche Besuch stand zwanzig Jahre nach dem Krieg ganz im Zeichen der Versöhnung. Dieser Staatsbesuch der überaus populären Monarchin ließ alte Vorbehalte abbauen und neue Verbindungen festigen.

Abends am Schwarz-Weiß-Fernseher

Für mich persönlich blieb dieser königliche Besuch aus England unvergesslich. Als Vierjähriger durfte ich im Beisein meiner Geschwister ausnahmsweise abends am Schwarz-Weiß-Fernseher den Besuch des königlichen Paares verfolgen. Dabei erfuhr ich, dass die vielen Polizei-Motorräder, die die Limousine mit den königlichen Staatsgästen eskortierten, als „Weiße Mäuse“ bezeichnet wurden, ein Kuriosum, das mich noch heute belustigt.

Neben dem wohl bedeutendsten Besuch der Königin von 1965  folgten noch drei weitere 1992, 2004 und zuletzt 2015. Der Berlinbesuch von 1978 ist dabei nicht eingeschlossen, da unsere heutige Hauptstadt damals noch unter einer Vormachtstellung der Siegermächte stand und Berlin staatsrechtlich nicht zur Bundesrepublik gehörte. Alle Besuche aus England förderten langfristig die bilateralen Beziehungen und machten Elizabeth II. zu einer der populärsten Persönlichkeit für uns Deutsche.

Regierungszeit geprägt von Staatsbesuchen

Die 70-jährige Regierungszeit von Königin Elisabeth II. war vor allem geprägt von Staatsbesuchen. Die Königin fungierte als Gastgeberin, wenn ausländische Staatsoberhäupter offiziell Großbritannien besuchten. Daneben absolvierte sie mit ihrem Mann Prinz Philip unzählige offizielle Auslandsbesuche und trat selber als Staatsgast auf. Von ihren vielfältigen Verpflichtungen beim Commonwealth einmal abgesehen, stand die Monarchin auch britischen Organisationen und Verbänden vor, wo sie Ämter und Funktionen innehatte. Daneben musste die Monarchin täglich Staatsakten lesen und sich einmal wöchentlich mit dem Premierminister treffen, der sie über seine Regierungsarbeit unterrichtete. Die Königin hatte faktisch keine Macht. Ihre Aufgabe war es, Großbritannien in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu repräsentieren. Und diese Aufgabe absolvierte sie ihr ganzes Leben lang mit Bravour!

Bis heute hat noch kein weibliches Staatsoberhaupt länger als die britische Königin regiert. Aber die drei folgenden Monarchen regierten länger: König Sobhuza II. von Eswatini (heute Swasiland) ist mit einer Amtszeit von über 82 Jahren das am längsten amtierende Staatsoberhaupt der Geschichte; gerechnet ab der Unabhängigkeit von Großbritannien 1968 waren es knapp 14 Jahre. König Ludwig XIV., (1638-1715 ) war von 1643 bis zu seinem Tod 72 Jahre König von Frankreich und Navarra. Johann II. (1840-1929), genannt der Gute, war vom 12. November 1858 bis zu seinem Tod 71 Jahre Fürst von Liechtenstein.

Dagegen verpasste Bhumibol (1927- 2016) nur um wenige Monate die lange Regierungszeit von  Königin Elizabeth. Er war vom 9. Juni 1946 bis zu seinem Tod 70 Jahre und 127 Tage König von Thailand. Die britische Königin hingegen regierte Großbritannien 70 Jahre und 214 Tage.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

„Great Expectations“ by Charles Dickens. The New Premiere at The English Theatre of Hamburg

„What a beauty you are, Estella.“ Photo: Stefan Kock

As a child I was infatuated with the books by Charles Dickens.
I always gave my mother a hard time when she wanted me to go to sleep. “David Copperfield” was a particularly good read which I secretly enjoyed when mum had left my room after kissing me good night. Later when my brother borrowed me “Great Expectations”, Dickens’s thirteenth novel, I was first shaken with horror while reading Pip’s encounter with Magwitch on the graveyard in rural Kent. The convict who assailed Pip had just escaped from a ship bound for Australia, Britain’s gruesome penal colony. The book proved a real page turner which I did not close before having read the last line.

As to be expected, the British made a film of this wonderful novel in the mid-fortieth of the last century, featuring stars such as Alec Guiness und Jean Simmons. However, when it came to Hamburg under the title “Geheimnisvolle Erbschaft” (Mysterious Inheritance) I was denied access to the cinema. They told me that I was far too young for such murderous stuff. Years later when I saw this black and white movie I was absolutely thrilled by the performance of the late actors.

What a surprise when I heard that the English Theatre of Hamburg intended to adapt “Great Expectations” for the stage. A brilliant idea indeed. However, it was hard for me to imagine that anyone could make a play of this intricate story. Having attended the premiere, I agree that it is possible, provided an experienced stage director like Paul Glaser is in charge.

Want to know more about this stage experiment? Here we go.
„Come on, Pip, you may kiss my hand.“ Photo: Stefan Kock

Eight-year-old Philip, nicknamed Pip, is growing up in a poor family. Orphaned at an early age, he is at the mercy of his quarrelsome older sister who is married to the good-natured blacksmith Joe Gargery. Joe loves the boy and makes up with his tenderness for Mrs. Joe’s tyranny. While visiting his family’s graves on the churchyard one day before Christmas, Pit encounters a convict named Magwitch who urges him to bring him food and a file. Otherwise he would kill the boy. In spite of Pip’s help, Magwitch and Compeyson, his partner in crime and a supposed gentleman who is now his embittered enemy, are soon caught by the police.

An invitation

One day Pip is requested to see Miss Havisham at Satis House. Many years ago that lady became gaga when jilted by her fiancé on her wedding day. Now she lives in her run-down residence with her adopted daughter Estella, still wearing her wedding dress. The old spinster never forgot what her former lover had done to her. Now she is seeking revenge by teaching Estella to torment men with her beauty. While Pip is beguiled by her and instantaneously falls in love with Estella, she treats him with utmost coldness making him feel that he, the poor boy from the smithy, does not belong to her class.

From rags to riches
„Look, my dear boy, all this is mine.“ Photo: Stefan Kock

Several years later a lawyer named Jaggers arrives from London and informs Pip that a person who wants to stay anonymous has left him a nice sum of money. Pip is sure that Miss Havisham is his benefactor who does not dissuade him of his notion. Once in London, Pip is taught to be a gentleman by Mr. Pocket and his son Herbert.
The wealth does not do any good to Pip. He becomes an intolerable snob who is ashamed of his humble birth and looks down on his stepfather Joe who cared for him so tenderly when he was a child.

Shocking news

When Magwitch comes illegally to England confessing that he let Pip the money to thank him for his help years ago, he is caught again by the police while he is trying with the aid of Pip and Herbert to flee on a boat to the Continent. During his flight he gets injured and dies in jail. Shortly before his death Pip informs Magwitch that he is Estella’s father, her mother being Mr. Jaggers’ housekeeper. Following Estella’s birth Jaggers arranged the infant’s adoption by the childless Miss Havishaw. At the same time another secret is unveiled: It was Compeyson who once jilted Miss Havishaw before leaving England for good.

Easy come, easy go

After the death of Magwitch Pip is penniless. He and his friend Herbert had been living beyond their means for many years. As a result of their extravagance they are now completely broke. They decide to go abroad and try their luck elsewhere.

Satis House on fire
„You are making me cry, Estella.“ Photo: Stefan Kock

Pip pays a last visit to Satis House. He learns that Estella, now widowed, was unhappily married to the reckless Bentley Drummle whom Pip once met in London and utterly disliked from the very first moment. Miss Havinshaw expresses her deep regret for having talked Estella into the marriage with that awful man. While talking she comes too near to the fire-place in her living-room so that her dress catches fire. A shocking scene with a blazing fire on the stage. Miss Havinshaw dies a few days later.
When Pip meets Estella after all these years he finds her softer and friendlier than in the past. They shake hands and separate without any hard feelings. Curtain.

Charles Dickens and his Work
„No use, Pip, trying to hide under the table.“ Photo: Stefan Kock

No doubt, Pip was Dickens’s alter ego. Like his hero he grew up in poverty and had to leave school at the age of twelve. His heavily indebted father was being incarcerated for years, and his family paid him regular visits in jail. Unlike Pip Charles was not so lucky to inherit a fortune. He had to work his way up without any help from others. He was what we nowadays call a self-made man. When he was given the chance to work as a journalist he developed his literary gift. Later he became one of Britain’s most famous authors writing one novel after the other. Just think of literary blockbusters such as “Oliver Twist”, “David Copperfield”, “A Christmas Carol in Prose” and “A Tale of two Cities.” In spite of Dickens’s 19th century language, his books are still extremely good reads. The characters are vivid and the settings well written. Just have a look at the nightly scene on the graveyard that makes your blood freeze… Since his work appeared as serialized novels in magazines, a good many people, also from the less privileged classes, were given access to the world of literature. Dickens was a notorious moralist who never got tired of criticizing the false morals of the Victorian society. The great writer of immortal books died at the age of 58. You will find his grave in Poet’s Corner at Westminster Abbey along with other literary geniuses.

The staff
„Don’t worry, you are safe on the boat.“ Photo: Stefan Kock

Seven “multitasking” thespians are at work. Each of them – except Pit (Theo Watt)- are to be seen in several roles. While Michelle Todd plays Miss Havisham, Hubble and Mr. Wemmick – altogether three parts – respect! Jonny Magnanti playing Joe Gargery slips in no time from a worker’s clothes into Magwitche’s rags. Dominic Charman is as convincing in the part of bitchy Mrs. Joe as in the role of the posh Herbert Pocket. What’s more, all of them also move the sparse furniture on the stage when the scene demands a couple of chairs or a sofa. During the works an unseen narrator ( Gordon Griffin) keeps the audience on track about the progress of the events. A brilliant idea.
Ten points out of ten for all those involved in this fantastic performance. Thank you all very much for the inspiring evening.

Final performance of “Great Expectations” on October 29, 2022.
Tickets under phone number: 040-227 70 89 or online under: www.englishtheatre.de

Next premiere: “Romance in D,” comedy by James Sherman, on November 10, 2022

„Great Expectations“ (Große Erwartungen) von Charles Dickens. Die neue Premiere am English Theatre of Hamburg

„Wie schön Du bist, Estella.“ Foto: Stefan Kock

Ein literarischer Blockbuster als Theaterstück!
Ist es überhaupt möglich, diesen komplexen Stoff für die Bühne einzurichten? Die Antwort lautet ja, vorausgesetzt ein genialischer Regisseur wie Paul Glaser nimmt sich dieser Herausforderung an. Aber davon später mehr.

Reminiszenzen

Dieser Wälzer aus der Feder von Charles Dickens wurde mit Starbesetzung – u. a. Alec Guinness und Jean Simmons – in England verfilmt und kam Ende der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Titel „Geheimnisvolle Erbschaft“ in die deutschen Kinos. Zu meinem Leidwesen war ich noch zu jung für den Thriller. Mir wurde der Zutritt in den „Kintopp“, wie man damals sagte, verwehrt. Doch mein älterer Bruder genoss das Privileg, diesen großartigen Film sehen zu dürfen. Er schlich sich abends heimlich in mein Zimmer und erzählte mir die spannende Geschichte vom Waisen Pip und seinem Wohltäter. Von der gruseligen Szene auf dem Friedhof bekam ich Albträume.

Das wundersame Abenteuer des kleinen Pip

Der achtjährige Waisenknabe Pip, Taufname Philip, wächst bei seiner herrschsüchtigen Schwester, einer wahren Megäre, und ihrem Ehemann, dem gutherzigen Schmied Joe Gargery, in ärmlichen Verhältnissen auf. Als er kurz vor Heiligabend das Grab seiner Eltern auf dem Dorffriedhof besucht, wird er von einem Mann mit einer eisernen Fußfessel überfallen, der von ihm Essen und eine Feile verlangt. Andernfalls würde er Pip die Kehle durchschneiden. Der Junge bringt dem gerade von einem Sträflingsschiff entflohenen Verbrecher Magwitch das Gewünschte und vergisst nicht, auch noch eine Flasche Brandy „mitgehen“ zu lassen. Trotz aller Vorsicht wird der Sträfling von der örtlichen Polizei gefasst und auf ein Schiff verbracht, das am kommenden Tag nach Australien, die einstige britische Strafkolonie, auslaufen soll.

„Pip, Du darfst meine Hand küssen.“ Foto: Stefan Kock

Große Ehre wird Pip zuteil, als er ins Satis House eingeladen wird, das der seltsamen Miss Havisham gehört. Diese wurde vor vielen Jahren von ihrem Bräutigam am Tag ihrer Trauung sitzen gelassen. Seitdem trägt sie noch immer Brautkleid und Schleier und hegt eine krankhafte Abneigung gegen alle Männer. Zu ihrem Haushalt gehört ihr Mündel, die schöne Estella, der Pip als Spielkamerad dienen soll. Obwohl das junge Mädchen sich Pip gegenüber herablassend benimmt und ihn jeden Augenblick spüren lässt, dass er nicht ihrer gesellschaftlichen Klasse angehört, verliebt der Junge sich unsterblich in sie.

Pip, der Glückspilz

Vier Jahre vergehen, in denen Pip Joe in der Schmiede zur Hand geht. Da geschieht ein Wunder. Ein aus der Hauptstadt London angereister Anwalt namens Jagger informiert Pip, dass ihm ein großes Erbe vermacht wurde. Vorab erhält er schon einmal 500 Pfund, einen Betrag, der zu jener Zeit ein Vermögen darstellte. Für die Zukunft wird ihm eine beträchtliche jährlich auszuzahlende Summe in Aussicht gestellt. Der Anwalt betont, dass Pips Wohltäter auf jeden Fall anonym bleiben wolle. Zudem bestehe er darauf, dass Pip sich von einem Tutor zum Gentleman erziehen lasse. Nichts leichter als das. Pip stimmt zu und begibt sich in die professionellen Hände von Mathew Pocket, mit dessen Sohn Herbert er spontan Freundschaft schließt.

Leben wie ein Gentleman

Obgleich Pip von seinem Anwalt geraten wird, vorsichtig mit seinem Vermögen umzugehen, lockt London mit allzu vielen Versuchungen, denen der Gentleman in spe nicht widerstehen kann. Schnell lebt er über seine Verhältnisse. Freund Herbert teilt seinen aufwendigen Lebensstil und gerät ebenfalls in finanzielle Turbulenzen.

Ein Geheimnis wird enthüllt
„Sieh nur mein Junge, all dies gehört mir.“ Foto: Stefan Kock

Eines Tages erscheint der Sträfling Magwitch überraschend in Pips Londoner Residenz. Er hält sich illegal in der Stadt auf und fürchtet, von der Polizei festgenommen zu werden. Pip erfährt zu seinem
Erstaunen, dass nicht, wie angenommen, Miss Havisham seine Wohltäterin ist, sondern er Magwitch seinen Reichtum verdankt. Dieser hatte in Australien viel Geld verdient und fühlte sich Pip für dessen seinerzeitige Hilfe zu Dank verpflichtet. Ferner stellt sich heraus, dass ein Verbrecher namens Compeyson, der ehemalige Komplize von Magwitch, jener Mann ist, der die verwirrte Herrin von Satis House einst sitzen ließ. Da Compeyson Magwitch bedroht, beschließen Pit und sein Freund Herbert, Magwitch auf dem schnellsten Wege zur Flucht aus England zu verhelfen, bevor die Polizei ihm auf die Spur kommen kann. Doch der Versuch misslingt und Magwitch wird verhaftet. Von Stund‘ an versiegt Pips Geldquelle. Er steht plötzlich mit leeren Händen da. Regelmäßig besucht er den bei seinem Fluchtversuch schwer verletzten Magwitch im Gefängnis. Von seinem ehemaligen Tutor erfährt Pip, dass Magwitch Estellas Vater ist. Diese ging aus einer kurzen Beziehung zwischen Magwitch und Mr. Jaggers‘ Haushälterin hervor. Der Dienstherr sorgte dafür, dass Miss Havinsham Estella adoptierte. Kurz vor seinem Tod erfährt Magwitch noch durch Pip von der Existenz seiner Tochter Estella.

Schicksalsschläge
„Estella, Du bringst mich zum Weinen.“ Foto: Stefan Kock

Aber nicht nur finanzielle Sorgen plagen Pip. Zu seinem Entsetzen erfährt er, dass Estella in der Zwischenzeit den brutalen Bentley Drummle heiratete. Diesen rücksichtslosen Kerl hatte Pip während der gemeinsamen Tutorials bei Mr. Pocket kennengelernt. Pip kann es nicht verwinden, dass Estella Drummle erhörte und ihn verschmähte. Miss Havisham geht sein Kummer sehr nahe. Sie gesteht, dass es ihr sehr leidtue, Estella zu dieser Ehe geraten zu haben. Sie kommt bei ihrer Beichte dem Kamin im Salon so nahe, dass ihr Brautkleid Feuer fängt. Die schweren Verbrennungen raffen sie wenig später dahin. Steckt hinter ihrem schrecklichen Ende vielleicht eine heimliche Botschaft Dickens‘, die besagt, dass Hochmut stets vor dem Fall kommt?

Freunde in der Not

Die dramatischen Ereignisse sind nicht spurlos an Pip vorüber gegangen. Als er ernsthaft erkrankt, eilt der treue Joe nach London und pflegt ihn gesund. Während seiner Rekonvaleszenz erkennt Pip, dass er Joe mit seinem Snobismus tief gekränkt hat. Der Schmied, ist zwar ein einfacher Mann, hat aber das Herz am rechten Fleck und ist stets zur Stelle, wenn er gebraucht wird. Auch die einst so hochmütige Estella musste unter Schmerzen ihre Lektion lernen und feststellen, dass Reichtum und gesellschaftlicher Status nur Fassade und vergänglich sind. Die wahren Werte, die das Leben ausmachen, sind Liebe und Güte gegenüber den Mitmenschen.

„Es hat keinen Zweck, Pip, Dich unter dem Tisch zu verstecken.“ Foto: Stefan Kock

Die Ehe mit ihrem brutalen Mann hat die junge Frau gezeichnet. Als Pip sie in Satis House besucht, das sie von der verblichenen Miss Havisham geerbt hat, findet er sie sanfter und freundlicher vor als seinerzeit. Sie bedauert, Pip früher so herablassend behandelt zu haben und bittet ihn um Vergebung. Beide scheiden als Freunde.
Soweit die Wiedergabe des von zahlreichen Brüchen gezeichneten Lebensweges, den Pit zurücklegen muss, bevor das verschüchterte Kind zum reifen Mann wird. Elegant hat Regisseur Paul Glaser sämtliche Handlungsstränge miteinander verwoben und aus der Romanvorlage ein spannendes Melodram gezaubert, welches Charles Dickens sicherlich gefallen hätte.

Es ist offenkundig, dass sich hinter der Figur des Pip das alter ego des berühmten britischen Autors verbirgt. Denn auch er stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Als Heranwachsender wurde er genau wie Pip von boshaften Menschen herumgestoßen und gedemütigt. Wir können davon ausgehen, dass es für die zänkische Mrs. Joe, den pompösen Mr. Pumblechook, die hochmütige Estella und das übrige Romanpersonal entsprechende Vorbilder in seinem Leben gab.
Als Jugendlicher machte Dickens leidvolle Erfahrungen mit Gefängnissen. Sein hoch verschuldeter Vater saß mehrmals ein und wurde im Knast regelmäßig von seiner Familie besucht. Dass Dickens sich aus eigener Kraft im sittenstrengen viktorianischen England aus der Misere herausarbeitete, war allein sein Verdienst. Anders als Pip beglückte ihn kein Wohltäter mit einer heimlichen Erbschaft. Dickens war ein notorischer Moralist, eingezwängt in ein dem damaligen Zeitgeist geschuldetes starres Korsett aus Prüderie und Bigotterie. Daher verwundert es nicht, dass er seinen Helden nach einer langen, aus seiner Sicht unverdienten Glücksphase tief abstürzen lässt. Hochmut und Verachtung gegen den herzensguten Ziehvater Joe sowie seine Verwandlung in einen gefühllosen Snob auf Kosten eines kriminellen Wohltäters sind charakterliche Defizite, die bestraft werden müssen. Doch Ende gut, alles gut: Am Schluss erleben wir einen geläuterten Pip, der, nachdem ihn der alles verzeihende Joe wieder aufgepäppelt hat, sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt.

„Keine Sorge, Du bist sicher auf diesem Boot.“ Foto: Stefan Kock

In „Great Expectations“ agieren sieben Schauspieler auf der Bühne, von denen jeder bis auf Pip (Theo Watt) gleich mehrere Rollen übernimmt. Da mutiert Miss Havishaw (MichelleTodd), die gerade noch ziellos im Brautkleid herumirrte, zum gestrengen Londoner Anwaltsgehilfen Mr. Wemmick mit Brille und Schnurrbart. Aus der zänkischen dürren Mrs. Joe (Dominic Charman) wird der Dandy Herbert Pocket mit dem leicht näselnden Akzent der britischen Upper Classes. Und Joe, der liebenswürdige Schmied und Ziehvater von Pip, (Jonny Magnanti) schlüpft nahtlos in die Rolle des bedrohlichen Sträflings Magwitch. Die übrigen Rollen sind ebenfalls glänzend besetzt. Doch damit nicht genug. Die Mimen dienen zudem als Kulissen- und Möbelschieber, wenn die Bühne für die nächste Szene umgebaut werden muss. Nennt man das nicht auf Neudeutsch Multitasking? Großes Lob auch dem Erzähler (Gordon Griffin), der während der Umbauten dem Publikum den Fortgang der Handlung aus dem Off nahebringt. Ein glänzender Einfall der Regie.

Während der erste Teil des Stücks nach der gruseligen Szene auf dem Friedhof eher ruhig und gemächlich dahinplätschert, spielen sich nach der Pause hochdramatische Szenen ab. Es blitzt und donnert über der Themse, auf der sich ein Fluchtboot vorsichtig durch die Nacht bewegt. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt, als Miss Havisham samt Brautkleid in Flammen aufgeht, als sie ihrem Kamin zu nahekommt. Zuschauer mit schwachen Nerven seien gewarnt!
Bleibt nur noch zu sagen: Ein wunderbarer inspirierender Theaterabend. Chapeau!

„Great Expectations“ läuft bis einschließlich 29. Oktober 2022.
Tickets unter: 040-227 70 89 oder online unter: www.englishtheatre.de

Nächste Premiere: „Romance in D“
Komödie von James Sherman, am 10. November 2022

Große Jubiläumsausstellung mit 72 Werken

(c) Barbara Nelle

Das Berenberg-Gossler-Haus feiert sein 25-jähriges Bestehen mit einer großen Gemeinschaftsausstellung. Künstler und Künstlerinnen aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Berlin und Dänemark zeigen ihre Arbeiten.

 

Freiherr John von Berenberg-Gossler war als Stifter des Gebäudes auch Namensgeber des Bürgerhauses Niendorf. Von Anfang an war das schöne, denkmalgeschützte Haus mit dem gemütlichen Ambiente ein Ort der Kunst und Kultur, und in dieser Tradition wird es seit 1997 geführt. So startete im Jahr 2002 die Reihe „TonArt“ zur Förderung der Stadtteilkultur auch auf dem Gebiet der klassischen Musik in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater, gepaart mit der Förderung junger aufstrebender Künstler. Am 14.10.22 wird das 70. Konzert der Reihe – ein Liederabend mit Seungwoo Simon Yang – erklingen.

(c) Hanna Malzahn

Ebenfalls traditionell sind die Kunstausstellungen im Berenberg-Gossler-Haus, die seit 2018 von der Künstlerin Hanna Malzahn kuratiert werden. Für die aktuelle Jubiläumsausstellung hat sie 72 Arbeiten von Künstlern ausgewählt, die in den vergangenen 25 Jahren bereits Ausstellungen im Haus gezeigt haben. So ist eine vielfältige und breite Auswahl entstanden, wie die Kuratorin sagt: „Zweiundsiebzig Handschriften, Botschaften, Stile und Positionen finden sich zu einer großen Retrospektive von 1997 bis 2022 zusammen.“

(c) Peter Bangert

Im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit sehen die Besucher Arbeiten in Öl, Ei-Tempera, Gouache, Aquarell und Tusche. Die verschiedenen Interpretationen zeigen eine enorme Vielfalt und Virtuosität in Form von Stillleben, Landschaften, Porträts, experimentellen und digitalen Arbeiten sowie eine beeindruckende Bandbreite der Zeichnungen, Radierungen und Werke der Fotokünstler. Zu dieser Ausstellung „25 Jahre Kunst im Berenberg-Gossler-Haus“ ist ein Katalog erschienen.

Zu sehen ist jedoch nicht, wie groß das Engagement des ehrenamtlichen Teams hinter den Kulissen ist. So helfen Hanna Malzahn und ihre Kollegen beim Hängen, Rahmen oder bei der Anbringung stabiler Halterungen an Leinwände. Hinter den Kulissen führen der Vorsitzende Reno Malzahn und das Team des Bürgerhauses immerhin einen aus annähernd 600 Mitgliedern bestehenden Verein, und das mit Bravour. Neben Ausstellungen und Konzerten erwartet die Gäste auch ein vielseitiges Kursprogramm. Als Gast bei der Vernissage kommt man sich vor wie ein Teil einer großen Familie, in die man fröhlich aufgenommen wird. Wenn Fachkompetenz, Engagement und Zugewandtheit so zusammenkommen wie im Berenberg-Gossler-Haus, braucht man sich um das Gelingen künftiger Projekte nicht zu sorgen.