„“Der Tod kommt zweimal“ – Teil 2

Wie Brian De Palma die Hyperrealität vorwegnahm

Von der Epistemologie zur Ontologie

Wie der Kulturtheoretiker Brian McHale feststellt, bewegen wir uns in der Postmoderne weg von der Epistemologie hin zur Ontologie, in einem gesellschaftlichen Umschwung weg von ´Wie kann ich die Welt verstehen und was bin ich in ihr?´ hin zu ´In welcher Welt von mehreren möglichen bin ich, was ist in ihr zu tun, und welche meiner Identitäten könnte die Aufgabe übernehmen?´ (McHale 1992). Nach dieser Lesart geht die gesellschaftliche Bewegung nicht etwa hin zum Weltverstehen, sondern zum Wie-sich-in-Welten-verhalten; nahezu eine Notwendigkeit in postmodernen Massengesellschaften. Dort liegen die Themen Identität und Authentizität bereit, denen wir täglich begegnen, und zwar als personale Problematiken im historischen Kontext. Somit gilt es einerseits, Subjekt- von Sozialisationstheorie abzugrenzen, die nicht deckungsgleich sind (vgl. Egloff 2020), und gleichwohl die historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einzubeziehen: so antworten Formationen heutiger psychischer Störungen gewissermaßen auf ihre eigene historische Entwicklung. Die Anorexie wäre z.B. in diesem Sinne eine Übertreibung der Moderne, die Bulimie hingegen eine elegant erscheinende Form, ein sozio-kulturelles Ideal der Postmoderne nach außen zu tragen. Der Machbarkeitsmythos der Moderne geht in der Postmoderne mit vermehrter Zurschaustellung des Selbst einher; der Medieneinfluss ist hier offensichtlich, wenn auch mindestens in der Gewichtung unterschiedlich zu konzeptualisieren (Egloff  2023a; Toman 2023) – in Abrede wird er kaum gestellt. Das gesellschaftliche Zeichengefüge selbst ist also als Symptombildung befördernd zu verstehen, was mit der ´Befreiung der Zeichen´ (Baudrillard 1982, vgl. Egloff 2023b) zusammenhängt. Im gegenwärtigen Zeitalter der Simulation, in der das ´Strukturgesetz´ des Werts vorherrscht, das dem Zeichen seine gesellschaftliche Bedeutung ausgehend von seinem eigenen Modell her, von dessen Code her, verleiht, ist dessen Wert nämlich in genau jenes Zeichensystem, das er selbst hervorbringt, strukturell eingebunden.

Simulation und Hyperrealität stellen zwei Seiten derselben Medaille dar: in der postmodernen Gesellschaft gibt es keine Differenzierung mehr zwischen dem Zeichen im Sinne des Imaginären und des Symbolischen und damit nichts Illusorisches, kein ´Irrealis´, ähnlich dem, was Jean Baudrillard für die animistischen Gesellschaften als der Abwesenheit eines Realitätsprinzips geschuldet konzipierte. Sei es damals eben die Natur gewesen, in der jedes Zeichen aufgegangen sei, sodass die Natur selbst Teil aller Zeichen und umgekehrt alle Zeichen Teil der Natur waren (Baudrillard 1982), so lässt sich in der Postmoderne eine ähnliche Bewegung hin zur Einebnung von Oberfläche und Bedeutung konstatieren.

Warum, wozu und für wen man etwas tut, kann damit kaum mehr beantwortet werden, was Unbehagen und gesellschaftliche Verunsicherung schafft. Die Psychoanalytikerinnen Sinclair und Steinkoler (2019) sprechen vom „existential disarray“, einer existentiellen Unordnung, deren klinische Bezüge unlängst auch Brähler und Herzog (2018) für die Psychosomatik thematisiert haben. Ein untergründiger, doch hoher Angstpegel dürfte mit dieser Unordnung einhergehen, die aus der Unverbindlichkeit der Inflation gesellschaftlicher Zeichen hervorgeht. So bemerkte auch Baudrillard schon früh, dass Medien zu einem „Identifikationsrausch“ einladen (Baudrillard 1982), in dem ein jeder und jede austauschbar zu werden droht – so wie die medialen Modelle selbst, an denen man sich ausrichtet.

Die mediale Wendung

Die mediale Wendung geht aus der medialen Spiegelung vom Distalen (Gesehenen) zum Proximalen (Sehen) (vgl. Fuchs 2011) hervor, geschuldet der massenhaften Klonierung von Bildern und damit der unendlichen Multiplikation von Zeichen. Es scheinen dann die Körper selbst zu sein, die in Form von Symptomatik oder Gewalt die gesellschaftlichen Oberflächen durchbrechen und sich Gehör zu verschaffen suchen. So zeigt sich gewissermaßen der Kern der postmodernen Störung dann, wenn, wie z.B. in der Bulimie, die „Theory of Mind“-Fähigkeiten (was bedeutet, eigene und fremde Emotionen und Handlungen verstehen und ein Stückweit voraussagen zu können; vgl. Kirsch / Brockmann / Taubner 2016) in der Regel gut funktionieren, aber keineswegs Symptomfreiheit herrscht – auch andere Befunde zu sozialer Kognition zeigen dies (vgl. Egloff 2023b). Dass das Problem der postmodernen Störung somit ein Symbolisierungsproblem ist, dürfte mit dem fundamentalen Mangel an Verortung in den medial geprägten Strukturen zu tun haben, in denen lediglich verstreute Referenzpunkte psychisch wirken. Der jeweils gültige ´kulturelle Code´ (Barthes 1970) ist aber medial von Kultur zu Kultur höchst unterschiedlich (Egloff 2023c); der Verlust von persönlicher Geschichtlichkeit geht zumindest in der westlichen Welt mit emotionalem Tiefenverlust zugunsten von rascher, aber flacher Erregung einher. In der ahistorischen, medialen Gesellschaft kann Tiefe auch nur begrenzt erwünscht sein. Daher auch der weithin beklagte Verlust von Urteilskraft bezüglich der heutigen (Bild-)Medienflut; ironischerweise liegt ein Großteil von Problematiken wohl darin selbst verborgen.

Vom Kind zum Doppelgänger

Es gibt den Topos, dass mit dem Verschwinden der Kindheit, wie es Neil Postman (1996) im Rahmen der Übernahme durch das Medienzeitalter formuliert hat, eine nie dagewesene Angleichung der Kindheit an das Erwachsenenleben stattgefunden hat. Es lässt sich sagen, dass, zunächst in den USA und mit Verspätung in West-Europa, das Abbild des Kindes dabei nahezu wichtiger wurde als das Kind selbst. Gewiss gibt es auch eine gegenläufige Entwicklung: hin zum Kind mit einer intensiven Art von Beelterung. Hierbei handelt es sich aber nicht selten um Einzelkinder in  Wohlstandsfamilien – also eine durchaus selektive Population. Der Psychohistoriker Dervin spricht gar vom Verschwinden von Kindern in der westlichen Welt (Dervin 2016), z.B. aus dem Straßenbild. Freies Spielen auf der Straße ist auch in deutschen Städten kaum noch zu beobachten; die Abschottung von ganzen städtischen Milieus bezeugt eine Entwicklung, die durchaus als Segregation bezeichnet werden kann.

Wer die These vom Verschwinden der Kindheit für überzogen hält, sei beispielhaft hingewiesen auf die derzeitig umkämpfte Deutungshoheit über Mutterschaft und Reproduktion (vgl. Fellmann / Walsh / Egloff 2020). Der Psychohistoriker Laurence Rickels bringt diese in direkten Zusammenhang mit dem Anbruch des Bildmedienzeitalters, in der die „media extensions of the senses” nichts weniger als Ersatz für die verschwindende Kindheit dienen müssen (Rickels 2011); zudem korreliert er gar das Verschwinden der Kindheit mit dem Auftauchen der berüchtigten Abbildungen verschwundener Kinder auf US-amerikanischen Milchkartons; musikalisch haben Bands wie Missing Persons oder INXS diese Thematik schon früh in den 1980er Jahren aufgegriffen – ein fester Topos, auch der kalifornischen Kulturindustrie.

Robert Sapolsky, der in einem Aufsatz rät, um Facebook und ähnliches verstehen zu können, das Capgras-Syndrom zu verstehen (Sapolsky 2016), verweist auf die neuropsychologischen Zusammenhänge zwischen sozialen Medien und dem Phantasma, dass echte Bezugspersonen verschwinden und durch Doppelgänger ersetzt werden. Das Capgras-Syndrom als eine Art Doppelgänger-Ersatz-Syndrom echter Personen könnte somit zum Paradigma des Medienzeitalters werden. Dieser Blickwinkel rückt auch das Verschwinden der Kindheit in ein neues, erweiterndes Licht.

Interdisziplinäre Perspektiven

Donna Tartts Roman The Secret History von 1992, der bei Jugendlichen im westlichen Kulturraum während der Covid-19-Pandemie ein echtes Revival erfuhr, zeigt eine mit reichlich Referenzen an die griechische Tragödie aufwartende Ausweglosigkeit, wobei die ´geheime Geschichte´ hinter der Wirklichkeit gewiss fassbarer ist als unsichtbar wirkende Strukturen. Entscheidend ist auch hier die gesellschaftliche Verfasstheit mit ihren ´Reststrukturen´ und mit ihnen dem verdeckten Affekt, der in Depersonalisations-Phänomenen erscheint und etwas Überwertiges, ja Wahnhaftes erkennen lässt (vgl. Bürgy 2017). Und auch der (psycho-)geographische Raum, in dem Makro-Phänomene auf die Mikro-Ebene einwirken, wird hier relevant: Äußeres wird dabei zu Innerem, Inneres zu Äußerem in Form von Strukturen, die dann wiederum rückwirken. Rickels formuliert ganz ähnlich eine Psychohistorie der westlichen kulturellen Entwicklung anhand des geographischen Spannungsfelds Osten-Westen, konkret NS-Deutschlands zu Kalifornien (Rickels 2001; vgl. D´Alessandro 2012), anhand dessen sich interessante Entwicklungslinien nachzeichnen lassen. Hierzu gehört auch der Großraum Los Angeles als epitome der gesellschaftlichen Postmoderne, deren berüchtigter Eskapismus (vgl. Donnelly 2018) Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war und ist. In Verbindung damit steht auch die postmodern segmentierte, wenn nicht segregierte Stadt, wie sie z.B. Mercedes Lambert in ihrem Roman Dogtown, einer crime fiction novel vorwegnimmt (Lambert 1992), als auf Themen hinweisend, die heute neu und noch ungelöst erscheinen, aber bereits Jahrzehnte alt sind – und ungelöst. So imponiert in ihrem Roman eine schwer gefürchtete Einwanderungsbehörde, genannt La Migra, die einer im Grunde prekär existierenden Population zusetzt, wichtiger aber noch: die auf Migration als kostengünstigen und lohndrückenden Wirtschaftsfaktor hinweist (Möllers 1999, S. 432). Ebenso imponieren berüchtigte no-go-areas, z.B. die Gegend um Pico Union, oder der Vergleich der Achse LaBrea Avenue Nord zu Süd, optisch bekannt aus unzähligen Hollywoodfilmen.

Reale Realität

Und so bewegen wir uns in Der Tod kommt zweimal ironischerweise noch in der ´realen´ Realität. De Palmas Verdienst ist es, neben den traditionalen Thematiken die Vorwegnahme, den Hinweis auf den Einbruch zukünftiger medialer Scheinwelten in Alltag und ´Normalität´ vorzunehmen. Denn das, was Baudrillard das fraktale Subjekt nennt, wird sich unter dem Regime des (Bild-)Mediums in jedem seiner Einzelteile wiederfinden. Insofern dürfte das alter ego von Jake, in Form von Sam, im Film auf die Fragmentierung von Persönlichkeitsanteilen hinweisen, die unter dem Regime des (Bild-)Mediums zukünftig eher proklamiert als zurückgenommen werden, also desintegriert bleiben. Wenn die Entwicklung des Menschen mehr und mehr der medialen Sphäre anheim fällt, besteht im Subjekt die Gefahr einer „Zersplitterung ins Identische“ (Baudrillard 1990), indem es in all seinen Facetten seinem Nachbarn, seiner Nachbarin gleichen wird. „Individuen mit variabler Geometrie“ (Baudrillard 1982) warten dann lediglich mit Minimaldifferenzen auf. Eine ausschließlich interne Differenzierung des Subjekts steht dann der Differenzierung der Subjekte untereinander entgegen, und in der Binnendifferenzierung transzendiert das werdende Subjekt nicht etwa in ein Ganzes, sondern in Einzelanteile von Persönlichkeit. Dass dabei keine ´echte´ Persönlichkeit entstehen kann, ist offensichtlich: dies kann die Bilderwelt nicht leisten.

Entscheidend in De Palmas Film ist zudem, dass nicht nur Sam, sondern alle im Film handelnden Personen im weitesten Sinne noch Agenten ihrer Leben sind und diese von den medialen Strukturen nicht vollends übernommen wurden. Die zunehmende Ununterscheidbarkeit der ´virtuellen´ gegenüber der ´realen´ Welt als Kennzeichen der in der Postmoderne wirkenden medialen Strukturen wird die Subjekte dagegen immer mehr in den Hintergrund treten lassen, sie als handelnde Akteure immer weniger wirkmächtig werden lassen.

Das Body Double und der Aufstand der Körper

Eine letzte Szene sowie der Abspann des Films weisen nochmals auf die second reality hin; die des Filmgeschäfts einerseits, aber auch die der hyperrealen Zeichenwelt generell, der ´virtual reality´, in der doppelt oder mehrfach ´gesendet´ wird. Hier rückt der weibliche Körper dann noch einmal ins Blickfeld, und zwar nicht als realer, wirklich malträtierter Körper wie jener des Mordopfers, sondern in Form einer filmischen Platzhalterin, eines stand-in, das als body double nur scheinbar malträtiert wird. Unverhohlen gibt nämlich die junge Frau, die als Körperdouble am Filmset fungiert, ihrem männlichen Mitspieler zu verstehen, dass sie real ist: ihre Brüste seien sehr empfindlich und außerdem habe sie ihre Tage – nur dass er Bescheid weiß… So kann ausgerechnet das body double in Form der Paradoxie einer ´echten Kopie´ hinweisen auf die Hoffnung auf den Aufstand der Körper gegen die mediale Zeicheninflation und damit gegen den Verlust des Symbolischen.

Für einen Aufstand der Körper, einen Aufstand in Richtung einer ´Leiblichkeit´ müssten allerdings Trieb und Begehren zur Verfügung stehen; Baudrillard würde vielleicht sagen: Verführung müsste zur Verfügung stehen, dem Medialen entzogen. Mit Verführung wäre auch ´das Weibliche´ gemeint. Doch um Weiblichkeit scheint es gesellschaftlich nicht gut zu stehen in einer Zeit, in der, wie Claudia von Werlhof – sich auf Hannah Arendt beziehend – feststellt, die conditio humana der Natalität aufgegeben zu werden droht: „Der ´neue Mensch´ wird als ein nabelloser, ein gemachter, vorgestellt, als ´künstliche Intelligenz´ und Menschmaschine / Maschinenmensch“ (von Werlhof 2019, S. 230).

Neben dem Körperdouble am Filmset als ´echte Kopie´ ist ausgerechnet Sexfilm-Darstellerin Holly diejenige, die den sexuellen Akt selbst im medialen Geschäft in seinen, sagen wir, anthropologisch-biologischen Vollzügen bevorzugt, nicht so sehr in seinen medialen. Gerade sie, die ebenso als body double fungierte, stößt Jakes persönliche Entwicklung an, lässt ihn nicht wie das fraktale Subjekt zum fraktalen Körper werden. Mittels des Körperlichen strebt sie nach dem Symbolischen. Wenn auch die Scheinwelt drumherum so bleibt, wie sie ist: die Körper müssen nach dieser Lesart nicht zwangsläufig zu einer Vielfalt von puren Oberflächen im Baudrillardschen Sinne werden, auch wenn das werdende Subjekt aufgrund seines gleichermaßen biologischen wie sprachlichen Wesens immer eine Spaltung in sich trägt, die nach Heilung ruft. Doch schon mit dem perinatalen Milieuwechsel (Janus 2024) beginnt das menschliche Drama, das mit Angst behaftet ist. Angst entsteht also einerseits aus der Subjektspaltung (Lacan 2011), aber eben auch biologisch-sozialisatorisch (vgl. Egloff / Djordjevic 2020). Trifft der werdende Mensch nun, wie im heutigen gesellschaftlichen Gefüge, auf ein hochvirtualisiertes Gepräge, droht er unter dem Regime (bild-)medialer Ersatzwunschwelten (vgl. Egloff et al. 2021) ins „existential disarray“ zu rutschen. Mit einem Simulakrum am Werk, das Bezugspersonen durch Bilder zu ersetzen strebt und dabei durchaus normative Wirkung entfaltet, wird Immanenz wird in der Postmoderne zu einem obszönen Anliegen – der industriellen Produktion folgend, nicht der Repräsentation (vgl. Egloff 2023c). Einer phantasmatischen Medialität, in der Subjekte zu models, zum Subjekt-Objekt im Bilderrahmen werden, wie Klotter (2014) diagnostiziert, ist daher nur schwer beizukommen. Vermutlich wird es gerade im Westen heißen müssen, von den medialen Oberflächen zurück zu finden – vielleicht zu Körper und Geist.

 


 

Der Text enthält Auszüge aus folgendem Buchbeitrag:

Egloff, Götz (2023): Im Zeitalter der Bilderwelt: Angst in der Hyperrealität. In: Reiss, H. / Janus, L. / Kurth, W. (Hg.): Identität in der Moderne – die Bilderwelt der Medien und der kollektiven Selbstbilder. Jahrbuch für psychohistorische Forschung 23. Mattes, Heidelberg, S. 105-134.

 

Literaturhinweise:

Barthes, Roland (1970): S/Z (Editions du Seuil, Paris 1970).

Baudrillard, Jean (1990): Videowelt und fraktales Subjekt. In: Barck, K. / Gente, P. / Paris, H. / Richter, S. (Hg.): Aisthesis. Reclam, Leipzig, S. 252-264.

Baudrillard, Jean (1982): Der symbolische Tausch und der Tod. Matthes & Seitz, München.

Brähler, Elmar / Herzog, Wolfgang (Hg.) (2018): Sozialpsychosomatik. Das vergessene Soziale in der Psychosomatischen Medizin. Schattauer, Stuttgart.

Bürgy, Martin (2017): Die wahnhafte Depression. Nervenarzt 88 (5), 529-537.

D´Alessandro, Desiree (2012): The Case of California (Review on Laurence A. Rickels: The Case of California. Minneapolis, 2001). Art (US) 33, 4-7.

De Palma, Brian (Regie, 1984): Body Double (dt. Der Tod kommt zweimal). Columbia Pictures.

Dervin, Dan (2016): Where have all the children gone? J Psychohistory 43 (4), 262-276.

Donnelly, Ashley M. (2018): Subverting Mainstream Narratives in the Reagan Era. Palgrave Macmillan, New York.

Egloff, Götz (2023a): Medien und Psyche – Vom Ich-Ideal zum Ideal-Ich. Dtsch Ärztebl PP 22 (10), 455-457.

Egloff, Götz (2023b): Essstörungen: Aufriss postmoderner Psychodynamik. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr 72 (3), 192-207.

Egloff, Götz (2023c): Psyche zwischen Libido und Medien: vom verlorenen zum virtuellen Objekt. gyn – Prakt Gynäkol 28 (1), 58-68.

Egloff, Götz (2022): William Faulkner zum 125. Geburtstag. www.dap-hamburg.de, Okt. 27.

Egloff, Götz (2020): William Faulkner, Snopes (1940, 1957, 1959). In: Egloff, Götz: Culture and Psyche – Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert, Beau Bassin, S. 31-60.

Egloff, Götz / Djordjevic, Dragana (2020): Pre- and postnatal psychosomatics in the social context. In: Egloff, Götz / Djordjevic, Dragana (eds.): Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, S. 141-198.

Egloff, G. / Janus, L. / Djordjevic, D. / Linderkamp, O. (2021): Psychosomatically oriented obstetrics and perinatal medicine. Europ Gynecol Obstetr 3 (2), 60-62.

Fellmann, Ferdinand / Walsh, Rebecca / Egloff, Götz (2020): From Sexuality to Eroticism: The Making of the Human Mind – Implications for Women´s Psychosomatics. In: Egloff, Götz / Djordjevic, Dragana (eds.): Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, S. 1-54.

Finkelstein, Joanne (2007): The Art of Self Invention. Image and Identity in Popular Visual Culture. I.B. Tauris, New York.

Fuchs, Thomas (2011): Psychopathologie der Hyperreflexivität. Dtsch Zschr Philosophie 59 (4), 565-576.

Janus, Ludwig (2024): The Enduring Effects of Prenatal Experiences. Cambridge Scholars Publ., Newcastle.

Kirsch, Holger / Brockmann, Josef / Taubner, Svenja (2016): Praxis des Mentalisierens. Klett-Cotta, Stuttgart.

Klotter, Christoph (2014): Essstörungen. In: Borkenhagen, A. / Stirn, A. / Brähler, E. (Hg.): Body Modification. Med.-Wissensch. Verlagsges., Berlin, S. 257-270.

Lacan, Jacques (2011): Seminar X. Die Angst. Turia & Kant, Wien.

Lambert, Mercedes (1992): Dogtown. Penguin, Harmondsworth.

McHale, Brian (1992): Constructing Postmodernism. Routledge, London / New York.

Möllers, Hildegard (1999): Die segmentierte Stadt. In: Möllers, H.: A Paradise Populated with Lost Souls. Literarische Auseinandersetzungen mit Los Angeles. Die Blaue Eule, Essen, S. 401-436.

Postman, Neil (1996): Das Verschwinden der Kindheit. S. Fischer, Frankfurt.

Rickels, Laurence A. (2011): The Unborn. In: Rickels, Laurence A.: Aberrations of Mourning. University of Minnesota Press, Minneapolis, S. 333-371.

Rickels, Laurence A. (2001): The Case of California. University of Minnesota Press, Minneapolis.

Sapolsky, Robert (2016): To understand Facebook, study Capgras syndrome. This mental disorder gives us a unique insight into the digital age. www.nautil.us, Oct. 27, 236173.

Sinclair, Vanessa / Steinkoler. Manya (eds.) (2019): On Psychoanalysis and Violence. Contemporary Lacanian Perspectives. Routledge, New York.

Tartt, Donna (1992): The Secret History. Alfred A. Knopf, New York.

Toman, Erika (2023): Der Körper als Resonanzorgan und als Symbol bei Menschen mit Essstörungen. J Psychoanal 64, 7-21.

von Werlhof, Claudia (2019): Überblick über die Patriarchatskritik: Die „Kritische Patriarchatstheorie“ als neues Paradigma. In: Janus, L. / Egloff, G. / Reiss, H. / Kurth, W. (Hg.): Die weiblich-mütterliche Dimension und die kindheitliche Dimension im individuellen Leben und im Laufe der Menschheitsgeschichte. Jahrbuch für psychohistorische Forschung 20. Mattes, Heidelberg, S. 219-

Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?

Buchcover, (c) Springer

Mit dem neuen „Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome“ legen Karina Sturm, Helena Jung und Andrea Maier ein Fachbuch vor, das sich für Angehörige medizinischer Berufe ebenso eignet wie für Betroffene.

Die von den seltenen Ehlers-Danlos-Syndromen (kurz EDS), einer Gruppe angeborener Bindegewebserkrankungen, Betroffenen müssen meistens eine Odyssee absolvieren, bevor man sie mit ihren Symptomen ernstnimmt und überhaupt den Versuch unternimmt, die Ursache zu ergründen. Psychische Erkrankungen und Erkrankungen aus dem Rheumakreis sind nur zwei Gebiete der zahlreichen Fehldiagnosen, mit der EDS-Betroffene sich herumschlagen müssen. Schließlich werden sie notgedrungen meist selbst Experten für ihr Krankheitsbild, was den Kontakt mit Ärzten nicht unbedingt erleichtert, weil sie oft als besserwisserisch gelten. Fachliteratur ist überwiegend nur auf Englisch erhältlich, hinzu kommen die Hürden des medizinischen Fachvokabulars.

Persönliche Erfahrungen treffen medizinisches Fachwissen

Dem abzuhelfen war die Motivation der drei Autorinnen des jüngst erschienenen Ratgebers in deutscher Sprache. Die Multimedia-Journalistin Karina Sturm lebte sieben Jahre in San Francisco. Als EDS-Betroffene und chronisch Erkrankte kombiniert sie ihr Fachwissen mit ihren persönlichen Erfahrungen und hat bereits viel dafür getan, dass EDS im deutschsprachigen Raum bekannter wurde. Die Medizinerinnen Dres. Helena Jung und Andrea Maier haben gemeinsam mit Karina Sturm den neuen Ratgeber geschrieben.

In vier Kapiteln führen sie die Leser an die Thematik der Ehlers-Danlos-Syndrome mit ihren Ausprägungen heran, stellen den Weg zur Diagnose vor, führen Begleiterkrankungen detailliert auf und geben praktische Hilfen zum Krankheitsmanagement. Im fünften Kapitel werden soziale Themen vorgestellt. Ein Stichwortverzeichnis erleichtert das Auffinden einzelner Begriffe im Text. Das Buch ist in barrierefreier Ausgabe erschienen, was bedeutet, dass Grafiken und Bilder noch einmal textlich erläutert sind. Da die Grafiken teilweise schlecht erkenn- und lesbar sind, sind diese Erläuterungen für alle Leser hilfreich. Eine wunderbare Ergänzung sind Videos, deren Links man aus dem Buch scannen kann (man benötigt für diese Zusatzmöglichkeit die App Springer More Media).

Die Fakten und Ausführungen sind spannend aufbereitet und ziehen beim Lesen in den Bann – man kann das Buch kaum weglegen. Vieles lässt sich beim Zurückblättern schnell wiederfinden, wenn man sich an den Zusammenfassungen in grauen Kästen orientiert.

Was ist das denn – EDS?

Foto: Maren Schönfeld

Die EDS wirken sich überall aus, denn jeder Mensch hat überall Bindegewebe: Haut, Knochen, Gelenke, Augen, Zähne, Schleimhäute, Nägel. So gibt es meist ganz verschiedene Symptome, die jedoch zusammengenommen auf eine Ausprägung oder Variante der EDS hindeuten. Man muss das nur aus diesem Blickwinkel betrachten, worauf die Medizin jedoch nicht unbedingt ausgerichtet ist.

Das Zusammenkommen medizinischen Wissens mit persönlichen Erfahrungen macht den Reiz und Informationsgehalt des Ratgebers aus. Nach der 2017 erfolgten New-York-Klassifikation der EDS, die an die Stelle der vormals verwendeten Villefranche-Klassifikation getreten ist, sind nun auch Unterformen wie das Brittle Cornea Syndrome mit aufgenommen worden. Letzteres wurde der Verfasserin dieser Rezension noch 2016 von der Humangenetik des UKE Hamburg-Eppendorf als „kein Nachweis einer krankheitsrelevanten genetischen Variante, die Ihre Beschwerden erklärt“ attestiert, obwohl man mittels einer Paneldiagnostik den Gendefekt zweifelsfrei festgestellt hatte. Man wusste nur nicht, was diese Diagnose bedeutet. Zwischenzeitlich ist bekannt, dass dieses Syndrom Augenerkrankungen und Hüftdysplasie, Gelenküberbeweglichkeit und samtige, dehnbare Haut in sich vereint – Symptome, die wohl kaum ein Mediziner unter eine gemeinsame Überschrift bringen würde.

Was die Leidtragenden der EDS dringend benötigen, sind quasi „Beweise“ dafür, dass die Symptome keine Einbildung sind und keine psychologischen Hintergründe haben. Der Ratgeber vermittelt niedrigschwellig auch für Laien gut verständlich die wichtigen medizinischen Fakten, bereitet zugleich für das Arztgespräch vor und kann sogar noch von den Patienten an Ärzte weitergegeben werden, ist er doch auch für Mediziner, Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten und weiteres medizinisch geschultes Personal ein profundes Fachbuch. Der Erkenntnisgewinn ist für Betroffene unbezahlbar, wenn sich plötzlich ein Grund für ganz unterschiedliche Beschwerden findet, wo bislang möglicherweise drei oder mehr Fachärzte in ihrem Bereich isoliert Auffälligkeiten feststellten. Die Autorinnen geben auch Argumentationshilfen für die Durchsetzung der Rechte Kranker, was in einer Gesellschaft, in der u.a. Anträge auf Schwerbehinderungsfeststellung grundsätzlich erst einmal abgewiesen werden, sehr wertvoll ist.

Der Schreibstil des Ratgebers ist ermutigend und positiv. Trotz der schweren Thematik einer nicht heilbaren Erkrankung, mit der sich Betroffene irgendwie arrangieren und sich ihr Leben auf eigene Faust so erträglich wie möglich einrichten müssen, löst der Ratgeber optimistische Empfindungen aus. Denn er beschreibt, dass man trotz des Status „seltene Erkrankung“ (ob das stimmt, darf bezweifelt werden, da die Zahl der nicht erkannten EDS-Erkrankungen sehr hoch sein dürfte) nicht allein mit der Diagnose und den Einschränkungen des täglichen Lebens dasteht. Die Selbsthilfevereine „Bundesverband Ehlers-Danlos-Selbsthilfe e.V.“ in Bielefeldt und „Ehlers-Danlos-Iniative e.V.“ in Fürth sind weitere Anlaufstellen für Betroffene, beide Vereine sind bundesweit tätig.

In den letzten Jahren sind einige weitere Publikationen zu den EDS erschienen, davon wenige auf Deutsch. Möglicherweise hat der „Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome“ dazu beigetragen und anderen Menschen mit entsprechenden Buchprojekten den nötigen Informationshintergrund geliefert, aber auch Mut gemacht, ein eigenes Buch zu schreiben. Dieser Ratgeber ist sehr geeignet, das deutschsprachige Standardwerk des aktuellen Forschungs- und Wissensstands der EDS zu werden.

Karina Sturm, Helena Jung, Andrea Maier: Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome, Komplexe Bindegewebserkrankungen einfach erklärt, Springer, Berlin 2022

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Wenn aus der Kur ein Horrortrip wird

Orthopädisches
Turnen im Takt der Trommel, Ansichtskarte des Hermann-Hedrich-Heims bei Bad Frankenhausen, vor 1938 (c) Dölling und Galitz Verlag

Bis heute kann Beate N.* (75) keinen Quark oder Joghurt essen. Die Geschwister Werner (71) und Tanja T.* (69) haben dieselben Albträume vom Eingesperrtsein in einem dunklen Keller. Die Eltern wunderten sich, dass Werner nach Rückkehr von der „Kur“, wo die nachkriegsbedingt unternährten Kinder sich erholen und satt essen sollten, mit den Fingern Löcher in Wände kratzt. Bis heute kann er keinen Honig und keinen Käse essen.

Drei Fälle aus dem persönlichen Umfeld der Verfasserin dieses Beitrags, deren Erzählungen aus den so genannten Erholungsheimen ihr kalte Schauer über den Rücken laufen lassen. Drei Menschen, die von einem den Eltern als positive Maßnahme dargestellten Aufenthalt (allerdings nicht in einem DAK-Kurheim) traumatisiert zurückkehrten, so sehr, dass es sie ihr Leben lang nicht loslassen sollte. Die immer wieder davon erzählen, dass sie gezwungen wurden aufzuessen und Zeugen davon wurden, dass andere Kinder sogar ihr eigenes Erbrochenes aufessen mussten. Beate N. ekelte sich vor dem Schichtquark, aus dem Wasser quoll, und bekam ihn so lange immer wieder vorgesetzt, bis sie ihn aufgegessen hatte – über mehrere Mahlzeiten und mehrere Tage gab es für sie kein anderes Essen. Die Geschwister T. wurden tatsächlich in einen dunklen Keller gesperrt. Auch sie wurden gezwungen, alles zu essen, was auf den Tisch kam. „Wir haben gegessen, bis wir gekotzt haben“, wird eine Interviewpartnerin in dem Buch „Kur oder Verschickung – Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (Dölling und Galitz Verlag, München und Hamburg 2023) zitiert. Hinter dem neutral daherkommenden Buchtitel verbirgt sich eine Chronologie des Grauens. Vor dem Hintergrund der vermehrt verlangten Warnungen vor extremen Inhalten müsste dieses Buch eine solche in roten Großbuchstaben enthalten, denn die Bilder der Schilderungen Betroffener wird man so leicht nicht wieder los.

Die DAK gab bei dem Historiker apl. Professor Hans-Walter Schmuhl eine systematische und unabhängige Untersuchung in Auftrag, so steht es im Vorwort. In der Tat wird in dem 304 Seiten starken Buch eine umfassende Analyse und Rekonstruktion der damaligen Umstände vorgelegt. Im Untersuchungszeitraum wurden laut Vorwort ca. 450.000 Kinder zwischen vier und 14 Jahren auf der Basis ärztlich verordenter Kinderkuren „verschickt“. Besonders in der Nachkriegszeit sollten die Kuren den oftmals prekären Gesundheitszustand der Kinder positiv verändern. Sie sollten „physisch und psychisch gestärkt werden und gesund heimkehren“. Doch in erschütternd vielen Fällen ist das Gegenteil passiert, wurde den Kindern psychische und physische Gewalt angetan, von der sie sich nie wieder erholt haben.

Den Willen brechen

In den ersten drei Kapiteln wird das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen und der DAK vorgestellt und der theoretische Rahmen erläutert. Im vierten Kapitel kommen Betroffene zu Wort und wird der Alltag mit seinen Regeln in den Heimen geschildert. Diese Lektüre auf der Basis von Interviews (geführt von der Journalistin Anja Röhl) ist schwer auszuhalten. Wie man die Kinder von den Familien isolierte – Besuch war verboten, Post wurde kontrolliert – und die kleinen Kinder dachten, sie müssten für immer bleiben; wie sie sich vor Ärzten und den „Tanten“ (Personal) ausziehen mussten, auch beim Waschen keine Privatsphäre hatten; wie man ihnen ihre Teddys und Puppen abnahm, es nicht einmal einen Nachtschrank gab, sie keine persönlichen Dinge haben durften; Wutausbrüche der „Tanten“, Strafen und sogar sexualisierte Gewalt – all das klingt unvorstellbar und ist doch massenhaft passiert. Und meistens haben die Kinder ihren Eltern davon nichts erzählt, weil die kriegsgeplagten Erwachsenen doch dachten, sie hätten den Kindern etwas Gutes getan. So erzählen es auch die Geschwister T., die erst Jahre später den fassungslosen Eltern von diesen Vorkommnissen berichteten. Beate N. erzählte es sofort nach der Rückkehr. Bemerkenswert ist, dass beide Elternpaare sich nicht bei deren Krankenkasse erkundigten oder gegen diese vorgingen. Es wäre heute sicherlich unvorstellbar, dass Eltern sich an ein Kontaktverbot zu ihren Kindern während des Aufenthalts in einem Kurheim halten und später, nach Kenntnis der traumatischen Erlebnisse, stillhalten und schweigen würden.

So ist das Geschehen im Kontext der Nachkriegszeit zu betrachten, wobei einem als erstes der Gedanke an die nationalsozialistische Prägung in den Sinn kommt. Die „Tanten“ hatten dementsprechende Erziehungsmaßnahmen erlernt und waren möglicherweise sogar davon überzeugt, dass es zum Besten der Kinder war, deren Willen zu brechen und sie zu „züchtigen“. Diese Einstellung kam womöglich zusammen mit Überforderung oder auch schlichter Bosheit und Machtausübung. Und auch die Eltern hatten gelernt, lieber zu schweigen als sich mit der Obrigkeit anzulegen. Natürlich hatten die Eltern und Witwen Gefallener ihr eigenes Trauma (hierzu sei die Lektüre der Bücher von Sabine Bode über die Kriegs- und Nachkriegskinder empfohlen). Aber all das gehört zum Gesamtbild: Das Schweigen der Eltern hat einen bitteren Anteil am Leid der Kinder, auch wenn das nicht die Schuld der Täter abmildert oder gar entschuldigt.

Der Bildteil des Buches illustriert dieses Leiden einerseits durch beklemmende Szenen wie im Kreis kriechende Kinder beim Turnen oder halb nackten Kindern im Bestrahlungsraum und andererseits durch die Ablichtungen von Dokumenten, die Regeln zu Tischsitten und Ernährung zeigen. Es kommt einem vor wie in einer anderen Welt, es muss ein Horrortrip gewesen sein.

Verbrechen ohne Strafe?

Das fünfte Kapitel des Buchs setzt sich schließlich mit der rechtshistorischen Betrachtung auseinander, wie wiederum zum zeitlichen Kontext führt; womöglich wären nach damaligem Strafrecht viele Handlungen nicht als Körperverletzung verfolgt und andere als Affekthandlung verharmlost worden. Es bleibt unbefriedigend, dass man aus heutiger Sicht nicht beurteilen kann, ob die Taten im Falle von Anzeigen überhaupt geahndet worden wären.

Aus den Interviews ergibt sich, dass einige Betroffene trotz psychotherapeutischer Behandlungen auch Jahrzehnte später ihr seelisches Gleichgewicht nicht wiedergefunden haben. Die Kur hat ihr ganzes Leben verändert, nichts wurde wieder wie vorher. Dass die DAK-Führung im Vorwort schreibt: „Zu Betroffenen und der ‚Initiative Verschickungskinder‘ haben wir Kontakt aufgenommen und um Entschuldigung für die damaligen Geschehnisse gebeten“, ist als Verantwortungsübernahme sicherlich zu würdigen, steht aber kaum in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Leid. Es bleibt zu wünschen, dass dieses Buch erst der Anfang einer groß angelegten Aufklärungs- und möglichst auch Entschädigungsarbeit ist.

Beate N. und Werner T. möchten das Buch lesen. Tanja T. hingegen sagte der Verfasserin dieser Zeilen, sie möchte nichts davon hören und auch nicht mehr darüber sprechen. Nie wieder.

*alle Namen geändert

 

Buchcover

Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz Verlag, München und Hamburg 2023

Link zum Verlag: https://www.dugverlag.de/isbn-3-86218-163-4

 

Der Verlag Dölling und Galitz hat ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

 

Ganz entspannt im Hier und Jetzt

Blick auf einen der Pools der fünf GB Thermae Hotels in Abano Terme

Bewegung macht Spaß – Und nach zwei  Jahren  Reiseabstinenz tun Anti-Stress-Therapien erst recht gut. Das volle Programm kann man im kommenden Frühling wieder in Abano Terme genießen

Klar denkt man erst noch an Omrikon, die Lieben zu Hause und daran, ob Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit seiner Prognose doch richtig liegen könnte: “Wir müssen uns schon jetzt auf neue Corona-Mutanten im Herbst 2022 vorbereiten“.  Aber dann gibt das 36 Grad warme Thermalwasser dem Körper Auftrieb. Und der Seele auch. Endlich Urlaub vom Pandemie-Stress – fit machen für Frühling und Sommer. Es müssen ja nicht die Malediven sein, wenn die Balance verloren gegangen ist. Das Gesundheitsparadies liegt knappe zwei Flugstunden von Hamburg entfernt in Venetien. Vom Flughafen Venice nach Abano Terme kann man die rund 60 Kilometer per Bus, Zug, Taxi oder Stadtauto zurücklegen.

Also denn: Eine Woche Detox High Impact-Behandlung im Hotel Due Torri Abano Terme für eine Rundum-Erholung. Diagnostik durch den deutschsprechenden Badearzt zuerst, dann individuell Fangobäder und Packungen mit Biothermalschlamm, allerlei Antistress-Therapien, die den Rücken lockern, Muskeln entspannen, den Körper entgiften und das Immunsystem stärken kosten rund  1.500 Euro (www.gbhotelsabano.it)  – die köstlichsten Menüs inbegriffen. Man hat sich ja lange genug nichts gegönnt.

Zwei Hände verteilen den nach klassischer Methode gereiften Fango auf Rücken, Brust, Bauch und Oberschenkel. Welche Körperteile behandelt werden dürfen und mit welcher Temperatur bestimmt der deutschsprechende Badearzt. Nach 15 Minuten werden die durch das Schwitzen ausgeschiedenen Giftstoffe mit einer Thermaldusche von der Haut gespült und der Body mit einem wohlriechenden, frischen Detox Gel eingerieben. Zur Entspannung und zur Stimulation des Mikrokreislaufs entmannt man im aromatischen Thermalbad. Dampfend blubbert und sprudelt das Wasser aus diversen Hydromassagedüsen zur Lockerung der Muskulatur. Mit ihrer Salz-Brom-Jod Zusammensetzung entfaltet es heilende Wirkung auf Gelenke, Herz-und Kreislauf. Es folgt eine zweite Reinigungsdusche mit  “Seife aus Abano”. Zum Schluß wird man noch einmal mit dem heilenden GB-Thermalwasser eingesprüht, damit die Haut erneut mit Feuchtigkeit versorgt wird. Sie fühlt sich danach seidenweich an. Himmlisch!

Medizinische Gesichtsbehandlung für die Schönheit

Wer in Venetien Gesundheit und Wellness miteinander verbinden möchte, findet im Hotel Due Torri Abano Terme einen erstklassigen Rahmen für Erholung, Fitness und Entspannung. Nicht nur die Fahrt durch Venetien und die Ausläufer der Toscana sind filmreife Kulissen. Im Due Torri  angekommen flaniert man  gleich nach dem Auspacken des Koffers  durch einen blühenden Park in einer   wunderbaren Thermenwelt mit  drei auf  28 bis 35 Grad abgekühlten Außen-Thermal-Schwimmbecken. Sodann schwimmt man bis in das  36 Grad warme Thermalhallenbad. Geht zur Kneipp-Therapie oder zur Thermalgrotte. Es gibt Hydromassage-Ruheinseln mit Wasserbetten und ausreichend Liegen zum Sonnenbaden auf den Terrassen.

 

Entspannung pur im Thermalwasser des Palazzo-Hotels Due Torri Abano

Der elegante Fünf-Sterne-Palazzo der  GB Thermae Hotels in Abano Terme war im 17. Jahrhundert Residenz der adligen, venezianischen Familie Morosini. Er liegt zentral am wunderschönen Kupark Montrione von Abano Terme – Europas beliebtester Thermalregion. Nur wenige Kilometer und schon ist man in Padua oder Verona. Das stilvolle klassisch-antike Ambiente in den Aufenthaltsräumen setzt sich in den Zimmern und Suiten fort. Von den Balkonen blickt man über den Park bis hin zu den Euganeischen Hügeln. Im Frühling ist die liebliche Veneto-Landschaft eingetaucht in Grün-, Weiß-,  Rot- und Gelbtöne – so bunt und schön, das man hier gar nicht mehr weg möchte.

Ausflüge, Fango, Thermalwasser, Sport und gepflegter Müßigang machen Appetit. Zumal, wenn die raffiniertesten Gaumenfreuden locken! Bei Antipasti, frischer Pasta und Salaten kann man sich für die Tagesprogramme stärken. Wenn man dann abends im Restaurant „Venezia“ schwelgt bei einem Gourmet Dinner und einem guten Tropfen aus dem exquisiten Weinkeller, schmiedet man nur zu gern Pläne, wie man die herrliche Corona-Auszeit irgendwie verlängern kann.

Preisbeispiel: 7 Nachte/Frstck. im Hotel Due Torri  Abano Terme mit Regenerationsprogramm  (18 Behandlungen) ab € 1.399 p .P. i DZ (fit-Reisen)

 

 

Kultur und Psyche

Buchcover

Goetz Egloff. Culture and Psyche: Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert Publ., Beau Bassin, 2020

Buchvorstellung

Der englischsprachige Band umfasst gedankliche Aufbereitungen sowohl zur neueren amerikanischen Literaturgeschichte als auch zu kulturellen und klinischen Phänomenen, die der informierten Öffentlichkeit wohlbekannt sind. Deren Zusammenhänge werden Schritt für Schritt erschlossen. Beginnend mit Werken von Maria Cummins und William Faulkner, über J.D. Salinger und John Updike, hin zu John Barth und Don DeLillo, zeigt sich eine Entwicklung, die zuläuft auf die postmoderne Konfiguration der westlichen Welt zur Jahrtausendwende. Deren klinische Aspekte werden augenfällig in Bereichen von Beziehung und Sexualität oder finden im bulimischen Syndrom postmoderner Unverdaulichkeit ihren Ausdruck.

Subjektivitätsbildung in den gegebenen Gesellschaftsstrukturen weist zum Epochenwechsel von Moderne zu Postmoderne, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzt, hin auf eine Herauslösung des Ichs aus dem kulturellen Gefüge, „from a culture-based toward a psyche-based view of man“. Nur scheinbar gegenläufig verbleibt das auf einen Sockel gestellte Ich umso mehr unter dem Einfluss von Ökonomie und Verlust von Repräsentation, was zu neuen Formen existentiellen Unbehagens führt. Paradigmatisch wird diese Konstellation in DonDeLillos Roman White Noise, in dem die Referenzsysteme menschlichen Gelingens nahezu zusammenbrechen.

Weitere Themenbereiche des Bandes umfassen die Psychosomatik von Haut und Hormonen, des Beschneidungszeitpunkts im männlichen Entwicklungsverlauf, der vorgeburtlichen und der nachgeburtlichen kindlichen Entwicklung sowie der gesellschaftlichen Strukturen; dies  jeweils in Verbindung mit Aspekten von Ritual, Gedächtnis und Zeit. Der Band versteht sich als Hintergrundfolie zur Kulturhistorie von Körper, Psyche und Gesellschaft im  jüdisch-christlich-muslimischen Kulturraum, auf der zukünftige Konzeptionen entworfen werden können. Ein Anhang mit Auszügen aus Interviews in der spanisch- und deutschsprachigen yellow press zu Schwangerschaft, Geburt und kindlicher Entwicklung ergänzt den Band.

Goetz Egloff. Culture and Psyche: Lecture Notes for the Liberal Arts. Lambert Publ., Beau Bassin, 2020, 308 S., 53,90 Euro

Psyche in Zeiten von Corona

Kommentar zu Robert Bering & Christiane Eichenberg (Hg.). Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Klett-Cotta, Stuttgart, 2020 

Die Herausgeber Bering und Eichenberg legen mit dem vorliegenden Band, auch wenn dieser einige sinnvolle Kapitel enthält, einen Schnellschuss vor, der sich (die Hände in Unschuld) gründlich gewaschen hat und sich liest, als habe er jahrelang bereit gelegen, um nun rasch Corona ins Betreff zu setzen. Merkwürdig, dass die akademische Psychologie so still war zum 11. September 2001, zur Einführung von Hartz IV, zur Finanzkrise 2008. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier wie dort willfährige Vollstrecker am Werke sind, die psychisch relevante Themen wie etwa die Ein- und Ausflüsse sogenannter globaler Eliten (vgl. Neckel et al. 2018) und „think thanks“ (Bertelsmann vor Corona: 30% der Krankenhausbetten bitte abbauen!) konsequent meinen aussparen zu können.

Wissen

Ein etwaiger Vorwurf des (Kultur-)Pessimismus der hier formulierten Einwände gegen eine Über-Therapeutisierung des Alltäglichen mag unvermeidbar sein, doch, wie der Heidelberger Psychoanalytiker Werner Balzer ganz zutreffend bemerkt, „als Bannfluch verdankt sich dieser Vorwurf selbst einem Ressentiment, einer affirmativen Fortschrittsmelodie, die für sich genommen noch keinerlei starke Argumente enthält“ (Balzer 2020, 11). Also gemach: wir wollen Coronaviren nicht in Frage stellen – das wäre töricht. Es ist hingegen sehr wahrscheinlich, dass die zurzeit in Rede stehende Variante nicht nur existiert, sondern auch gefährlich sein kann – nur wissen wir, die Öffentlichkeit, es eben nicht. Es kann von uns gar nicht gewusst werden. Doch auf die Idee, dass wir viel weniger wissen als wir zu wissen meinen, kommt auch der vorliegende Band nicht. Woher beziehen wir denn unser Wissen? Über die Bilderflut der Medien, die das Bild zwar vom Wort begleiten, es aber, wie nie zuvor, wirken lassen, unverhohlen behauptend: die Kamera lügt nicht. Doch ist es, so er existiert, immer der sprachliche Kontext, der entscheidend ist für irgendein Verstehen. Gleiche Bilder mit ganz unterschiedlichen Texten führen zu komplett konträren Interpretationen. Interessant ist ohnehin eher, welche Bilder nicht gesendet werden. Und so mutet es seltsam an, wenn Kapitel des in Rede stehenden Bandes mit Begriffen wie „Psychoinformation“ und „Wissen“ als resilientem, ja emanzipatorischem Ansatz aufwarten, ohne geklärt zu haben, um welches Wissen es sich überhaupt handelt (vgl. Egloff & Djordjevic 2020), diese vor allem aber kaum imstande sind zu halten, was sie zu versprechen antreten. So bleiben fast alle bearbeiteten Themen des Bandes unterkomplex, weil jene Zusammenhänge nicht ausreichend beleuchtet werden, in denen Mediales einerseits Wirklichkeit widerspiegelt, andererseits ebenso rasch ein Eigenleben gewinnt (Janus et al. 2020). Im ersten Teil wagt lediglich das Kapitel von Beck mit der Nennung von Günther Anders einen Schritt in die richtige Richtung. Doch haben wir es längst mit Verhältnissen zu tun, die Anders kaum erahnen konnte; so bewegen wir uns mittlerweile global im medialen Raum von Hyperrealität: ,„Hyperreality is a consequence of the expansion of technological communication systems that enable us to be globally connected” (Finkelstein 2007). Diese muss in jedem gesellschaftlichen Ereigniszusammenhang mitgelesen werden.

Medien

Ein Kapitel des Bandes rät gar zu Information mittels vorzugsweise öffentlich-rechtlicher Medien, jenen Medien, die seit Monaten rund um die Uhr ängstigende Infektionszahlen zu senden imstande sind, ohne irgendeine Inbezugsetzung zur täglichen Anzahl von Todesfällen in Vergleichsjahren vorzunehmen. Dass nicht nur diese Thematik hochgradig einseitig gehandhabt wird, ist mittlerweile bekannt, hierzu gäbe es dutzende Belege. Wo alle einer Meinung sind, wird wenig gedacht, soll Georg Christoph Lichtenberg festgestellt haben.

In beschleunigten Zeiten eine Ewigkeit ist es her, dass die Einführung des Privatfernsehens diskutiert wurde und die nordrhein-westfälische SPD seinerzeit verdienstvollerweise auf Kulturfenster bei den Privatsendern bestand. Diese Sender haben so oder so frischen Wind ins Fernsehen gebracht, teils mit geradezu subversiven Sendungsformaten, bis nach und nach das Niveau in sehr tiefe Täler abgesenkt wurde, was die Öffentlich-Rechtlichen auf ihren Hauptsendern in nicht unerheblichem Ausmaß und ohne jeden Finanzdruck meinten mitgehen zu müssen. Wir wurden Zeugen derer Einverleibung durch die Systemlogik, sodass über kurz oder lang entscheidende neue Impulse aus alternativen Medien kommen mussten. Wenn überhaupt, dann also bitte Öffentlich-Rechtliche zusammen mit privaten und alternativen Medien als Informationsquelle konsumieren! Man war auch früher schon gut beraten, Ost- und Westfernsehen zu mischen. Ob die Payback-Gesellschaft dies zu reflektieren imstande ist, ist fraglich – Payback bedeutet eben Revanche, und nicht etwa gütliche Rückzahlung.

Psychismus und empirische Wirklichkeit

Keine Frage, ältere und vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen ist eine gute Idee, insofern konnte man einen „Lockdown“ ein Stückweit schon rechtfertigen. Etikettierungen gegenläufiger Einschätzungen als Verschwörungstheorie bleiben aber allzu oft undifferenziert, und aus dem akademischen Umfeld sollte allemal mehr zu erwarten sein (vgl. Agamben 2020). Unser „alter ego“ steht zumal ohnehin immer bereit, das Gegenteil des scheinbar Vernünftigen zu vollziehen (vgl. deMause 2000). Also: ganz grundsätzlich sollte man bei Etikettierungen als Verschwörungstheorie Vorsicht walten lassen –  wer hätte Befürchtungen um Leib und Leben deutschen Juden in der Weimarer Republik Verschwörungstheorie heißen wollen? Empirische Wirklichkeit würde sonst nur noch zu einem Psychismus, der mittels der richtigen Sprache zu korrigieren ist und in dem nicht einmal mehr der Versuch unternommen wird Realität zu ergründen, sondern jede Epistemologie komplett aufgegeben wird.

Und so werden im Band nicht selten Psychisches und empirische Wirklichkeit durcheinander gebracht. Auch Opfer sein wird da mal eben zu einem solchen Psychismus, mittels dessen empirische Wirklichkeit gegen Opfer gewendet und verwendet wird. Schon mal dran gedacht, möchte man fragen, wie gesellschaftliche Verwerfungen mit dem Aufstieg einer neuen Traumatologie zusammenhängen könnten? So wie Kindersymptomatiken oft durch die Behandlung der Eltern verschwinden, schaffen wir einen eben nicht kleinen Teil psychischer Problematiken selbst: Ein zunächst gut gemeinter und teilweise notwendiger äußerer Strukturverlust in den westlichen Gesellschaften ist mittlerweile zu einem inneren geworden, in dem nahezu jeder weitere äußere als normal erscheint (vgl. Egloff 2020). So war es bspw. für einen deutschen Spitzenmanager in den 80er Jahren schlicht nicht möglich, mehr Einkommen als Springer-Vorstand Peter Tamm zu erzielen. Was früher Neurose hieß, ist zur strukturellen Störung geworden, in der statt der neurotischen nun die perverse Lösung bevorzugt wird (vgl. Oberlehner 2011) bzw. die Lösung von Symbolischem und Realem und damit Imaginärem und Realem erfolgt (Rouse & Arribas 2011), eine bedenkliche Entwicklung, die auch aus ganz anderer Perspektive bestätigt wird (vgl. Sarraf et al. 2019). Nicht so in diesem Band: fast alles wird „manageable“. Virtualität ist nach dieser Lesart psychisch gar kein Problem, so smart vernetzt sind wir… Dagegen spricht sehr Vieles (vgl. Fuchs 2014).

Zum Schluss

Die ganz große Müllflut durch Kaffeebecher-to-go entstand bei uns erst, als die Alt-Damen-Cafés schließen mussten – weil Hipster sie nicht mehr hip finden wollten. Ciao Porzellan – willkommen, lieber Pappbecher! Die Inhalte des Bandes sind somit nicht etwa falsch, eher unterkomplex, rekurrieren vor allem aber nicht auf die eigenen Bedingtheiten. Oberflächenphänomene in Zusammenhängen zu denken und in historischem Kontext auszuwerten, da gibt es noch eine ganze Menge zu tun (vgl. Lentricchia & McAuliffe 2003); auf wenigen Textseiten ist dies bspw. vorbildlich für die Fernsehserie „Game of Thrones“ vollzogen worden (Janus 2020).

Doch letztlich ist der vorliegende Band in guter Gesellschaft. Auch kluge Köpfe wie Martin Dornes sind schon in die postmodernen Fallen des Positivismus getappt (Egloff 2015), und auch das „electronic tribe“ greift allzu gern zum alten Hut, der so gut sitzt (vgl. Lentricchia 1991). Daher gilt: Wer von Hyperrealität nicht sprechen will, sollte von Gesellschaftsphänomenen schweigen. Anzumerken bleibt, dass für manche sozial-helfenden Berufe der Band gewiss hilfreiche Anregungen bietet, die sich im dritten Teil finden; der zweite Teil zu therapeutischen Adaptationen bleibt dünn und wenig tragfähig.

Die gelungenen Strecken des Bandes, wenn es bspw. um vulnerable Gruppen geht, und um Arbeitslosigkeit, sind durchaus nützlich, und es gibt gute Kapitel wie das von Vlasak und Barth; andere braucht fast niemand. Bei forscherischem Interesse und für gesellschaftliche Hintergründe besser lesen: „Das Sensorische und die Gewalt“ von Werner Balzer, oder auch „White Noise“ von Don DeLillo.

 

Literaturhinweise:

Agamben G (2020). Das Denken muss sich befreien, und die Feier des Kultes muss ein Ende haben.      Neue Zürcher Zeitung, 14.5.2020.

Balzer W (2020). Das Sensorische und die Gewalt. Zum Seelenleben im digitalen Zeitalter. psychosozial, Gießen.

deMause L (2000). Was ist Psychohistorie? psychosozial, Gießen.

Egloff G (2015). La bête noire. In: Psyche – Zschr Psychoanalyse 69, 8, 756-765.

Egloff G (2020). Don DeLillo, White Noise (1984). In: Egloff G. Culture and Psyche. Lambert, Beau Bassin, 111-124.

Egloff G, Djordjevic D (2020). Preface. In: Egloff G, Djordjevic D (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, VII-XVII.

Finkelstein J (2007). The Art of Self-Invention. I.B. Tauris, London/New York, 157.

Fuchs Th (2014). The Virtual Other: Empathy in the Age of Virtuality. In: J Consciousness Studies 21, 5-6, 152-173.

Janus L (2020). Nutzung der Pränatalen Psychologie zu einem vertieften Verständnis der Serien „Game of Thrones“ und „The Walking Dead“. In: Janus L. Texte zur pränatalen Dimension in der Psychotherapie. Mattes, Heidelberg, 172-190.

Janus L, Linderkamp O, Djordjevic D, Egloff G (2020). Einflüsse des Pränatalen in Psychosomatik und Gesellschaft. In: gyn – Prakt Gynäkol 25,1, 53-55.

Lentricchia F (1991). Tales of the Electronic Tribe. In: Lentricchia F (ed.). New Essays on White Noise. Cambridge UP, Cambridge/New York, 87-113.

Lentricchia F, McAuliffe J (2003). Crimes of Art and Terror. Chicago UP, Chicago.

Neckel S, Hofstätter L, Hohmann M (2018). Die globale Finanzklasse. Campus, Frankfurt.

Oberlehner F (2011). Von der Normalneurose zur Normalperversion. In: Langendorf U, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Wurzeln und Barrieren von Bezogenheit. Mattes, Heidelberg, 275-291.

Rouse H, Arribas S (2011). Egocracy. Marx, Freud and Lacan. diaphanes, Zürich.

Sarraf MA, Woodley of Menie MA, Feltham C (2019). Modernity and Cultural Decline. A Biobehavioral Perspective. Palgrave Macmillan, Cham.

 

 

Prä- und postnatale Psychologie und Medizin

Buchcover

Prä- und postnatale Psychologie und Medizin bilden die Schnittstellen psychologischer und medizinischer Diagnostik und Intervention von der Pränatalzeit an bis in die frühe Kindheit. Damit umfassen diese Disziplinen das Ungeborene und den Säugling sowie auch werdende Mütter und Väter in ihrer soziokulturellen Umgebung. Die großen Verbesserungen der letzten Jahrzehnte in Neonatologie und Sozialpädiatrie fußen auch auf den Ergebnissen aus Psychoanalyse und Säuglingsforschung, die jene Disziplinen mitbegründeten.

Der vorliegende Band fasst viele ihrer Ergebnisse nicht nur zusammen, sondern erweitert sie im Hinblick auf zukünftige körpermedizinische und psychosoziale Gestaltungen in ihren klinischen und kulturellen Bezügen.

Das animalische Erbe im Menschen

Im ersten Kapitel nehmen Fellmann, Walsh und Egloff (TU Chemnitz, Universität Münster und Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg) eine anthropologische Zusammenschau der Evolution der menschlichen Psyche im Rahmen von Sexualität und Erotik vor. In ihrer Betrachtung emotionaler Intelligenz zeigt sich diese als Überschuss von Paarungsenergie, die in ihrer Abweichung vom reinen Fortpflanzungsziel zu Intimität führt, die selbst als Quelle menschlicher Reflexivität dient. Hieraus ergibt sich ein kohärentes Szenario, in dem Erotik und psychische Entwicklung zusammengehören jenseits von Kognition, also dem, was Menschen gewöhnlich für Denken halten. Stattdessen wirkt das animalische Erbe im Menschen als Movens sowohl für erotische Exploration als auch für emotionale Intelligenz. Die sich hieraus ergebenden konflikthaften Spannungen verweisen auf körperliche Sinnlichkeit in engster Verknüpfung mit psychischem Befinden und legen so eine Grundlage für die Psychosomatik. Fertilität in ihrer psychosomatischen Verfasstheit bildet einen wichtigen Teil hiervon. Wenn es denn um Empfängnisproblematiken geht, werden in erster Linie Lebensstilveränderungen oder Interventionen wie ovarielle Stimulation und Akupunktur ins Feld geführt, um diesen zu begegnen. Während nicht-pharmakologische Ansätze sinnvoll sind, zeigt sich jedoch immer wieder, dass diese zu kurz greifen und in einen psychosomatischen Ansatz integriert werden sollten, der psychische, aber auch übergeordnete Faktoren wie gesellschaftliche Voraussetzungen berücksichtigt, die als „culturally and mentality-based influences“ bezeichnet werden können.

Rupert Linder, Psychosomatiker und Gynäkologe sowie langjähriger Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin Wiesbaden, stellt im zweiten Kapitel seine Erfahrungen in der geburtshilflichen Behandlung und Begleitung schwangerer Frauen vor. Die Integration von Frauenheilkunde, Geburtshilfe und psychotherapeutischer Intervention hat sich nicht nur als für die tägliche Praxis gangbar erwiesen, sondern, wie seiner Praxisstudie zu entnehmen, zu einer Verringerung der Anzahl von Frühgeburten geführt. Daher sollten auch körperliche Probleme werdender Mütter im Gesamtzusammenhang körperlicher und emotionaler Prozesse betrachtet werden, um intervenieren zu können. Die emotionale Geschichte der werdenden Mutter sowie auch den frühen inneren Dialog zwischen ihr und dem ungeboren Kind in den Mittelpunkt zu stellen, bietet potentielle Konfliktlösungen.

Pränatale Dynamik und fötale Existenz

Wie die inneren Welten werdender Mütter aussehen können, illustrieren Olga Gouni und Anastasia Topalidou (Nationale und Kapodistrias- Universität Athen und Universität von Central Lancashire) im dritten Kapitel über pränatale Dynamik und fötale Existenz. Hierbei diskutieren sie den Zusammenhang pränataler Erfahrung mit menschlicher Gesundheit und Entwicklung, ein Forschungsfeld, auf dem in den letzten Jahren ein enormer Wissenszuwachs stattgefunden hat. Mütterliche Erfahrungen zu Zeitpunkten vor, während und nach der Empfängnis sowie jene in der Schwangerschaft können mit pränatalen Prägungen des Kindes in engen Zusammenhang gebracht werden. Die Autorinnen schildern in Fallvignetten zahlreiche, teils drastische Konfliktkonstellationen aus der Praxis. In einem Forschungsüberblick zu Epigenetik und „fetal programming“ weisen sie auf pränatale Prägungen z.B. im Herz-Kreislauf-Bereich hin, die neben den wohlbekannten Einflüssen von Alltagstoxinen wie Tabak und Alkohol tief angelegte Dispositionen darstellen. Es wird deutlich, dass umweltliche Einflüsse auch im engeren Sinne das werdende Kind betreffen. Zu jenen gehört, und das ist die gute Nachricht, auch das „Bonding” als lebenslanger Prozess von Beziehungsbildung.

Auf hirnphysiologischer Ebene beschreibt Otwin Linderkamp, ehemaliger ärztlicher Direktor der Neonatologie der Kinderklinik an der Universität Heidelberg, im vierten Kapitel eindrucksvoll die fötale menschliche Entwicklung im mütterlichen Uterus. Das fötale Gehirn bildet sich innerhalb von ein paar Wochen von einer dünnen Zellschicht hin zu einem komplexen Netzwerk aus, das aus Milliarden Neuronen und Billionen Verbindungen besteht. Deren Anfälligkeit für Umweltfaktoren, zu denen auch „maternal stress“ gehört, ist gut belegt. Bei aller Plastizität und damit auch Reparaturfähigkeit neuronaler Netzwerke lässt sich zeigen, dass gerade allerfrüheste Erfahrungen grundlegend sind.

Im fünften Kapitel widmen sich Egloff und Djordjevic (Institut für Pränatale Psychologie Heidelberg und Universitätsklinik Nis) der prä- und postnatalen Psychosomatik in ihrer sozialen Verfasstheit, eine Perspektive, die nach ihrer letzten Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren erst jetzt langsam wiederentdeckt wird. Der gesellschaftliche Prozess postmoderner Fragmentation und Anomie weist auf die Tendenz zu psychosomatischer Desintegration hin, die sowohl bei Müttern als auch in Familienverbünden als Symptombildung auftritt, mit den entsprechenden gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. Nach Slavoj Žižek kann die Lücke, die zwischen Wort und Ding, zwischen Subjekt und Objekt mit Ideologie aufgefüllt wird, dazu dienen, soziale Antagonismen zu überdecken. Daher macht es Sinn, auch die Psychosomatik auf diese Lücke hin zu befragen und subjektivitäts- und objektivitätsbezogene Unterscheidungen in Fragen von Symptombildung zu treffen. Außerdem werden prä- und postnatale Interventionsansätze vorgestellt, die auf Konzepte von Bindung, Beziehung und Erziehung zurückgreifen.

Elterlicher Umgang mit ihren Kindern

Das sechste Kapitel konkretisiert die interaktionelle Perspektive im Rahmen elterlichen Umgangs mit ihren Kindern. Die Zusammenhänge von Erziehungsstilen – dem langjährig anerkannten Konzept der „parenting styles“ nach Diana Baumrind – mit emotionaler Intelligenz und Bindungsstilen diskutiert Elena Nanu, Universität Bukarest. In ihrer Studie untersucht sie 138 Elternteile im Alter von 28 bis 48 Jahren und 74 Kinder auf ihre emotionale Intelligenz sowie auf Erziehungsstile von autoritär, permissiv und autoritativ. Im Zusammenhang mit Bindungsmodi diskutiert sie deren Einfluss auf die kindliche emotionale Intelligenzentwicklung.

In Kapitel sieben wird diese Thematik auf Frühgeborene hin untersucht. Das an der Universität Bologna und in Cesena ansässige Team Neri, Spinelli, Biasini, Stella und Monti beleuchtet die Modi elterlicher Sensibilität in ihrer Wirkung auf die kognitive und interaktionelle Entwicklung frühgeborener Kinder. Frühgeburten betreffen nicht nur Mutter und Kind, sondern können die Qualität der frühen Eltern-Kind-Interaktion erheblich beeinflussen; eine problematische kindliche Entwicklung kann körperlich und seelisch die Folge sein. Die Studienergebnisse zeigen mögliche Beeinträchtigungen kognitiver und interaktioneller Entwicklung.

Ludwig Janus, Gründer des Instituts für Pränatale Psychologie und Medizin Heidelberg, stellt im achten Kapitel einige von Sigmund Freuds Konzepten im Hinblick auf pränatale emotionale Erfahrung dar, indem er den Zeitgeist der Jahrhundertwende befragt. Durch Abspaltungen verschiedener Gruppen kam es in der psychoanalytischen Tradition zu sehr heterogenen Entwicklungen in Theoriebildung und Praxis. Diese wurden noch nicht ausreichend zusammengeführt, weshalb Konzeptionen über die menschliche Realität bislang unvollständig bleiben mussten. Der Autor skizziert Vorschläge zu gemeinsamer wissenschaftlicher Verständigung.

Das neunte Kapitel widmet sich Psyche aus einer Perspektive, die an Martin Heideggers Konzept Sein zum Tode anknüpft; es verweist auf Zeit und Zeitlichkeit als unvermeidliche Faktoren des Seins, aber auch als sinnstiftende Instanzen. Die Näherung dieser Thematik erfolgt über Motive aus William Faulkners Werk und die Bergsonsche Unterscheidung von „le temps und „la durée. Letztgenannte trägt zur Bildung von Identität durch gleichzeitige Bewahrung und Überwindung von Ereignissen bei und kann hilfreich sein, um die Problematik von Subjektivitätsbildung zu erhellen. Um das „Normale“ zu verstehen, muss ohnehin das „Unheimliche“ untersucht werden.

Erziehung und Sozialisation

Die Problematik von Erziehung und Sozialisation wird im zehnten Kapitel behandelt. Walter Böhmer präsentiert eine eindrucksvolle Reflektion des Einflusses von Erziehungsmethoden auf menschliche Lebensbedingungen, in der biographische Hindernisse aus destruktiven Erziehungsmethoden hervorgehen und immer wieder neue Hindernisse erzeugen können. Dazu kann auch selbst-destruktives Verhalten gehören. Doch auch hier gibt es eine gute Nachricht: Erziehungsmethoden sind veränderbar.

Im letzten Kapitel weist Janus schließlich ein neues wissenschaftliches Paradigma für zukünftige Psychotherapien aus, das in einer Zusammenführung von frühen prä- und postnatalen Erfahrungen für die menschliche Entwicklung auf multidimensionaler Grundlage besteht. Die Marginalisierung vorsprachlicher Erfahrung hat im Rahmen der abendländischen Sprachbezogenheit zu einer Limitierung des Einblicks in Psychosomatik und menschliche Interaktion geführt. In seiner Darstellung der Psychoevolution in Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus psychoanalytischer Theorie und Säuglingsforschung zeigt er, wie die Unzulänglichkeiten mancher Theoriebildung zukünftig überwunden werden können. Die sogenannte infantile Amnesie besagt, dass wir keine Erinnerung an frühe Kindheitserfahrungen haben, zumindest keine verbalisierbare; schon denken wir, jene Zeit unseres Lebens sei bedeutungslos. Doch schon das Körpergedächtnis spricht Bände über unsere frühesten Prägungen, die Erleben und Wahrnehmung, und somit unser psychosomatische Verfasstheit, beeinflussen.

Der englischsprachige Band soll als Kompendium in Klinik und Kultur dienen; er lädt alle anthropologisch Interessierten ebenso zur Reflektion ein.

 

Goetz Egloff & Dragana Djordjevic (eds.). Pre- and Postnatal Psychology and Medicine. Nova Science, New York, 2020, 354 S., 190 $

 

 

Leben in Zeiten der Pestilenz

Bild von Sumanley xulx auf Pixabay

Im Augenblick scheint die Zeit still zu stehen. Wo sonst das Leben tobt, herrscht Stille. An manchen Orten gar Friedhofsstille. Das Coronavirus, die Pestilenz des 21. Jahrhundert, hat uns fest im Griff. Es kommt auf leisen Sohlen daher, völlig unsichtbar und geruchlos.

Ganz anders als der Schwarze Tod längst vergangener Jahrhunderte, der die Menschen mit Beulen übersäte, die so bestialisch stanken, dass die Pestärzte ihre Nasen hinter langschnäbeligen Vogelmasken verbargen. Diese Maskierung hat sich bis auf den heutigen Tag im Karneval von Venedig erhalten. Im Mittelalter, als die Pest tobte, flohen jene, die es sich leisten konnten, auf ihre Landsitze, um der Ansteckungsgefahr in den engen Gassen der Städte zu entkommen. Jene, die infiziert zurück blieben, starben in der Regel einen grausamen einsamen Tod, weil jeder, der noch gesund war, sich nicht an die Kranken heran traute. Wie wir heute wissen, wurde die Pest durch Ratten, die seinerzeit eine Art unliebsame Haustiere waren, übertragen. Genau genommen von den Flöhen, die im Pelz der Nagetiere siedelten. Mangelnde Hygiene und das enge Zusammenleben von Mensch und Tier waren der Grund, warum sich die Seuche wie ein Lauffeuer unter der Bevölkerung ausbreitete und Abertausende von Opfern forderte. In seinem Bestseller „Die Pest“ versetzt Albert Camus, französischer Literatur-Nobelpreisträger von 1957, uns in die algerische Stadt Oran, die völlig unerwartet von der Pest heimgesucht wird. Als die Menschen an einem bereits in den Morgenstunden extrem heißen Tag aufwachen, finden sie überall tote Ratten, aus deren Lefzen Blut rinnt. Am Anfang nehmen die Bewohner Orans das Phänomen lediglich mit Verwunderung und Ekel zur Kenntnis, bis die Seuche sich zu einer Pandemie ausweitet. Wenn Covid 19 auch nicht die Pest ist, so sind Parallelen zu unserer heutigen Situation unverkennbar. Ein absolut lesenswertes Buch, von dem der Rowohlt Verlag gerade seine 90. Auflage druckt. Zu empfehlen ist das Original in französischer Sprache, das bei folio erscheint und in jeder guten Buchhandlung zum Preis von 11 Euro bestellt werden kann. Da die meisten von uns zurzeit ohnehin viel Muße zum Lesen haben, bietet „La Peste“ sich an, brachliegende Französischkenntnisse aufzufrischen, zumal Camus sich einer schnörkellosen Sprache bedient, die ohne langatmige Schachtelsätze auskommt und somit relativ leicht zu lesen ist. Sein Stil entspricht dem Ideal französischen Denkens, das treffend mit „clareté cartésienne“ umschrieben ist.

Schlangen, Schildkröten und Gürteltiere

Aber zurück zur Coronakrise, die uns so kalt auf dem falschen Fuß erwischt hat. Der Schuldzuweisungen gibt es viele. Die Chinesen sind mit ihrer Verschleierungspolitik verantwortlich für die Pandemie, heißt es mehrheitlich. Hätte die Regierung rechtzeitig mit offenem Visier gekämpft, wäre China und dem Rest der Welt viel erspart geblieben. So die öffentliche Meinung. Aber woher kommt nun dieses neuartige Virus (lateinisch Gift)? Etwa von den Tiermärkten in China, auf denen sowohl lebende Schlangen als auch Schildkröten, Gürteltiere und andere exotische „Leckerbissen“ angeboten werden. Oder gar von den Fledermäusen, die sich in Höhlen aufhalten, in denen listige Reptilien auf sie lauern, um sie alsbald mit Haut und Haaren zu verschlingen? Wahr ist, dass die chinesische Küche alles verwertet, das da kreucht und fleucht. Schlangen gelten nun einmal als besondere Delikatesse, und das nicht nur bei den Einheimischen. Während meines längeren Aufenthalts in Hongkong lernte ich Franzosen kennen, die regelmäßig bei einem großen Fresstempel in Guangzou (Kanton) nachfragten, ob sie „snake soup“ auf der Speisekarte hätten. Ein Hochgenuss, wie mir versichert wurde, schmeckt wie ganz feines Hühnerfleisch. Ich selbst habe diese dunkle Brühe nie gekostet, weil ich einen Horror vor Schlangen habe. Aber nun sollen diese Kriechtiere schuld an Covid 19 sein, die sich durch den Genuss von Fledermäusen infizierten? Manche behaupten gar, die Chinesen verspeisten Fledermäuse. Bei so vielen Meinungen und noch mehr Gerüchten weiß letztlich keiner mehr, was Sache ist. Dass die Seuche sich besonders in Norditalien ausgebreitet hat, wurde zunächst auf einen Europäer zurückgeführt, der sich vorher in Wuhan aufgehalten hatte, wo Covid 19 ausgebrochen war, bis schließlich die vielen chinesischen Arbeitskräfte in der Textilindustrie Norditaliens als Sündenböcke herhalten mussten.

Normal ist etwas anderes

Gleichwohl, wer es auch immer gewesen sein mag, wir sitzen alle in der Falle. Während viele sich im „Homeoffice“ befinden, also jetzt ihre Arbeit von zu Hause verrichten, oder jene, die zwangsweise pausieren müssen und um ihren Job bangen, „ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst,“ wie es einst der unübertreffliche Satiriker Karl Kraus formulierte. Genau genommen stimmt diese Aussage sogar. So wird uns von höchster Stelle versichert, dass die Ausgangssperre nach Ostern nach und nach gelockert werden soll. Normal ist immer noch etwas anderes. Doch Frankreich gegenüber sind wir klar im Vorteil. Ich las gerade. dass die Pariser Bevölkerung sich gerade einmal einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernt täglich für eine Stunde aufhalten darf zwecks Einkauf oder Spaziergang. Joggen hingegen ist strikt verboten. Warum? Das können auch die Polizisten, die die „Ausflügler“ akribisch kontrollieren, nicht erklären. Alles par ordre de mufti – und da gibt es nun mal nichts zu hinterfragen. Compris? War es nicht ein prominenter Franzose, der weiland predigte – Zitat: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Ein Ausspruch des berühmten französischen Mathematikers Blaise Pascal, eines Zeitgenossen und Bewunderers von René Descartes, der sicherlich stundenlang in seiner Studierstube über mathematischen Formeln brütete und dabei die Zeit vergaß. Suum cuique – jedem das Seine, lieber Monsieur Pascal. Aber wo ständen wir heute, wenn sich keiner unserer Vorfahren vor seine Höhle gewagt hätte und ins Ungewisse getreten wäre? Es gäbe unendlich viel aufzuzählen. Aber lassen wir es dabei, dass wir weder Telefon noch Internet hätten. Vom Computer, an dem viele von uns ihre tägliche Arbeit verrichten, ganz zu schweigen. Auch dieser Artikel, den ich gerade schreibe, käme nicht in das Online-Magazin der Auswärtigen Presse e.V. Wir werden in einer nicht zu fernen Zukunft wieder auf die Straße, ins Theater, in Konzerte und auf Ausstellungen gehen können. Das gleiche gilt für Sportveranstaltungen, Schwimmbäder und Muckibuden. Freuen wir uns also auf die Post-Corona-Zeit! Was pflegte doch meine kluge, im 97. Lebensjahr gestorbene Mutter zu sagen, wenn eine Situation ausweglos erschien: „Kein Zustand dauert ewig.“ Genauso ist es. Mein Lieblingssatiriker Harald Martenstein wies in seiner letzten Glosse darauf hin, dass Mails neuerdings nicht mehr mit dem üblichen Kürzel mfg – mit freundlichen Grüßen – geschlossen würden, sondern mit bsg – bleiben Sie gesund – im Falle von Duzfreundschaften schlicht mit bg – bleib gesund.

Ich meinerseits wünsche Euch allen von ganzem Herzen:
Bleibt’s g’sund. Und auf sehr bald in alter Frische!

Eure
Uta Buhr

 

Eine Psychoanalyse des Mädchens

Buchcover

Rezension zu Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens.
Klett-Cotta, Stuttgart, 2017, Neuauflage 2019

Die Autorin, langgediente Psychoanalytikerin und Lehrstuhlinhaberin für Entwicklungspsychologie an der Mainzer Universität, legt einen reichen Band zur weiblichen Psyche vor. Nach der Altersentwicklung unterteilt, werden unter Einbeziehung aktueller Forschungsliteratur die phasenspezifischen Besonderheiten vom frühesten Kindes- bis ins Erwachsenenalter dargelegt und ausführlich die familiendynamischen Implikationen wie auch speziell die Eigenheiten der Mutter-Tochter-Beziehung erörtert.

Problembereiche weiblicher Entwicklung bis ins Erwachsenenalter

Dem über 400 Seiten starken Werk merkt man die langjährige praktische und forscherische Erfahrung an, und nicht nur Kollegen und Kolleginnen, die auch Kinder behandeln, auch interessierten Laien, die die sehr spezifischen Problembereiche weiblicher Entwicklung bis hinein ins Erwachsenenalter nachvollziehen möchten, kann dieser Band empfohlen werden.

Erfreulich ist dabei einerseits der Bezug auf die zur Zeit aus der Mode gekommene Triebtheorie, die auch notwendig ist, um dem Trend zur Auflösung der Psyche in bloße Beziehungsaspekte entgegenzuwirken. Dennoch ist die Beziehungsdimension des Psychischen in den Ausführungen der Autorin immer vorhanden, so wie auch die somatischen Aspekte von Weiblichkeit stets beleuchtet werden. So beschreibt Seiffge-Krenke eindrucksvoll die Eigenarten von Prä-Adoleszenz und Adoleszenz; der gar nicht so selten auftretende Fall von Unterbauchbeschwerden im Jugendalter führt beispielsweise häufig zum Drängen von Müttern auf operativ-technische Intervention bei ihren Töchtern. Hier gibt der Band klaren Einblick in die psychosomatische Gemengelage und die Familiendynamik.

Es dominieren hier nicht Säuglingsforschung oder akademische Psychologie, sondern konsequent psychodynamische Konzepte. Wiederum muss angemerkt werden, dass zwar ein beträchtlicher, doch eben nur ein Teil der Psychoanalyse des Mädchens vertreten ist, die schon in Frankreich an einigen Stellen anders beschrieben wird. So beklagt die Autorin die ex-negativo-Definition des Weiblichen durch viele klassische Triebtheoretiker – was nicht automatisch heißt, dass das Mädchen mehr als der Junge ein Mängelwesen ist; ein Fehlschluss, dem nicht wenige Analytiker unterliegen. Die Negation bezieht hier aus dem Negierten ihre Kraft; es gibt dazu verschiedenste Überlegungen und gelungene Richtigstellungen (vgl. Fellmann & Redolfi 2017). Zudem ist aus der Praxis gut bekannt, wie weibliches Empfinden sich im Körperlichen konstellieren kann und dass die Bedeutung des Phallus nicht bloßer Theorie-Fetisch ist. Selbst der Phallus, der Penis plus die psychische Vorstellung von Mangel, ist aber ohne eine gute Portion Strukturalismus nicht zu verstehen.

Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens wird in diesem Band jedoch in vielen Facetten behandelt, die zu einem breiten Bild führen und auch ins Detail gehen. So findet auch die Rehabilitierung der Urethra als psychosexuelles Organ ihren Platz. Wiederum bleibt die gesellschaftliche Dimension etwas unterrepräsentiert, so zum Beispiel wenn es um die Frage nach der Konzeption eines Ich geht, das mit gesellschaftlichen und anderen Strebungen konfrontiert wird, die im Individuationsprozess aufeinanderprallen. Man könnte fragen: wo ist das je, wo das moi? Kategorien, die nicht nur bei Ärzten des Seelendunkels auftauchen, sondern etwa auch im gut beleumundeten symbolischen Interaktionismus eines George Herbert Mead.

Manche neuen und alten Problemstellungen wie die der repressiven Entsublimierung (vgl. Kroll 2018; Pfaller 2009) müssten einer Integration zugeführt werden, anstatt, wie es der Band an manchen Stellen tut, die durchaus fragwürdige Möglichkeit menschlicher Vollständigkeit zu suggerieren. So wie wir uns alle vorstellen können, was mit Identität gemeint ist, so schwierig, ja vermutlich unmöglich ist dieses Konzept, und nur vor pragmatischem Hintergrund ist es halbwegs nützlich. Personale Identität, die, wenn überhaupt, eben einmal im Sinne eines Selbst in adaptiver Bewegung zwischen den Polen Totalität und Diffusion (Straub 2017) zu verstehen ist, trifft nicht nur auf Deprivation, sondern auch auf Verwerfungen der lebensweltlichen strukturellen Ordnung, die Depravation genannt werden dürfen.

Wo ist das Irrationale?

Als ergänzende Fragestellung bleibt ebenso offen, wo eigentlich das Irrationale, das Widersinnige ist, das sowohl in, aber auch außerhalb des methodologischen Individualismus zu finden ist und auch in der Praxis erscheint. Gewiss fühlen wir uns einer rational-empirischen Taxonomie verpflichtet, doch auch die therapeutische Praxis wird mit den Verwerfungen der Postmoderne konfrontiert. Und so bleibt das psychoanalytische Mindestziel der  Ablösung infantiler Bindungen (Stuttgarter Gruppe 1995) ähnlich unterbetont wie die Diagnostik der Auflösung struktureller Ordnung, die eine Neubestimmung der Subjektposition verlangt, die zwischen Weltlosigkeit und Welthaltigkeit pendelt, aber keinen Anspruch auf irgendeine Legitimation stellt. So stellt die Dezentrierung des Subjekts womöglich nicht die Lösung, sondern das Problem dar (vgl. Egloff 2015).

Vielseitige Zugänge zu weiblichem Erleben

Zudem gibt es Performanz-Aspekte, die auf Trieb-Objektbeziehungs-Konstellationen hinweisen, in denen der psychoanalytische Akt (Schmid 2001; Egloff 2012)  Transformationen herbeiführt oder anstößt. Daher ist dieses Konzept von enormer Bedeutung auch für Behandler, die nicht genuin analytisch arbeiten. In Ansätzen zur Performanz ist dies in Seiffge-Krenkes Band vorhanden. Die große Stärke liegt aber eher in den Grundlegungen weiblicher Sozialisation und Persönlichkeitsbildung sowie den vielseitigen Zugängen zu weiblichem Erleben auf leiblich-seelischer Ebene, und dies sehr gut lesbar. Historische und literarische Fall-Vignetten geben dem Band dazu eine leichte Note und bieten eine fundierte Psychologie und Psychopathologie des Weiblichen in Form einer engagierten Bestandsaufnahme der klinischen psychoanalytisch-entwicklungspsychologischen Praxis. Dennoch läuft es darauf hinaus, dass manche Konzeptionen des Psychischen neu durchdacht werden müssen. Im Grunde hat die Psychologie gleichermaßen mehr Biologie und mehr Soziologie nötig.

 

Literaturhinweise:
  1. Egloff G (2012). Objektbeziehung und Performanz – zur relationalen Dynamik der Libido. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Jg. 61, 7, S. 497-511.
  2. Egloff G (2015). Integrative Psychoanalyse. In: Janus L, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Verantwortung für unsere Gefühle. Mattes, Heidelberg, S. 301-333.
  3. Fellmann F, Redolfi E (2017). Aspects of Sex Differences: Social Intelligence vs. Creative Intelligence. In: Advances in Anthropology, Jg. 7, 4, S. 298-317.
  4. Kroll A (2018). Aktuelle Perspektiven zu Sozialisation und Kindheit (Rezension zu Egloff G  (ed.), Child-Rearing: Practices, Attitudes and Cultural Differences, New York, 2017). In: Deutsches Ärzteblatt PP, Jg. 16, 7, S. 332.
  5. Pfaller R (2009). Die Sublimierung und die Schweinerei. In: Psyche, Jg. 63, 7, S. 621-650.
  6. Schmid M (2001). Der psychoanalytische Akt. In: Gondek HD, Hofmann R, Lohmann HM (Hg.). Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 49-73.
  7. Straub J (2017). Personale Identität. Vortrag, 31. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP), Der Wandel der Identitätsstrukturen und Beziehungen im Laufe der Geschichte, Heidelberg, 17. März 2017.
  8. Stuttgarter Gruppe (1995). WSPO analytische Psychotherapie, Kinder und Jugendliche.

Auszüge aus dieser Rezension sind erschienen im Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, Gablitz/AT, 2018; 19 (1), 45 und in gyn – Praktische Gynäkologie, Hamburg, 2019; 24 (4), 339-340

Der Mann mit den goldenen Händen. Eine Hommage an Ferdinand Sauerbruch in der Charité

Operation am Brustkorb („Thorakoplastik“) 1922, Ölgemälde, Hermann Otto Hoyer, Kunstsammlung Charité, Foto: Thomas Bruns, Berlin

Die Ausstellung „Auf Messers Schneide“. die bis zum 2. Februar 2020 im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité läuft, ist ein posthumes Heimspiel für den legendären Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875 bis 1951). Denn in diesem Krankenhaus feierte der „Mann mit den goldenen Händen“ seine größten Erfolge. Die Ausstellung verzeichnet täglich bis zu dreihundert Besucher.

Beim Betreten des ersten Saales sticht der riesige Schreibtisch des Chirurgen ins Auge. Dahinter an einem Nagel hängt sein weißer Arztkittel. Die Brille mit den kreisrunden Gläsern ruht gleich nebenan in einer gläsernen Vitrine. Man könnte meinen, Sauerbruch habe gerade sein Zimmer verlassen und würde jeden Augenblick zurückkommen, um einen Patienten zu empfangen. Während wir auf ihn warten, begeben wir uns auf einen Rundgang durch sein bewegtes Leben, das in den Ausstellungsräumen bis ins kleinste Detail dokumentiert ist.

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch 1932, Max Liebermann, Öl auf Leinwand, © Hamburger Kunsthalle /bpk, Foto: Elke Walford

Sauerbruch wuchs im ostrheinischen Barmen in kleinbürgerlichen Verhältnissen als Enkel eines Schuhmachers auf. Nach dem von seiner Familie geförderten Medizinstudium und Stationen an Krankenhäusern in Erfurt und Kassel begann sein kometenhafter Aufstieg als bald weltberühmter Chirurg, der aufgrund seiner Erfolge im OP-Saal von der internationalen Presse mit Elogen überschüttet wurde. „Meister des Skalpells“, „Gigant der Chirurgie“, „Sieger über den Tod“ und „König der Chirurgen“ waren nur einige der ihm zugedachten Titel. Beim Anblick der aus dem frühen 20. Jahrhundert stammenden Gerätschaften wie Peritonalklammern, Zungenzangen und Leberhaken staunen die jüngeren Besucher. Mit so primitivem Handwerkszeug haben die Altvorderen hantiert? Der klobige OP-Tisch mit den ledernen Halteriemen lässt sie erschaudern. „Sieht ja aus wie eine Folterbank mit Fesseln“, flüstert einer. Kaum vorstellbar, dass unter diesen heute so antiquiert wirkenden Bedingungen Medizingeschichte geschrieben wurde. Weltweite Anerkennung fand Sauerbruch durch seine Operation am offenen Brustkorb, die der Maler Hermann Otto Hoyer 1932 auf einem lebensgroßen, hier ausgestellten Gemälde eindrucksvoll festhielt.

Die vielen Tondokumente, bei denen der Chirurg selbst zu Worte kommt – sei es im Hörsaal oder im Gespräch mit Kollegen – helfen, die Persönlichkeit des Menschen Sauerbruch zu verstehen. Offenbar war er mit einem rheinischen Humor gesegnet, den seine Studenten sehr schätzten. Da kommen Zweifel an dem Etikett „Halbgott in weiß“ auf, das ihm manche seiner Zeitgenossen ans Revers geheftet hatten. Es ist bekannt, dass Sauerbruch stets das Wohl seiner Patienten über alles andere stellte. Zitat: „Arzt ist nur der, der nicht an sich selbst denkt, sondern an seine Mitmenschen, der Verständnis hat für die Qual der Kranken.“ Der Eid des Hippokrates in seiner edelsten Form.

Ein Teil der Ausstellung befasst sich akribisch mit der Rolle Sauerbruchs während des Dritten Reiches. Warum hat er nicht klar Stellung gegen die Diktatur bezogen, lautet die Frage. Und stimmt es, dass er von den perfiden medizinischen Versuchen der Nazis am lebenden Menschen wusste und nichts dagegen unternahm? Fest steht, dass er an diesen Machenschaften nicht beteiligt war und nach 1945 von jeglicher Schuld freigesprochen wurde. „Sauerbruch ist beleidigt“, lautet eine Schlagzeile, als der Chirurg empört darauf hinweist, er habe auch während des Krieges seine Pflicht an seinen Patienten erfüllt. Denn selbst als Berlin lichterloh brannte und alliierte Bomben auch die Gebäude der Charité nicht verschonten, stand er Tag und Nacht im Bunker des Hospitals am OP-Tisch und operierte gewissenhaft jeden, der unter sein Skalpell kam.

Es lohnt sich, den Nachruf auf den großen Sauerbruch anzuhören, der am 2. Juli 1951 über den Äther ging. Ein mit Pathos gesprochener Kommentar, der den Dienst des Chirurgen am Menschen würdigte – ohne Wenn und Aber. De mortuis nil nisi bene.

Prothesenwand Arm- und Handprothesen 1920er – 1950er Jahre, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité Foto: Thomas Bruns, Berlin

Dieser Artikel erschien im November im „Deutschen Ärzteblatt“ und im Dezember in der Preußischen Allgemeinen Zeitung

Medical Beauty: Botox kann nicht nur Falten, sondern auch schlechte Stimmung (be)heben

psychiatrist with patient
Foto: Götz Egloff

Die Behandlung der Glabellafalte mit Botulinumtoxin, einer der häufigsten ästhetisch-dermatologischen Eingriffe, kann auch chronische Stimmungsschwankungen bessern.

Es ist eine kleine Sensation, die in der Praxis durchaus bekannt ist, und die eine Baseler Forschergruppe im Journal of Psychiatric Research veröffentlichte: der enge Zusammenhang zwischen Seele und Körper ist durchaus empirisch nachweisbar.

Eine ausgeprägte Zornesfalte kann einen negativen Ausdruck signalisieren, der unabhängig von der tatsächlichen Stimmungslage ist. Die Botoxtherapie kann solch einen ungewollten Ausdruck auf der Stirn elegant korrigieren. Die Erfahrung zeigt, dass nicht nur Freunde oder Kolleginnen die Veränderung bemerken, sondern man auch selbst den neuen Ausdruck als Überraschung empfindet. Neben der kosmetischen Wirkung ist dann eine stimmungsaufhellende Wirkung zu beobachten, die von der Forschung als durchaus signifikant beschrieben wird. Die sogenannte Facial-Feedback-Hypothese, die bereits von Charles Darwin im Jahr 1872 begründet wurde und die den Zusammenhang von Gesichtsmuskeln und Gefühlswahrnehmung beschreibt, wird hier eindrucksvoll bestätigt. Die Kontraktion mancher Gesichtsmuskeln verstärkt also manche Emotionen, sowie eine Überaktivität anderer Muskeln mit depressivem Empfinden in Verbindung steht.

Die sogenannte Denervationsbehandlung der Glabellafalte mit Botox wäre damit als begleitendes Psychotherapeutikum wirksam, da experimentell insbesondere bei dieser Behandlung der Effekt nachweisbar ist. So führte die Botoxbehandlung der Zornesfalte bei etwa zwei Drittel der Probandinnen zu Stimmungsverbesserungen, bei einem Drittel gar zu einem Verschwinden jeglicher depressiver Symptomatik. Bei der Kontrollgruppe, die mit Placebo behandelt wurde, waren diese Effekte nicht festzustellen. Ein erstaunliches Ergebnis. Und: Nebenwirkungen sind extrem selten (vgl. Kerscher & Streker 2010), bei fachgerechter Anwendung ist regelmäßig mit guten Ergebnissen zu rechnen. So wie Hyaluronsäure als Radikalfänger fungiert und Lifestyle Auswirkung auf die Seele hat (vgl. Egloff, Bender, Römer 2018), haben Dermatologie und Endokrinologie große Relevanz für das psychosomatische Empfinden, das damit auch auf verschiedenen Wegen beeinflussbar ist.

 

Literaturhinweis:

Wollmer et al. Facing depression with botulinum toxin. J Psychiatric Research 2012; 46(5):574-581.
Martina Kerscher, Meike Streker. Botulinumtoxin A: Tipps und Tricks für die dermatologische Praxis. Ästhetische Dermatologie 2010; 3(2):33-43.
H.H. Rüttinger, H. Trommer. Hyaluronsäure als Radikalfänger. In: Wohlrab, Neubert, Wohlrab (Hg.). Hyaluronsäure und Haut. Aachen 2004; 266-286.
Egloff, I. Bender, J. Römer. Conception and lifestyle. J Androl Gynaecol 2018; 6(1):1-8.

 

 

„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfeld las aus ihrem neuesten Buch

Maren Schönfeld, Sabine Witt
Foto: Wolfgang Schönfeld

Nicht umsonst beginnt das neueste Buch von Maren Schönfeld, der preisgekrönten Lyrikerin, mit einem Gedicht: „Du hast mir den Rücken gebeugt, mir im Nacken gesessen, meine Träume aufgezehrt, mir die Zeit gestohlen…“ Schon die ersten Zeilen von „Strategie des Schmerzes“ treffen den Leser mitten ins Herz. Da schreibt eine Autorin, die es von frühester Kindheit an lernen musste, mit teilweise unerträglichen Schmerzen zu leben. Da, wie Maren Schönfeld bereits im Vorwort anmerkt, Krankheit in unserer Gesellschaft als Störfaktor wahrgenommen wird, stellt der Umgang mit einem chronischen Leiden, gegen das bis heute kein wirksames Medikament entwickelt wurde, eine fast übermenschliche Herausforderung für die Betroffenen dar. Aber das Buch der Autorin mit dem etwas sperrigen Titel „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“, soll all jenen Mut machen, die sich bereits in ihr Schicksal ergeben haben und resigniert meinen, man müsse das Leiden halt so hinnehmen. Dass dies nicht so ist, beweist dieses schmale Werk auf jeder seiner 148 Seiten.

Odyssee durch Arztpraxen

Die in Kapitel 1 geschilderte gesundheitliche Geschichte der Autorin beschreibt ihre schier unendliche Odyssee durch die Praxen von Orthopäden, Physiotherapeuten, Allgemeinmedizinern und Schmerztherapeuten. Verblüfft sind alle über die enorme Beweglichkeit ihrer Patientin, die zudem noch regelmäßig Yoga treibt. Doch gerade diese „Hypermobilität“, die einer der Ärzte schließlich diagnostiziert, ist Maren Schönfelds Problem. Hier liegt der Schlüssel, der der Patientin ihr Krankheitsbild in einem anderen Licht zeigt und sie nach Rücksprache mit Fachleuten darin bestätigt, dass ihre Strategien, mit den Schmerzen zu leben, die einzig richtigen sind.

Akribisch blättert Maren Schönfeld ihr Leben vor uns auf, beginnend mit ihrer Geburt im Jahre 1970. Nachdem die Großmutter feststellt, dass ihr neun Monate altes Enkelkind zwei verschieden lange Beine hat und verschiedene Ärzte sich dieses Problems annehmen, beginnt eine unendliche Leidenszeit für das kleine Mädchen. Nur ein paar Stichworte: Die diagnostizierte Hüftdysplasie und linksseitige Hüftluxation erfordern nicht nur ständiges Röntgen, sondern auch Spreizhosen und Eingipsung bis zur Taille. Schlimmer geht’s nimmer. Oder etwa doch? Der aufmerksame Leser wird auf den folgenden Seiten eines Besseren belehrt und wundert sich darüber, was ein Mensch – zumal ein so junger – alles aushalten kann.

Foto: Wolfgang Schönfeld

Maren Schönfeld protokolliert in den folgenden Kapiteln, wie sie trotz aller Widerstände und Schmerzen ihr Leben gemeistert hat. Es muss nicht betont werden, dass sie es in der Schule, wo Sport immer eine übergeordnete Rolle spielte, nicht leicht hatte. Da Maren langsam ist, wird sie nolens volens von den Mitschülern als Letzte in eine Mannschaft aufgenommen und mit Hand- und Medizinbällen attackiert, wenn sie im Tor steht. Aber Schwamm drüber, denn die Autorin hat einen wachen Verstand und kompensiert all diese Widrigkeiten mit ihrem Interesse an Literatur. Während andere laufen, springen und turnen, verschlingt sie Bücher von Erich Kästner, Christine Nöstlinger, Astrid Lindgren, Otfried Preußler und anderen Autoren. Ein gutes Beispiel dürfte Astrid Lindgren, die geistige Mutter von Pipi Langstrumpf, gewesen sein, die bekanntlich mit dem Schreiben ihrer weltweit berühmten Werke begann, als eine längere Krankheit sie ans Bett fesselte.

Zwischengedichte

Und da sind wir bereits bei einem weiteren Aspekt von „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfelds wunderbaren Gedichten, die sie zwischen die Kapitel über ihre Krankheitsgeschichte eingestreut hat. Nicht immer leichte Kost, wie das folgende Gedicht „An der Angsthand“ beweist:
Gehen
kleine Schritte
die Angsthand hält
das klopfende Herz
keine Angst sagt die Angst
ich bin ja da lasse dich nicht
(S. 100)

Vom Alltag mit chronischen Schmerzen

In Kapitel 7 schildert Maren Schönfeld ihren Alltag mit „benennbarem“ und „unbenennbarem“ Schmerz. Sie weist darauf hin, dass alles Benennbare von anderen akzeptiert und mit Ratschlägen bedacht wird, während der Leidende mit dem nicht benennbaren Schmerz ganz allein ist und keine Hilfe von außen erwarten kann: „Du gehst durch tiefste Täler und stehst irgendwann wieder oben, und nebenbei lebst du dein Leben, spielst deine Rollen, und vielleicht ist das für andere Menschen das Hauptleben“, schreibt sie. Noch tiefere Einblicke in das zum Teil grausame Erleben der Betroffenen gewährt Maren Schönfelds Gedicht „Schmerz pur“ auf Seite 105.

Das vorletzte Kapitel dieses aufrüttelnden Buches beinhaltet alphabetisch geordnete „Praktische Stärkungen von A bis Z“, beginnend bei Arbeit, über Bewegung, Disziplin und Experimentieren bis W wie Wärme. Zu Z ist ihr nichts eingefallen, dafür aber zu gerade für die Damenwelt wichtigen Themen wie Kleidung, Kosmetik, Kultur und Schuhe. Letzteres dürfte jedoch ein Problem darstellen für jene Frauen, die gern auf sogenannten high heels herumstöckeln, auch wenn die Füße schmerzen. Maren Schönfelds Credo lautet: “Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir nur Schuhe tragen, in denen wir so gut wie möglich gehen können.“ Gut gebrüllt, Löwin. Aber sei’s drum.

Zu guter Letzt noch ein paar wertvolle Tipps von A bis Z im Hinblick auf mentale Stärkungen: Von Annehmen und Achtsam sein bis Zutrauen. Dem letzten Punkt, der sich eingehend mit dem Fortschritt der Medizin und besseren Behandlungs- und Heilungsmethoden als im Jahr des Heils 1970 befasst, sollte besondere Beachtung geschenkt werden. Denn hier keimt Hoffnung für alle Betroffenen auf.

Wer sich durch Maren Schönfelds Buch „durchgeackert“ hat, ist um viele Erkenntnisse reicher. Es dient auch als Anleitung für uns “Gesunde“, die nur hin und wieder eine Schmerztablette nehmen, sich in die Welt jener hinein zu versetzen, die tagtäglich mit zum Teil unerträglichen Schmerzen leben müssen. Es ist daher jedem zu empfehlen – ob Schmerzpatient oder nicht. Ein wenig Demut hat noch keinem geschadet. Dieses Buch ist nicht nur wegen seines klaren verständlichen Stils lesenswert, sondern beeindruckt besonders dadurch, dass die Autorin trotz ihres Leidensdrucks an keiner Stelle in Larmoyanz verfällt.

Die Lesung fand am 12. Juli in den Bethanien-Höfen der Evangelisch-Methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf auf Einladung der Hamburger Autorenvereinigung statt. Sabine Witt, die Vorsitzende der HAV, leitete die Veranstaltung gewohnt souverän.

Buchcover
(c) Verlag Expeditionen

„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ ist im Verlag Expeditionen erschienen, hat 148 Seiten und kostet € 6,90 als Taschenbuch und als E-Book € 3,99.
ISBN: 978-3-947911-07-3

Rezension zu Martin Altmeyer: Auf der Suche nach Resonanz –

wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2016

„Der totale Staat, mochte er sich nun als 1000-jähriges Reich oder elektrifizierte Sowjetmacht darstellen, beruhte auf der Emergenz jener gigantischen Beeinflussungsmaschinerie, die auch noch den abgelegensten Herrgottswinkel gleichzuschalten vermag. (…) Und so konnte sichtbar werden, was die politischen Differenzen und Unterschiede zuvor verschleierten: dass nämlich die entscheidende Botschaft nicht in dieser oder jener Lehre ruht, sondern dass sie in den Medien selbst verborgen liegt“ (Burckhardt 2008, S. 70).

Was Martin Burckhardt hier luzide zusammenfasst, beschreibt nichts weniger als die Ermöglichung des Aufstiegs von Totalitarismen. Und so sei diese Rezension auf jeden Fall eine Kauf-Empfehlung. Denn, wie der Autor Altmeyer weiß, ist die digitale eine mentale Revolution. Er hält Digitalisierung für eine Öffnung und nicht für eine Zersetzung. Vor diesem Hintergrund wird Christopher Bollas´ Argumentation vom IPV-Kongress 2015 immer nachvollziehbarer. In seiner Gegenrede hält Altmeyer letztendlich Bollas vor, es gäbe kein ´age of bewilderment´, keinen zunehmenden Horizontalismus mit Verlust von Denk- und Gefühlstiefe, keine Tendenz zu nur noch Beziehung statt Essenz, keine Homogenisierung mit Entwertung der Bedeutung von Differenz (in der alle gleich, und auch alles gleich wichtig wird), keine ´sightophilia´ mit exazerbierender Lust am Sehen und Gesehenwerden, keine Unlust auf Einsicht. Altmeyer tut alles, um Bollas´ Belege zu entkräften: keine jüngeren Patienten mit niedrigem Bildungsniveau, eingeschränkter Reflektionsfähigkeit, restringiertem Sprachcode, woraus, so Bollas, ein ´subjecticide´ folge. Bollas´ Aufforderung, den Mord am Subjekt – wenn schon nicht verhinderbar – doch durch die Psychoanalyse wenigstens kritisch zu begleiten, hält Altmeyer schon für Anmaßung. Stattdessen nimmt Altmeyer für seine Diagnostik in Anspruch, wohlwollend zu sein – was wenig Sinn macht. Wohlwollend ist man zum Menschen, oder zum Patienten, aber nicht zur Theorie oder zu den Phänomenen. Womöglich hat sich der Autor in seiner eigenen Vernetzungstheorie verfangen – das dezentrierte Ich erschiene in ganz neuem Licht.

Es fällt dennoch nicht ganz leicht, den vorliegenden Band seiner verdienten Kritik zu unterziehen – wie soeben sehr elegant in der ´Psyche´ erfolgt (Senarclens de Grancy 2019) –, denn die Stimme des Autors macht einen sympathischen Eindruck, zeugt von Neugier und Beobachtungsgabe, ist in vielen Gebieten bewandert und beweist immer wieder guten Geschmack. Und das ist nicht ironisch gemeint. Dass ein durchaus renommierter Wissenschaftler und Psychotherapeut dann, ähnlich wie es schon sein Kollege Martin Dornes – noch erheblich weitreichender, dafür mit weit weniger Charme – gemacht hat (vgl. Egloff 2017b), virtuelle Stumpfheit zu verteidigen antritt, ist geradezu symptomatisch. Ist es das Alter, das Anschluss an die Jungen halten will und den Nach-68ern, die die hochambivalenten Ergebnisse der Revolution nicht einzuordnen wissen, zu Munde redet? Oder ist es das Ergebnis einer Frankfurter Intellektuellen-Umgebung, die in jeder Mode die Revolution sieht, gewissermaßen der Stahlhelm-Flügel der CDU mit umgekehrten Vorzeichen? Was ist da eigentlich los, möchte man fragen.

Von mentaler Verfassung spricht Altmeyer, und auch von der postheroischen Persönlichkeit (dies scheint der Traum aller Kinder der 1950er zu sein, verständlich), obwohl er immerhin das Konzept nicht ganz teilt. Viele solcher Konzeptionen müssen höchst kritisch gesehen werden (vgl. Brüggen 2012), drohen diese jede tiefer gehende Erkenntnis in die seichten Gewässer der Postmoderne rutschen zu lassen. Eher sinnvoll sind hingegen Konzepte, die der Entfremdung, die der menschlichen ödipalen Entwicklung entgegenstehen kann (vgl. Swales 2007; 2012) und somit Pathologie befördert, genug Platz einräumen. Sonst würde postheroisch nichts anderes bedeuten als post-bescheiden, post-reflexiv, post-kompetent. Im Zeitalter von Post-Rechenschaft und Post-Leidenschaft wäre sie postmodern in all ihren pathologischen Facetten. Wiederum hätte dieses insofern unbemerkt Ähnlichkeit zu Konzepten von Alain Badiou, als dass man diesem vorhält, eine nicht-pathetische Politik zu fordern, also eine Politik der Wahrheit, nicht der Leidenschaft. Doch nicht nur die Frage, ob so etwas wie Wahrheit vor, mittels oder nach Leidenschaft kommt, bleibt Altmeyer schuldig.

Es wäre in der Tat gut, wenn Menschen nicht mehr so anfällig für Totalitarismus – oder Totalismus (Lifton 1993) – wären, aber ist dem wirklich so? Der medialen Digitalisierung eine demokratiefördernde Wirkung bescheinigend, ist Altmeyers Mantra nämlich: sozialer Widerhall um jeden Preis. Der virtuelle Kapitalismus als Resonanzkatalysator? Nichts gegen Resonanz – wir brauchen sie alle – aber es gibt eben auch Resonanzpathologie. Und gibt es jenseits von Surfern, Driftern und Depressiven (Rosa 2015) noch etwas anderes im virtuellen Raum? Die beziehungsorientierte Erklärung, nach der sich die depressive Störung als Form von Entfremdung im Sinne von Resonanzlosigkeit konstelliert – weil alles zur Disposition steht –, verweist nämlich deutlich auf Aspekte des medialen Zeitalters. Mit Leuzinger-Bohleber – doch das Konzept ist nicht neu – kann die depressive Störung als extreme Entschleunigung, als Verweigerung gegenüber den Lebensverhältnissen verstanden werden (Leuzinger-Bohleber 2015), sozusagen in der Dialektik von Aneignung und Widerstand (vgl. Egloff 2015; 2017b). Remanenz würde damit zur privaten Notwendigkeit, mit der beschleunigten Umwelt in überlebensdienlichem Modus umzugehen. Der Heidelberger Psychiater Hubertus Tellenbach (1914-1994), der das Konzept der Remanenz, des psychischen Zurückbleibens hinter wie auch immer gearteten Erwartungen, entwickelte, eröffnete nicht nur für die Psychopathologie eine neue Dimension; sie reicht hinein in die Postmoderne, in der Subjektivität und Identität deutlichen Gefährdungen unterliegen (Janus 2017). Es wäre also geradezu gesund, das Zurückbleiben, die Entschleunigung, zu vollziehen und zu fördern. Denn die von Altmeyer beschriebene Faszination, die von Medien ausgeht, ist nicht neu – neu ist aber das Ausmaß der medialen Flutung, die mittlerweile alle lebensweltlichen Sphären okkupiert. So ist Altmeyer mit seinen Überlegungen zur Geheimnissuche in den Medien durchaus auf der richtigen Spur, diese führt aber nicht etwa zu Identität oder Authentizität, sondern in ihr Gegenteil.

Altmeyers affektive Abenteuer im Bestehenden wirken seltsam schlicht neben Alain Badious Diagnose vom zeitgenössischen Subjekt, das „leer, gespalten, a-substanziell, irreflexiv“ (Badiou 2005, S. 553) ist. Man muss vielleicht nicht die ´famous last words´ eines Steve Jobs gegen die Shakespeares ins Feld führen, wie es Terry Eagleton (2013) tut, man kann es aber. Denn im Rahmen der neuen Medien überantworten sich immer mehr Menschen der ´smarten´ Diktatur der medialen Welt (Welzer 2016). Was gerne ´rationales´ Handeln genannt wird, wird regelhaft mit bedeutungsvollem Handeln verwechselt, das zudem der Interpretation bedarf (vgl. Eagleton 2011, S. 133). So versucht Altmeyer sich an einer Art ´rational-choice-theory´ der Medien – bizarr genug. Dass Zeichen und Referenten frei flottieren könnten oder dass die Ununterscheidbarkeit von Bild und Wirklichkeit Hyperrealität (Baudrillard 1982) erzeugt – mit der Postmoderne in der neoliberal formatierten Welt mag er sich nicht ernsthaft beschäftigen. So werden von ihm zwar jede Menge interessanter Autoren zitiert, deren Werke aber nicht wirklich genutzt, so Aldous Huxley, Peter Sloterdijk, Slavoj Žižek, Thomas Fuchs. Stattdessen diskutiert er deren Medienpräsenz, und wir erfahren, dass eine Frau zu Guttenberg aus der Familie Bismarck stammt.

Obwohl er sie auf dem Schirm hat, argumentiert Altmeyer, als ob es Huxley und Orwell nie gegeben hätte, die bereits 1932 und 1949 herausgearbeitet haben, dass gesellschaftlicher Konflikt vorzugsweise durch Konsumerismus oder Terrorismus vermieden wird. Das Prinzip Terror dient der Einebnung von Konflikt ebenso wie es das Prinzip Konsum tut (vgl. Assmann & Harth 1997). Aber man darf sich natürlich auch auf die Seite von Houellebecq schlagen – vorausgesetzt, man reflektiert Positionen vorher ernsthaft. Stattdessen ist ihm die Geistesaristokratie eines Sloterdijk ein Dorn im Auge. Im gleichzeitig ent- und über-sozialdemokratisierten Kapitalismus neoliberaler Prägung kann vielleicht nur noch Geistesaristokratie bewahrt werden. Letztlich kommt es nicht von ungefähr, wenn, wie Sloterdijk formuliert, Unterhaltungsmassen den Aufstandsmassen gegenüber stehen, was heute ganz konkrete Bedeutung gewinnt (vgl. Egloff 2017a). Vielleicht ist Altmeyer auch lange nicht mehr bei McDonald´s gewesen, wo nach ein, zwei Metern das erste, nach weiteren zwei das zweite Bestellterminal folgt; ideal für die ADHS-Generation, die nette ´Generation Y´, oder schon ´Z´? Mehr Anbiederung an den Zeitgeist als nützliche Verbesserung. Und was ist mit dem halbstündigen Ausharren in der Warteschleife der Telekom, in der durchaus zugewandte Call-Center-Agenten ganz postheroisch stets die ihnen zugedachte Aufgabe an den Kunden zu verschieben suchen? Da war die einstige Störungsstelle der Post zwar unfreundlich, aber effektiv.

Die Zukunft des Sozialismus und die Vergangenheit des Faschismus bildeten den Sinnhorizont in der alten DDR. Im Gegensatz dazu herrschte im postfaschistischen Westen pure kapitalistische Gegenwart, kein offizieller Erfahrungsraum oder Erwartungshorizont; daher konnten Bierchen und Krimi genügen (Welsch & Witzel 2016, S. 118), um alltagserhaltend, wenn auch nicht sinnstiftend zu wirken. Dies geht nun verloren, und prompt geht öffentliche Meinung ins Indifferente und Pseudo-Sinnhafte (vgl. Egloff 2018). Sozialabbau und ähnliches wird dann gern Modernisierung genannt. Die tendenzielle Aggressivität im Konsumkapitalismus wird damit befeuert, zumal Befriedigung nie gefunden werden kann (McGowan 2016; Zupančič 2017), deren Illusion aber aufrecht erhalten werden muss. Stattdessen werden Identitäts- und Authentizitäts-Thematiken aufgeworfen, die im Osten wenig ausgeprägt, im Westen immer latent waren.

Die postmoderne Entwicklung selbst ist mehrfach problematisch, denn die Totalität des Waren-Fetischismus, die Lukács bereits 1923 beschreibt (Lukács 2013), ist im virtuellen Konsumkapitalismus extremer Potenzierung ausgesetzt. Was bei Lukács noch schlicht als Charaktermaske imponiert, wird in der Hyperrealität beschleunigt, vervielfacht und nahezu unwiderlegbar. So wird bei sogenannten fair gehandelten Produkten rasch so getan, als ob das Produkt selbst ein progressiver Akt sein könnte – die glatte Verdinglichung des Produkts – anstatt zu bedenken, wie die Rente der Zuarbeiter aussieht. Selbst vernünftig angelegte Ansätze, die erst subversiv erscheinen, geraten damit – folgerichtig in der Kapitallogik – in die stachel-ziehende Vermarktungsmaschinerie (vgl. Nielsen 2009, S. 24). Doch die postheroischen sind eben allzu oft auch die willigen Vollstrecker einer ´consumer culture´, in der das Subjekt sich selbst zur Ware macht: „the commodities the postmodern subject desires are commodities that allow her to produce more commodities” (Cosey 2018, S. 8). Nicht nur, dass deren Wert zerstört wird, es geht weder um Resonanz noch um Befreiung, sondern um den bloßen Prozess des Konsums der Kommodifikation (Jameson 2001). Der totalitäre Aspekt im virtualisierten Warenkäfig des globalen Kapitalismus (Cosey 2018, S. 9) kann dem geschulten Blick  nicht entgehen. Teile dieser Problematik hat z.B. René Pollesch in seinen Inszenierungen sehr deutlich gemacht (Pollesch 2004). Es lässt sich schon auf wenigen Seiten mühelos darstellen, wie Subjektivität zu Produktivität wird (vgl. Graefe 2016, S. 43-45). Altmeyer hingegen will kulturelle Verfasstheit als lockere äußere Bedingungen verstehen, mit denen der Mensch mehr oder weniger ´en passant´ konfrontiert wird – ´mit Handy´ oder ´ohne Handy´ ist nach dieser binären Logik zumal das Kriterium. Dass sich die Verkehrsformen – einem frühen intrapsychisch-intersubjektiven Niederschlagsprozess folgend – im Subjekt materialisieren, bevor das Subjekt, das Kind, der Mensch mit der lebensweltlichen Kategorie ´mit Handy´ oder ´ohne Handy´ konfrontiert wird, fällt auch für ihn    anscheinend gerade nicht unter kulturelle Verfasstheit. Doch von wissenschaftlichem Vorverständnis (vgl. Klafki 2001) ist zumal nirgendwo ernsthaft die Rede; stattdessen scheinen die durch deren Vorannahmen sehr begrenzten Erkenntnisse der Säuglingsforschung durch, die hier wenig hilfreich für tieferes Verstehen sind. In der von Altmeyer beschriebenen virtuellen Gesellschaft – sie ist das Parallel der Dienstleistungsgesellschaft, in der der Arbeitnehmer entfremdet von der Entfremdung ist – fehlt die Reibungsfläche, die Konfrontation, jene Elemente, die das Subjekt konfrontieren, woraus erst Konflikt entsteht.

So flach wie die ´flache Ontologie´, die Altmeyer ausdrücklich anstrebt, so flach gestalten sich unter Umständen eben auch die Zeitdiagnosen. Das kann man zwar machen, man darf nur nicht gleichzeitig eine umfassende Diagnostik für sich in Anspruch nehmen. Wie Brian McHale feststellt, bewegen wir uns ohnehin weg von der Epistemologie hin zur Ontologie, einem gesellschaftlichen Umschwung weg von ´Wie kann ich die Welt verstehen und was bin ich in ihr?´ hin zu ´In welcher Welt von mehreren möglichen bin ich, was ist in ihr zu tun, und welche meiner Identitäten könnte die Aufgabe übernehmen?´ (McHale 1992). Der Trend geht also nicht etwa zum Weltverstehen,  sondern zum Wie-sich-in-Welten-verhalten. Hier liegen die Themen Identität und  Authentizität bereit, die gerade nicht medial zu lösen sind. Im Gegensatz zum Unterschied zwischen Körper (soma) und Zeichen (sema) unterläuft die Schrift des Medienzeitalters die klare Trennung zwischen Realem und Symbolischem (Burckhardt 2008, S. 80). Der sogenannte Fundamentalismus hängt eng mit medialen Techniken zusammen, mit Schrift einerseits und mit modernen audiovisuellen Techniken andererseits (von Braun 2018, S. 100). Die technisch-mediale Beschleunigung tut ihr Übriges, um sowohl Stabilität als auch Derealisation – die in der imaginären Sphäre bereitliegen, wie es einst Salvador Dalí feststellte – nebeneinander zu perpetuieren. Louis Althusser konzipierte das kindliche Spiegelstadium einst als Pforte für Formationen von Ideologie: solche Aspekte bleiben bei Altmeyer völlig ungenutzt. Doch diese sind die Hintergrundfolie, auf der die Normalität ihre Ungeheuer gebiert (Maiso 2016), und nicht etwa ein spaßverderberischer allgemeiner Kulturpessimismus.

In der jetzigen Verfasstheit könnte Demokratie selbst Teil des Problems sein (Blühdorn 2016), denn diese entspricht eher einer Aussetzung von Demokratie,  z.B. in den Finanzmärkten, der EU, dem IWF. Zumal, wenn Demokratie zum Synonym für virtualisierte Marktwirtschaft wird, in der ´Demokraten´ nur ´Demokraten´ mögen (vgl. Badiou 2012). Möglicherweise haben wir nicht zu viel Demokratie, sondern zu wenig davon (Eagleton 2011), nur dass man in Zeiten medialer Hysterie auch darauf nicht vertrauen kann. Eine unbedachte Zerstörung ziviler Öffentlichkeit mittels recht willkürlicher Regulierung politisch korrekten Anstrichs bei gleichzeitiger Deregulierung von Infrastruktur wird  begleitet von einer grotesken Deregulierung des Finanzwesens und der Großkonzerne. Das hat mittlerweile auch der letzte Abgeordnete gehört. Und nicht wenige mediale Inhalte vermitteln spießbürgerliche Werte politisch korrekten Anstrichs, die ihren psychischen Niederschlag finden werden; dies ist weniger als Normalisierung denn als Symptom zu deuten. Wer hätte schon vor zwei Jahrzehnten angenommen, dass wir zusehends in eine jakobinische Gesellschaft mutieren?

Will Altmeyer nun Fußtrupp oder Überbau der Latte-Macchiato-Bourgeoisie sein? Er meint in der digitalen Revolution eine Näherung sowohl im Guten als auch im Bösen zu erkennen. Aber: die Näherung im Guten ist imaginär-virtuell, die Näherung im Bösen kann sehr real werden. Die weiterhin analoge Wirklichkeit erfordert eher Gegensteuern, also analoge Revolution. Es wäre besser, Digitales als Sonderfall des Analogen zu betrachten, wie es Nielsen (2018) tut. Denn der Verlust von Relationalität, Sozialität, Regulation, Verstehen (Hermeneutik heißt Analogie-Bildungen), Empathie, den die sogenannten modernen Medien befördern, bedeutet Realitätsverlust (von Braun 2018, S. 109); zugespitzt könnte man sagen, dass das schizophrene Syndrom, das mit einem Verlust der Ich-Grenzen einhergeht, ein Stück Alltagswirklichkeit geworden ist. Bevor eine unwiderlegbare technoide Herrschaft entsteht (Nielsen 2018), müsste daher sehr klug gehandelt werden im Sinne von Remanenz statt Resonanz. Der regressive Medien-Sog steht dem eher entgegen.

Es hätte durchaus ein gutes Buch werden können, dafür wäre aber eine kritischere Haltung unabdingbar. Etwas zu denkfaul und selbstgefällig, wenn auch oft amüsant und gut beobachtend. Vor allem aber erstaunlich ignorant hinsichtlich der ´culture of distraction´ (Dervin 2016) und der Einebnung von Oberfläche und Bedeutung (Jameson 2001). Erstaunlich auch, dass die schwierigeren Arbeiten von Žižek nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen werden, sondern eher seine Zeitungsartikelchen, auf die dann schon mal mit einem eigenen Zeitungsartikelchen geantwortet wird. Dies wäre alles nicht so tragisch, wenn nicht die nordatlantische Psychoanalyse – die mittlerweile weitenteils mit der Säuglingsforschung fusioniert wurde – für alles und jedes herangezogen würde, auch für die sagenhafte Erkenntnis, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist. Wer hätte das gedacht? Dabei bietet neben der französischen Psychoanalyse jene nordamerikanische ebenso das volle Theoriespektrum an; man muss nur danach suchen. Es ist schon mehr als seltsam anzusehen, dass sich ausgewiesene Psychodynamiker der akademischen Psychologie zuwenden just in jenem Moment, in dem die Freudsche Theoriebildung erneut Bedeutung ungeahnten Ausmaßes erlangt, so in der Neurobiologie (Eric Kandel, Gerhard Roth, Bernhard Haslinger, Bernhard Janta), über die Literatur- und Geisteswissenschaften (Terry Eagleton, Joseph Vogl, Johanna Bossinade, Laurence Rickels), bis hinein in die Gesellschaftstheorie (Samo Tomšič, Howard Rouse, Sonia Arribas). Die Frage, wie es um die Symbolisierungsfähigkeit bestellt ist, ist in Zeiten der volatilen Psyche, in der alle möglichen Erscheinungen medialer Hysterie erliegen, besonders geboten. Was heißt es, wenn Gustave LeBon schon  im Jahr 1895 schrieb: „Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen“ (LeBon 2011, S. 65)?

Wie anfangs nun auch zum Schluss noch eine Verdichtung, die die Dimension der Altmeyerschen Fragestellung verdeutlicht, auf die er Antworten freilich schuldig bleibt. So fragt die Sigmund-Freud-Buchhandlung bereits zum Erscheinen des Bandes in ihrer ´Novitätenschau Psychoanalyse  und Kulturwissenschaften´ vom April 2016 (1.4.16): „Weshalb und wofür derlei Schmonzes? (…) Die massenhafte Inanspruchnahme der kommunikationstechnologischen Optionen – andere sprechen von mit aller Werbemacht gepushten digitalen Abhängigkeitsverhältnissen, welche tiefer, subtiler und radikal in den Persönlichkeitsraum, in das Private, in das Selbst, einzudringen vermögen und das Subjekt dabei mit Kalkül in dem Glauben lassen, HerrIn des Verfahrens zu sein –, sind für Altmeyer offenbar kein Grund, seine Positionen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und so zu bemerken, dass das Begehren hier in aller Regel nicht zum Begehrten führt – ganz im Gegenteil. Die als Zufriedenheit beobachteten Verhaltenszustände der im Cluster angefixten Electronic-Junkies dient euphorisierten Erbsenzählern nun tatsächlich als Beleg für die Sinnhaftig- und Unaufhaltbarkeit dieser Entwicklung. Das Beziehungsbegehren und die damit einhergehende Beziehungsarbeit wird im digitalen Raum synthetisiert, abgesahnt und also konterkariert – analytisch gesprochen gleich an der Wurzel kastriert. Seinen infantilen Adepten wird dafür als Surrogat die verführerische Möglichkeit der numerisch unbegrenzten Beziehungsanbahnung eröffnet, welche nach followers, Klickanzahlen und Beliebtheitsrankings rechnet. Wo in dieser Lebenszeit vernichtenden Dauer-Behandlung technischer Geräte selbstemanzipatorische Aspekte verborgen sind, wie unter diesen Verhältnissen permanenter Ablenkung und tastender und wischender Scheinaktivitäten dem Subjekt grundhafte Anreize zu erkenntnisgewinnendem (Nach-)Denken, zu Reflexion, Resümieren, Mentalisieren eröffnet werden, verrät uns der Autor nicht wirklich.“

 

 

Literaturhinweise:
Assmann, Jan & Harth, Dietrich (Hg.) (1997). Kultur und Konflikt. Suhrkamp, Frankfurt, S. 33ff.
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Fasten – neue Energie für Körper und Geist

Forum_spezial_Fasten

„Essen und Fasten gehören zusammen wie Schlafen und Wachen“[1]. Das ist eine Weisheit, die den Menschen seit sehr langer Zeit bekannt ist – schon Hippokrates (460-375 v. Chr.) beschrieb die heilsame Wirkung des Fastens. Bis in die heutigen Tage wird es in vielen Formen und Zusammenhängen praktiziert. Ganz aktuell ist das Fasten ein großes Thema, speziell das Intervallfasten. Entsprechend zahlreich sind die diesbezüglichen Veröffentlichungen und Fernsehsendungen.

Doch die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift für Gesundheitsförderung des UGB-Forums mit dem Titel „Fasten – neue Energie für Körper und Geist“ weist weit darüber hinaus, indem sie das Fasten in all seinen Facetten beleuchtet. Peter Faulstich etwa erklärt verschiedene Arten des Fastens: das bekannte Buchinger Fasten, das Fasten nach Dr. Franz Xaver Mayr, das Schrotfasten, das Molkefasten und das Basenfasten. Verschnaufpause, Neuorientierung und Müllverbrennungsanlage sind bereits in diesem ersten Artikel Schlagworte, die die heilsame Kraft des Fastens sehr gut auf den Punkt bringen.

Es folgt ein Artikel von Hans-Helmut Martin, der deutlich macht, dass Fasten sehr viel mehr ist als „Hungern“ oder „Nulldiät“. Denn, so erläutert er anschaulich, der gesamte Stoffwechsel stellt sich um, die Nervenzellen werden mit Glucose beliefert, die Fettsäuren werden besser genutzt, Körper und Hirn lernen um, das Wohlbefinden wird gesteigert und der Säure-Basen-Haushalt  entlastet.  Dass der Körper auf Sparflamme schaltet, darum geht es auch in dem Artikel von Dorothe Bertlich-Baumeister, die auch auf die gute Wirkung von Heilerde und Honig während des Fastens hinweist.

Norbert Lischka erläutert dann die historische und ganzheitliche Dimension des Fastens und beschreibt sehr anschaulich und einleuchtend, wie sehr das Fasten auch die Seele reinigt, zum Einklang mit sich selbst führt und einen neuen Blick auf unser Sein ermöglicht. Dass Fasten zudem jung hält, beschreibt Martha Ritzmann-Widderich, das große therapeutische Potenzial Gunther Hölz: Denn selbst chronische Krankheiten können durch regelmäßiges Fasten gelindert werden, sogar Rheuma und, verständlich, Übergewichtigkeit. Zu den beiden letztgenannten Wirkungen des Fastens schreibt Eva Lischka in einem gesonderten Artikel. Sie weist darauf hin, dass nach dem Fasten kein Jo-Jo-Effekt – wie bei Diäten –  auftritt, denn die Einstellung zum Essen und der Lebensstil werden nachhaltig geändert. Auch der Geschmackssinn wird geschult, lernen wir hier. Und in ihrem Statement „Ist Fasten schädlich? Nein“ erläutert sie, die Vorsitzende der Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung e.V. (ÄGHE), dass Fasten in keiner Weise schädlich, sondern nur von Vorteil ist. Auch für die Gesamtbevölkerung Deutschlands, deren Übergewichtigkeit im Schnitt immer weiter ansteigt

Sehr wichtig ist die Zeit nach dem Fasten. Denn in alte Gewohnheiten zu verfallen, das wollen wir ja nicht. Achtsamkeit ist nun gefragt, und damit beschäftigt sich der Artikel von Johanna Feichtinger. Langsam anfangen, richtig aufbauen, bewusst genießen – das sind ihre Ratschläge für die Zeit danach. Sie gibt auch genaue und sehr hilfreiche Anweisungen für die Fastenzeit selbst. Das macht auch Hans-Helmut Martin in seinem Artikel „Entspannt durch das Fasten“.

Gekrönt wird das Fasten-Thema durch Hinweise der UGB-Akademie, wie man sich zum Fastenleiter ausbilden lassen kann, den Verweis auf ein Kurskonzept per CD-ROM der UGB, weiteren Hinweisen und einen Überblick über Fastenkliniken in Deutschland.

Ich, die Rezensentin, faste seit 30 Jahren ein- bis zweimal im Jahr. Mein Bücherregal quillt quasi über von Büchern zum Thema. Diese Veröffentlichung der UGB ist mit Abstand das Beste und Umfassendste, was ich bisher zum Fasten gelesen habe. Neutral und fern jeglicher Dogmatik werden hier aus verschiedenen Sichtweisen alle unterschiedlichen Facetten des Fastens beleuchtet. Auch die praktischen Hinweise sind sehr wertvoll. Positiv zu vermerken ist auch, dass es hier nicht um das in Mode gekommene (und sicherlich durchaus auch sinnvolle) Intervallfasten geht, sondern um das ursprüngliche, das bereits Hippokrates beschrieben hat.  Ich wünsche jedem, der sich für eine Fastenzeit entscheidet, dass er diese Zeitschrift lesen möge.

[1]Rüdiger Dahlke: Bewusst fasten, Goldmann: München 1996, S. 21.

Aktuelle Gebühren heilpraktischer Leistungen

Kommentar zum GebüH 1985 (Stand 2018)

In den Jahren 2011 und 2016 kursierten in Therapeutenkreisen verschiedene Papiere, die sich mit der Abrechnung heilkundlicher Leistungen nach dem Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker (GebüH 1985) im Vergleich zur Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) befassten. Hierzu muss man wissen, dass nicht nur neben dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM 2000, 2004, 2014) für gesetzliche Krankenversicherungen auch die GOÄ und für Psychotherapie die GOP in verschiedenen Versionen sowohl für gesetzliche als auch private Krankenversicherungen zum Einsatz kommen, sondern dass das GebüH (für heilpraktische Leistungen) nicht etwa fortwährend angepasst wird. So kommt es, dass den nominalen Daten des GebüH die realen Daten der Gebühren heilpraktischer Leistungen gegenüberstehen, mit denen Privatpatienten* zu rechnen haben. Wie bei den sog. Individuellen Gesundheits-Leistungen (IGeL) sollen die heilpraktischen Leistungen zwischen Therapeut und Privatpatient frei ausgehandelt werden, im Alltag sind jedoch gewisse Gebührenhöhen üblich. Im Folgenden wird daher das GebüH in der aktuellen Version dargestellt und kommentiert. Der Kommentar umfasst also die Erfahrungswerte, wie sie gehandhabt werden; bindend sind diese nicht.

Ein großer, wenn nicht der überwiegende Teil der als Heilpraktiker zugelassenen Therapeuten steht dem Fach Psychosomatik nahe, das wiederum dem Fachbereich Innere Medizin entstammt (nicht etwa der Nervenheilkunde) und auf ein eng verzahntes Leib-Seele-Verständnis zurückgreift. Ein anderer Strang des Faches ist mit der anthropologischen Medizin verbunden; zudem gibt es Verbindungen zur naturheilkundlichen Tradition der Jugendbewegung. Daher lässt sich von ganzheitlich-psychosomatischen Ansätzen sprechen, die sich ein Stückweit im GebüH widerspiegeln. Es ist nicht überraschend, wenn z.B. Regulationstherapien im Vordergrund stehen oder alternative    Verfahren auf leibseelische Veränderungen abzielen, mit jeweils unterschiedlichen Akzenten. Da Psychosomatik ein weit ausgreifendes Fach darstellt, in dem verbal und körperlich interveniert werden kann, findet sich am Ende der folgenden Auflistung und den dazugehörigen Einzelkommentaren ein Addendum, in dem berufspraktische Aspekte dargestellt werden, die für Patienten von Interesse sein können.

Vorausgeschickt sei ebenso, dass viele heilpraktische Behandlungsformen im GebüH nicht erfasst werden und deren Gebühren in der Regel analog zur GOÄ/GOP samt Steigerungssätzen ausgewiesen werden. Die Beihilfe für Beamte erstattet jedoch oft nur die Unter- oder Mittelwerte der GebüH. Im Falle von IGeL-Leistungen wie Faltenunterspritzung u.ä. im Beauty-Bereich ist anzufügen, dass diese keine heilkundlichen Behandlungen darstellen.

Im Folgenden erscheinen Einzelkommentare gleichermaßen kursiv und fettgedruckt. Wo kein Einzelkommentar erscheint, ist von analoger Gebührenbemessung in GebüH und GOÄ/GOP auszugehen. Aus Platzgründen wurden gekennzeichnete Auslassungen vorgenommen; am Ende des Textes findet sich ein Link zum vollständigen Download von Auflistung und Einzelkommentaren.

* Im Rahmen besserer Lesbarkeit wird in diesem Text nur die männliche Form verwendet, obwohl gleichermaßen Frauen und Männer gemeint sind.

 LEISTUNGSÜBERSICHT

Allgemeine Leistungen – Hausbesuch einschließlich Beratung – Nebengebühren für Hausbesuche – Schriftliche Auslassungen und Krankheitsbescheinigungen – Chemisch-physikalische Untersuchungen – Sonstige Untersuchungen – Spezielle Untersuchungen – Photoaufnahmen – Bioenergetische Verfahren – Neurologische Untersuchungen – Heilmagnetische Behandlungen – Psychotherapie – Atemtherapie, Massagen – Akupunktur – Inhalationen – Aerosole – Eigenblut, Eigenharn – Injektionen, Infusionen – Blutentnahmen – Hautableitungsverfahren, Hautreizverfahren – Infiltrationen – Roedersches Verfahren – Sonstiges – Abszesse u.a. – Versorgung einer frischen Wunde – Verbände (außer zur Wundbehandlung) – Wirbelsäulenbehandlung – Osteopathische Behandlung – Hydro- und Elektrotherapie – Elektrische Bäder- und Heißluftbäder – Spezialpackungen – Elektro-physikalische Heilmethoden

LEISTUNGEN

  1. Für die eingehende, das gewöhnliche Maß übersteigende Untersuchung € 12,30 bis 20,50
    KOMMENTAR: entspricht etwa der GOÄ. Generell gilt: dies ist die übliche Gebühr
  1. Durchführung des vollständigen Krankenexamens mit Repertorisation nach den Regeln der klassischen Homöopathie  15,40 bis 41,-
    KOMMENTAR: GOÄ ebenso etwa 120,-; Beihilfe ebenso. Generell gilt: dies ist die übliche Gebühr
  1. Kurze Information,auch mittels Fernsprecher, oder Ausstellung einer Wiederholungsverordnung, als einzige Leistung pro Inanspruchnahme des Heilpraktikers bis  4,50

4. Eingehende Beratung, die das gewöhnliche Maß übersteigt, von mindestens 15 Minuten Dauer, gegebenenfalls einschließlich einer Untersuchung  16,40 bis 22,-
Anmerkung: Eine Leistung nach Ziffer 4 wird nur als alleinige Leistung von der privaten Krankenversicherung oder Beihilfe erstattet.

5.- 8. (…)

  1. Hausbesuch einschließlich Beratung
    1 bei Tag 21,50 bis 29,50
    9.2 in dringenden Fällen (Eilbesuch, sofort ausgeführt)  24,- bis 32,-
    9.3 bei Nacht und an Sonn- und Feiertagen  27,50 bis 36,50

KOMMENTAR: die GOÄ liegt für Ziff. 9.1 bei etwa 42,-; 9.2 bei etwa 52,-; 9.3 bei etwa 62,-. Generell gilt: für Hausbesuche muss mit den Gebühren der GOÄ gerechnet werden 

10.-11.(…)

  1. Chemisch-physikalische Untersuchungen
    1 Harnuntersuchungen qualitativ mittels Verwendung eines Mehrfachreagenzträgers (Teststreifen) durch visuellen Farbvergleich bis zu 3,10
    Anmerkung: Die einfache qualitative Untersuchung auf Zucker und Eiweiß sowie die Bestimmung des ph-Wertes und des spezifischen Gewichtes ist nicht berechnungsfähig.
    12.2 Harnuntersuchung quantitativ (es ist anzugeben, auf welchen Stoff untersucht wurde, z.B. Zucker) bis zu  4,60
    12.4 Harnuntersuchung, nur Sediment bis zu  4,60
    12.5 Carzinochrom-Reaktion (CCR) bis zu  17,90
    12.7 Blutstatus (nicht neben Ziff. 12.9, 12.10,12.11) bis zu  18,-
    12.8 Blutzuckerbestimmung bis zu  8,-
    12.9 Hämoglobinbestimmung bis zu  5,50
    12.10 Differenzierung des gefärbten Blutausstriches bis zu  7,70
    12.11 Zählung der Leuko- und Erythrozyten bis zu  5,50
    12.12 Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit (BSK) einschließlich Blutentnahme bis zu 6,-
    12.13 Einfache mikroskopische und/oder chemische Untersuchung von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen auch mit einfachen oder schwierigen Färbeverfahren sowie Dunkelfeld, pro Untersuchung bis zu  9,50
    12.14 Aufwändige Chemogramme von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen je nach Umfang (z. B. Enzymdiagnostik, Nierenchemie, Blutserumchemie, Stuhlchemie, Elektrolyse, Elektrophorese, Fermentchemie, pro Einzeluntersuchung) bis zu  10,50
    12.15 Kristallographie, Photometrie, pro Einzeluntersuchung bis zu  10,50
    Anmerkung: Die Art der Untersuchung bei Ziff. 12.13, 12.14 oder 12.15 ist anzugeben.
    KOMMENTAR: die GOÄ liegt im Einzelnen teilweise deutlich unter den Oberwerten des GebüH. Generell gilt: die Ziff. 12 des GebüH kommen meist im Mittelwert zur Anwendung
  1. (…)
  2. Spezielle Untersuchungen
    1 Binokulare mikroskopische Untersuchung des Augenvordergrundes 5,20 bis 10,50
    14.2 Binokulare Spiegelung des Augenhintergrundes  5,20 bis 10,50
    Anmerkung: Eine Leistung nach Ziffer 14.1 kann nicht neben einer Leistung nach Ziffer 1 oder Ziffer 4 berechnet werden. Leistungen nach Ziffer 14.1 und 14.2 können nicht nebeneinander berechnet werden.
    14.3 Grundumsatzbestimmung nach Read  5,20 bis 8,-
    14.4 Grundumsatzbestimmung mit Hilfe der Atemgasuntersuchung  10,30 bis 26,-
    14.5 Prüfung der Lungenkapazität (Spirometrische Untersuchung)  10,50 bis 20,50
    14.6 Elektrokardiogramm mit Phonokardiogramm und Ergometrie, vollständiges Programm 26,- bis 51,50
    14.7 EKG mit Standardableitungen, Goldbergerableitungen, Nehbsche Ableitg., Brustwandableitung  20,50 bis 31,-
    14.8 Oszillogramm-Methoden  5,20 bis 25,50
    14.9 Spezielle Herz-Kreislauf-Untersuchungen  10,50 bis 25,50 Anmerkung: Nicht neben Ziffern 1 oder 4 berechenbar.
    14.10 Ultraschall-Gefäßdoppler-Untersuchung zur peripheren Venendruck- und/oder Strömungsmessung bis  11,30
    KOMMENTAR: GOÄ ähnlich, teilweise unter den Oberwerten des GebüH; nur die Ultraschall-Gefäßdoppler-Untersuchung nach Ziff. 14.10 liegt höher, nämlich bei etwa 41,-. Generell gilt: die Ziff. 14 des GebüH kommen meist im oberen Mittelwert zur Anwendung

15.-18. (…)

  1. Psychotherapie
    19.1 Psychotherapie von halbstündiger Dauer15,50 bis 26,-
    19.2 Psychotherapie von 50-90 Minuten Dauer  26,- bis 46,-
    19.3 Ausstellung eines psychodiagnostischen Befundes  15,50 bis 38,50
    19.4 Psychotherapeutisches Gutachten je zweizeiliger Schreibmaschinenseite bis  15,50
    19.5 Psychologische Exploration mit eingehender Beratung  15,50 bis 46,-
    19.6 Anwendung und Auswertung von Testverfahren (TAT, Rohrschach, usw.)  15,50 bis 38,50
    19.7 Behandlung von Störungen der Sprechorgane je Sitzung  10,50 bis 31,-
    Anmerkung: Die Honorare für eine ausgedehnte Spezialbehandlung von Sprechangst-Neurosen (Stottern), Honorare für spezielle ausgedehnte Sprechlernkurse, Kurse der Entwöhnungsbehandlung usw. sind besonders zu vereinbaren.
    19.8 Behandlung einer Einzelperson durch Hypnose  15,50 bis 26,-
    KOMMENTAR: wichtigste Ziffern sind jene der GOÄ/GOP 2002/2010 entstammenden; diese werden in der Regel mit den Steigerungssätzen 2,3 oder 3,5 belegt: Anamnese (Ziff. 860) etwa 123,-/187,-; 20-minütige Erörterung mit Patient (Ziff. 34) etwa 40,-/61,-; 20-minütige psychotherapeutische Behandlung (Ziff. 849) etwa 30,-/46,-; reguläre verhaltenstherapeutische Sitzung (Ziff. 870) etwa 100,-/153,-; reguläre psychotherapeutische Sitzung (tiefenpsychologisch Ziff. 861 oder analytisch Ziff. 863) etwa 92,-/140,-; für alle Ziffern gilt: ein Steigerungssatz von 3,5 oder mehr wird von privaten Krankenversicherungen selten vollständig erstattet. Generell gilt: es ist mit einer Sitzungsgebühr zwischen 100,- und 150,- zu rechnen
  1. (…)
  2. Akupunktur
    21.1 Akupunktur einschließlich Pulsdiagnose € 10,30 bis 26,-
    21.2 Moxibustionen, Elekroakupunktur, Injektionen und Quaddelungen in Akupunkturpunkte € 5,20 bis 15,50
  3. Inhalationen
    22.1 Inhalationen, soweit sie vom Heilpraktiker mit den verschiedenen Apparaturen in der Sprechstunde ausgeführt werden €5,50 bis 13,-
  4. Aerosole
    23.1 Anwendung von Aerosolen mit Kompressor, Pressluft- bzw. Sauerstoffapparat
    € 5,20 bis 15,50
  5. -33. (…)
  1. Wirbelsäulenbehandlung
    34.1 Chiropraktische Behandlung der Wirbelsäule €10,50 bis 18,-
    34.2 Gezielter chiropraktischer Eingriff an der Wirbelsäule € 15,40 bis 19,-
    Anmerkung zu Ziff. 34.2: Bei einem mehr als dreimaligen gezielten Eingriff an der Wirbelsäule kann der Leistungsträger eine Begründung verlangen.
    KOMMENTAR: Beihilfe erstattet bei Ziff. 34.1 etwa 4,-; bei 34.2. etwa 17,-. Generell gilt: die Ziff. 34 des GebüH kommen meist im Oberwert zur Anwendung
  1. Osteopathische Behandlung
    35.1 des Unterkiefers €7,70 bis 15,50
    35.2 des Schultergelenks € 15,40 bis 26,-
    35.3 der Handgelenke, des Oberschenkels, des Unterschenkels, des Vorderarmes und der Fußgelenke € 15,40 bis 26,-
    35.4 des Schlüsselbeins und der Kniegelenke € 5,20 bis 15,50
    35.5 des Daumens € 5,20 bis 13,-
    35.6 einzelner Finger und Zehen € 5,20 bis 13,-
    KOMMENTAR: die Ziff. 35.2, 35.3 und 35.5 sind in der GOÄ höher bewertet: jeweils etwa 49,-, 37,- und 19,-. Generell gilt: die Ziff. 35 des GebüH kommen in der Regel im Oberwert zur Anwendung oder gehen darüber hinaus

36.-37. (…)

  1. Spezialpackungen
    38.1 Fangopackungen €8,- bis 15,50
    38.2 Paraffinpackungen, örtliche € 8,- bis 15,50
    38.3 Paraffinganzpackungen € 10,50 bis 23,-
    38.4 Kneippsche Wickel und Ganzpackungen, Preißnitz- und Schlenzpackungen € 10,50 bis 31,-
    Anmerkung: Alle nicht aufgeführten Bäder und Packungen evtl. unter Verwendung verschiedener Apparate werden nach vergleichbaren Positionen berechnet.
    KOMMENTAR: Beihilfe erstattet je Packung höchstens 3,-. Generell gilt: die Ziff. 38 des GebüH kommen meist im Mittelwert zur Anwendung
  1. Elektro-physikalische Heilmethoden
    39.1 einfache oder örtliche Lichtbestrahlungen € 5,50 bis 8,-
    39.2 Ganzbestrahlungen € 7,70 bis 10,50
    39.4 Faradisation, Galvanisation, und verwandte Verfahren (Schwellstromgeräte) € 5,50 bis 15,50
    39.5 Anwendung der Influenzmaschine € 5,50 bis 10,50
    39.6 Anwendung von Heizsonnen (Infrarot) € 5,50 bis 8,-
    39.7 Verschorfung mit heißer Luft und heißen Dämpfen € 5,20 bis 10,50
    39.8 Behandlung mit hochgespannten Strömen, Hochfrequenzströmen i.V.m. verschiedensten Apparaten € 5,50 bis 15,50
    39.9 Langwellenbehandlung (Diathermie), Kurzwellen- und Mikrowellenbehandlung € 8,- bis 18,-
    39.10 Magnetfeldtherapie mit besonderen Spezialapparaten € 10,50 bis 20,50
    39.11 Elektromechanische und elektrothermische Behandlung (je nach Aufwand und Dauer) € 5,50 bis 31,-
    39.12 Niederfrequente Reizstromtherapie, z.B. Jono-Modulator € 5,50 bis 26,-
    39.13 Ultraschall-Behandlung € 5,50 bis 15,50
    KOMMENTAR: bei Ziff. 36-39 liegt die GOÄ teilweise ähnlich, teilweise deutlich unter den Unterwerten des GebüH; Packungen, Hydro- und elektrophysikalische Therapie sind tendenziell niedrig bewertet, obwohl hoher Aufwand; Beihilfe erstattet bspw. bei Ziff. 39.1 und 39.2 etwa 3,- bzw. 8,- und bei 39.13 höchstens 4,-. Generell gilt: die Ziff. 36-39 des GebüH kommen meist im Oberwert zur Anwendung

Den vollständigen Kommentar zum Download unter folgendem Link: https://www.researchgate.net/profile/Goetz_Egloff

 KOMMENTAR: Addendum 

Psychosomatik als weit ausgreifendes Fach spiegelt sich in den heterogenen Qualifikationen der Therapeuten wider. Daher ist anzufügen, dass eine vielfältige Gruppe von Therapeuten, die oft Mehrfachabschlüsse und unterschiedlichste Vorberufe und -ausbildungen mitbringt, die oben beschriebenen Ziffern (je nach Zulassung) nutzt, die rechtliche Zusammenführung jedoch nur drei heilpraktische Berufe kennt:

Heilpraktiker
Heilpraktiker für Psychotherapie (HP Psych)
Heilpraktiker für Physiotherapie (HP Phys)

Diese nutzen, neben grundständig ausgebildeten allgemeinen Heilpraktikern, bei heilkundlicher Zulassung folgende Berufsgruppen:

Akademische Psychologen und Sozialwissenschaftler (B.Sc., M.Sc., B.A., M.A., Dipl.-Psych. u.ä.)
Absolventen von Fachhochschulen (Bachelor, Master, Dipl.-Soz.päd. FH, Dipl.-Soz.arb. FH)
European Certified Psychotherapists (ECP) der European Association for Psychotherapy (EAP)
Mitglieder des Deutschen Dachverbands für Psychotherapie (DVP)
Mitglieder des Berufsverbands Akademischer PsychotherapeutInnen (BAPT)
Systemische Therapeuten, Gesprächstherapeuten u.ä.
Psychotherapeuten ohne Kassensitz bzw. ohne sog. Richtlinienverfahren der gesetzlichen Krankenversicherungen
Supervisoren, Philosophen, Berater
Logotherapeuten, Existenzanalytiker, Daseinsanalytiker (sog. Phänomenologen und Existentialpsychologen, insbesondere in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz)
und einige andere

Nicht nur in der psychotherapeutischen Praxis werden psychosomatische Störungen behandelt; durch Überschneidungen der Fachgebiete werden diese ebenso von allgemeinen Heilpraktikern behandelt. Diese sind oft:

Osteopathen, Chiropraktiker u.ä.
Medizinische Fachberufe (examinierte Schwestern, Pfleger)
Naturärzte (Schweiz), Ayurveda-Ärzte, TCM-Ärzte
Doctors of Naturopathy (ND, DO) u.ä. ausländische Ärzte

Psychosomatik bedeutet in der Praxis überwiegend, aber eben nicht nur, verbale Behandlung. Je nach diagnostischer Einschätzung kommen unterschiedliche Ansätze zur Anwendung; psychotherapeutische Behandlungen können sein:

Die kleine Psychotherapie, meist Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Therapie, aber auch Gesprächstherapie oder systemische Therapie, umfasst oft etwa 25 Sitzungen, kann aber bis etwa 50 Sitzungen reichen. Sie ist eher ziel- und lösungsorientiert unter unterschiedlicher Berücksichtigung biographischer Faktoren.

Eine große Psychotherapie (z.B. Psychoanalyse, oder eine sog. Strukturtherapie) ist als eher aufdeckende Therapie innerer Konflikte auf einen längeren Zeitraum angelegt und umfasst etwa ab 80 Sitzungen bis hin zu etwa 160 Sitzungen, was auch dem Grundkontingent der gesetzlichen Krankenversicherungen entspricht. Längere Therapien sind meist nicht sinnvoll. Zudem gibt es sog. niederfrequente Therapien, die sich über mehrere Jahre mit wenigen Sitzungen erstrecken, mit guten Erfolgen. Die Wahl des Verfahrens hängt meist, aber nicht nur, von der Symptomatik ab.

(für die Studiengemeinschaft für dermatologische, gynäkologische und andrologische Psychosomatik (SDGAP), Heidelberg: Götz Egloff)

Familie und Kindheit in Zeiten von Wandel und Strukturverlust

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Familien- und Erziehungsforschung sind in den letzten Jahrzehnten zu  breit angelegten Disziplinen geworden, in denen psychologische, soziologische und anthropologische Forschungsstränge zusammenlaufen. Ebenso sind Theorie und Praxis eng miteinander verbunden, was für die Wissenschaften nicht selbstverständlich ist. Das 20. Jahrhundert, das Ellen Key als das „Jahrhundert des Kindes” bezeichnete, brachte nicht nur einige Neuerungen, sondern wichtige Arbeiten zu diesem Gebiet hervor, darunter  W. Goodsells  „A History of the Family as a Social and Educational Institution“ (New York, 1915) und H. Schelskys „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ (Stuttgart, 1967). Geradezu revolutionäre Ansätze gingen aus der Mentalitätsgeschichte nach Philippe Ariès und Lloyd deMause hervor, die in ihren unterschiedlichen Standortbestimmungen heute noch reichlich Stoff für Auseinandersetzung bieten. Der sogenannte psychogenetische Ansatz der Eltern-Kind-Beziehungen von deMause zog erhebliche Perspektivenwechsel nach sich, und mit der 1974 gegründeten Zeitschrift „History of Childhood Quarterly“ begann  eine neue Epoche der Familien- und Erziehungsforschung. Der vorliegende Band schließt insofern an diese an, als dass er sich als bio-psycho-soziale Fundierung versteht.

Das erste Kapitel stellt das Projekt Cross-National Collaboration in the Study of Parenting and Child Adjustment vor, eine neun Länder umfassende Langzeitstudie zu Elternschaft und kindlicher Entwicklung unter der Leitung von Ann T. Skinner, Duke University, USA, die zahlreiche internationale Wissenschaftler begleiten. Die Zusammenhänge von Elternschaft und Kindesentwicklung in internationalem Vergleich tragen erheblich zum Verständnis des menschlichen Sozialisationsprozesses bei.

Das zweite Kapitel, Parenting in Psycho-Social Medicine: Analyzing the Basics, Applications, and Challenges, behandelt  Elternschaft und frühkindliche Sozialisation aus Sicht der psycho-sozialen Medizin, in deren Rahmen in Deutschland Interventionsprogramme entwickelt wurden, die auf Forschungsergebnisse in erster Linie aus Psychoanalyse und Säuglingsforschung zurückgehen. Diese Ansätze reichen von bindungs- und beziehungsorientierten Elternkursen über erziehungspraktische Seminare bis hin zu entwicklungspädiatrischer Intervention und zu vorgeburtlicher Selbsterfahrung für Mütter. Jenseits individueller Förderung stellt sich gleichzeitig die Frage, ob gerade in hochindustrialisierten Ländern eine stärkere Betonung kollektiver Maßnahmen nötig ist, um die schwierige gesellschaftliche Entwicklung insbesondere der letzten zwei Jahrzehnte aufzufangen.

Im dritten Kapitel, Child-Rearing Attitudes and Practices in China, erörtern Vivien Yiu, Jinsol Lee, Jung Hwa Choi und Xinyin Chen von der University of Pennsylvania, USA, die Rolle der chinesischen Kultur in Bezug auf die Prägung elterlicher Einstellungen; sie untersuchen hierbei spezifische Erziehungsziele und -praktiken wie z.B. die Ausrichtung auf Autonomie, auf akademische Ausbildung, oder auf emotionale Bildung, und deren Zusammenhänge mit der Kindesentwicklung. Da kulturelle Normen und Wertvorstellungen elterliche Erziehungsziele und -praktiken  beeinflussen, prägen sie auch die psychische Entwicklung des Kindes. Hinzu kommt, dass auch in China westliche Einflüsse sozialen Wandel ausgelöst haben, der in unterschiedlichen Subgruppen unterschiedliche Ausprägung gefunden hat.

Andreas Schick, langjähriger Präventionsforscher und Gründer des Heidelberger Präventionszentrum (HPZ), stellt im vierten Kapitel die internationalen Evaluationsergebnisse eines der am intensivsten beforschten und am häufigsten genutzten Gewaltpräventionsprogramme vor. Second Step Violence Prevention and its European Versions behandelt ´Second Step´, dessen deutsche Version ´Faustlos´ seit Jahren erfolgreich im deutschsprachigen Raum eingesetzt wird. Die Förderung pro-sozialen Verhaltens wird dabei bereits im Kindergarten systematisch ermöglicht. Ein Überblick über das bio-psycho-soziale Modell der klinischen Psychologie erweitert den Blick auf die Faktoren destruktiv- aggressiven Verhaltens. Dabei wird deutlich, wie die ganze Bandbreite von Entwicklungs- und auslösenden Faktoren zu Sozialisation beiträgt und Präventionsprogramme die Entwicklung von Gewalt eindämmen können.

Die japanischen Forscher Rie Wakimizu und Hiroshi Fujioka beleuchten im fünften Kapitel, Characteristics of Child-Rearing in Japanese Families and Findings of the Positive Parenting Program (Triple P) in Japan, den gesellschaftlichen Wandel in Japan, der sich in sinkenden Geburtenraten und immer kleiner werdenden Familien niedergeschlagen hat. So steigt bspw. die Gefahr von Kindesmissbrauch entlang des Trends zur Kernfamilie ebenso wie die Zahl diagnostizierter Depressionen. Die Verfasser der Faculty of Medicine at University of Tsukuba und der Ibaraki Prefectural University of Health Sciences, Japan, halten eine bevölkerungsorientierte Interventionspolitik, die auf gefährdete Eltern und Familien ausgerichtet ist, für dringend erforderlich und weisen auch auf die Möglichkeiten des Positive Parenting Program (Triple P) hin, einem auch in Deutschland verbreiteten Elternprogramm.

Kapitel 6 beleuchtet gesellschaftlichen Wandel aus einer etwas anderen Perspektive. Esin Kumlu zeichnet in Falling from Grace: Analyzing the Landscape of Depression in „Prozac Nation“ and „The Last Yankee“ den Prozess postmoderner Fragmentierung bei Elizabeth Wurtzel und Arthur Miller nach. Wurtzel hat mit „Prozac Nation” eine Mischung aus Autobiographie und Soziogramm vorgelegt, die thematische Anknüpfungspunkte zu Arthur Millers Drama „The Last Yankee“ aufweist. Diese liegen in der historischen Bestandsaufnahme von Gesellschaft, Geschlecht und Rolle – und damit insbesondere der Themen von Mutterschaft und Familie. Die an der Dokuz Eylül Universität in Izmir, Türkei, lehrende Verfasserin greift Depression als Schlüsselbegriff auf, der den psychologischen Grundzustand  im ausgehenden 20. Jahrhundert definiert. Depression und Wahnsinn können zumal nicht nur als Resultat gesellschaftlicher Entwicklung verstanden werden, sondern als kulturelle Konstruktion des Abseitigen, das jedoch integraler Bestandteil der postmodernen Gesellschaft ist.

Im zweihundertsten Geburtsjahr von Henry David Thoreau ist die amerikanische Idee, die eigenen Potenziale zu nutzen, aktueller denn je. Dass dies mit Problemen einhergeht, ist angesichts enormer globaler Herausforderungen gewiss deutlich. Weniger deutlich dürfte sein, dass Potenziale in unterschiedlichen Lebensbereichen liegen können. In Kapitel 7 wird daher Emancipation as an Educational Issue in the Early Republic untersucht, und zwar anhand weiblicher Autorenperspektiven über Erziehungsziele und Sozialisationsvorstellungen. Obwohl weit entfernt von postmodernen Verhältnissen heutiger Zeit, zeigten sich die gesellschaftlichen Umbrüche in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts kaum minder dramatisch. Dass emanzipatorische Ansätze zu jener Zeit eine erhebliche Rolle spielten, lässt sich den Schriften der Frühen Republik entnehmen. Dabei kam Frauen eine entscheidende Rolle zu; dies sowohl in der Verschriftlichung publikumswirksamer Themen als auch in der Neugestaltung ihres gesellschaftlichen Standpunktes.

In Kapitel 8 untersucht Johanna Schacht, Internationale Studiengemeinschaft für Prä- und Perinatale Psychologie und Medizin, den Beitrag von Otto Gross zur psychoanalytischen Theoriebildung sowie dessen wenig bekannten kulturellen Einfluss. Otto Gross, Original Sin and Psychoanalysis öffnet den Blick auf menschliche Sexualität und deren lange Geschichte der Unterdrückung, deren Opfer in erster Linie Frauen waren. Das Konzept der Erbsünde im Christentum dürfte im Rahmen der Trennung der Geschlechter mit den Themen Schuld, Scham und Schande aufs Engste verknüpft sein. Eine patriarchatskritische Lesart trägt erheblich zur Relativierung dieser Sichtweise bei, vor allem aber kann sie zu neuen Konzeptionen führen, die im 20. Jahrhundert bereits ein gutes Stück gegangen wurden, gewiss aber breiterer gesellschaftlicher Fundierung bedürfen.

Ludwig Janus erweitert im letzten Kapitel, Thoughts on Some Basic Assumptions of Psychoanalysis, die Perspektive nochmals um einige Aspekte des menschlichen Sozialisationsprozesses. Betrachtet man die psychoanalytische Theoriebildung und die Bindungs- und Säuglingsforschung in Zusammenschau mit Erkenntnissen der pränatalen Psychologie und der Psycho-Neuroendokrinologie, lässt sich konstatieren, dass manche Aspekte der menschlichen Entwicklung unterschätzt wurden. Die Historizität, also die Epochenbedingtheit mancher Konzeptionen fällt auf. Das Verfallsdatum wissenschaftlicher Erkenntnisse wird in Wissenschaft und Gesellschaft wenig diskutiert – was Konsequenzen auch auf die Vorstellungen von Familie, Sozialisation und Erziehung hat. Das Kapitel beleuchtet diese Dynamik und zeigt somit mögliche zukünftige Denkrichtungen auf.

In der Zusammenschau aktueller und historischer Perspektiven zeigt sich die Palette der Praktiken, Vorstellungen und kulturellen Unterschiede als maßgebliche Faktoren menschlichen Handelns. Familien- und Erziehungsforschung hat also viel zu bieten. Der in der Reihe „Family Issues of the 21st Century” erschienene Band knüpft an zahlreiche  Aspekte zur Sozialisationsforschung an und will einen weiteren Beitrag zum Verständnis menschlichen Handelns leisten. Der englischsprachige Band richtet sich sowohl an Fachleute als auch an interessierte Laien.

„Child-Rearing: Practices, Attitudes and Cultural Differences”, Götz Egloff (ed.). Nova Science, New York 2017. 242 pages, $ 95

 

Sexuelle Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie

Buchcover
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Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017
Die Neuerscheinung des vom niederländisch-amerikanischen Pharmakologen Berend Olivier herausgegebenen Bandes „Sexual Dysfunction“ soll Anlass zu einem kurz gefassten Überblick über sexuelle Funktionsstörungen bei Männern geben, bevor auf den Stand der wissenschaftlichen Forschung in jenem Band eingegangen wird. Denn auf dem Markt der Potenzstörungen ist viel los, und es gibt Fragen über Fragen.

Nicht nur bei Erektionsstörungen oder vorzeitiger Ejakulation, die die Hauptprobleme der sog. Potenzstörungen bei Männern darstellen, sondern auch zur allgemeinen sexuellen Leistungssteigerung werden derzeit einige Wirkstoffe angeboten. Als Alternative zu den viel genutzten PDE-5-Hemmern wie Viagra® befinden sich auch naturähnliche Wirkstoffe auf dem Markt, über deren Nutzen-Profil jedoch wenig bekannt ist. In jedem Fall, und insbesondere zur bloßen Leistungssteigerung, gilt es bei jeder Dosierung nicht zu übertreiben und vorher ganz offen den Arzt des Vertrauens zu befragen.

Bei einer Erektion entspannt sich über die Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) die glatte Muskulatur im Schwellkörper des Penis, sodass Blut in den Schwellkörper einströmen kann. Das Enzym Phosphodiesterase-5 (PDE-5) hingegen baut zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP) ab, was das Abklingen der Erektion einleitet. PDE-5-Hemmer verhindern diesen Abbau, sodass der sexuelle Akt ausgeführt werden kann, solange ein sexueller Reiz besteht. Die Wirkungsdauer beträgt, je nach Wirkstoff und Dosierung, zwischen 4 bis 36 Stunden. Bereits seit einigen Jahren gilt die sogenannte bedarfsorientierte Medikation als First-Line-Therapie (1). Bislang machte dies allerdings Sex nach Plan erforderlich und schränkte die Spontaneität somit erheblich ein. Die Einführung der sogenannten Low-dose-Intervention mit einer niedrigen, aber regelmäßigen Dosierung über einen hinreichenden Zeitraum macht unter bestimmten Voraussetzungen spontanen Sex auch bei erektiler Funktionseinschränkung möglich (2). Bei gleichzeitiger Einnahme von α-Rezeptoren-Blockern, Nitraten und ähnlichen Substanzgruppen besteht aber nach wie vor Kontraindikation.

Als Alternative zu PDE-5-Hemmern bieten sich nun naturähnliche Wirkstoffe an, deren Nutzen zumeist teils schwach, teils umstritten ist. Immer wieder, und daher kann sich ein Versuch lohnen, wird aber von individueller Wirksamkeit berichtet.

Ein kurzer Überblick dazu:
Phentolamin: Nutzen schwach bis umstritten (3)
L-Arginin: schwach bis umstritten (3)
roter Ginseng: schwach bis umstritten (3)
Yohimbin: wirksam bei leichten und psychosomatischen Erektionsstörungen; der seit nun etwa 100 Jahren angewendete α2-Antagonist Yohimbin wird als einigermaßen wirksam eingestuft; ist man also tendenziell gestresst, kann man dies probieren

Pflanzliche Alternativen können sein:
Agnus castus und Acidum picrinicum: als Viragil® zur psychophysischen Therapie bei männlichen Erschöpfungszuständen, da insgesamt abzielend auf Wiederherstellung des Sympathicus-Parasympathicus-Gleichgewichts
Rutin: steigert die Kapillarresistenz; eigentlich gegen Venenerkrankungen; gelegentlich wurde von verbesserter Erektionsfähigkeit berichtet; z.B. Tornix®

Was gibt es noch?
Durex Intensiv-Gel: als Stimulationsgel für Frauen gedacht, wird es auch als potenzsteigerndes Mittel von Männern verwendet; die darin enthaltene Aminosäure L-Arginin erscheint im Gel wirksamer als angenommen, fördert die NO-Bildung und wird auch bei unerfülltem Kinderwunsch und zur Verbesserung der Spermienqualität empfohlen
Taurumin: ein Nahrungsergänzungsmittel, über dessen Wirkung fast nichts bekannt ist; das darin enthaltene L-Arginin wirkt nur in Hochdosierung
Pro Man Boost: hier gilt gleiches wie für Taurumin
L-Citrulin: das dem L-Arginin verwandte L-Citrulin, das den Vorteil hat, vor Ankunft am Zielort nicht so stark abgebaut zu werden wie L-Arginin weist nach einer italienischen Studie gute Wirksamkeit bei leichten Erektionsstörungen nach (4); die Wirkung ist mit PDE-5-Hemmern zwar nicht vergleichbar, wird aber immer wieder einmal als gut beurteilt; nur bei relativ leichter erektiler Dysfunktion ist L-Citrulin zu empfehlen, zumal unklar ist, ob die Wirkung eher physiologisch oder psychologisch ist

Das von den Gynäkologen Daniel Stein und Nancy Bruemmer entwickelte ExtenZe galt kurze Zeit als vielversprechend; es enthält den Östrogen-/Testosteron-Vorläufer DHEA, der im Anti-Aging-Bereich eingesetzt wird. Rasch jedoch wurde von unbekannten Gefahren und dem Verdacht krebserregend zu sein berichtet (5).

Ein etwas anders gelagertes Problem stellt die Ejaculatio praecox (vorzeitiger Höhepunkt) dar. Hier gibt es verhaltenstherapeutischen Techniken, die erlernbar sind und mit denen die Verzögerung des Höhepunkts erreicht werden kann. Sowohl in Einzel- als auch Paartherapien können zudem Strategien herausgearbeitet werden, mit denen die Neigung zur vorzeitigen Ejakulation abgebaut werden kann. Dies nimmt Zeit und Mühe in Anspruch, kann allerdings anhaltende Erfolge bringen. Außerdem können auch körperliche Faktoren Auswirkungen auf die Dauer des Akts haben. Unbeschnittene Männer sollten eine Untersuchung auf ein Frenulum breve (verkürztes Vorhautbändchen) vornehmen lassen, da dies oft unbemerkt zur vorzeitigen Ejakulation beitragen kann (6). Es gilt also einige Faktoren zu berücksichtigen, bevor man einen medikamentösen Einsatz startet. Dass dieser lohnenswert sein kann, wie mit Dapoxetin, das als Priligy® noch nicht lang auf dem Markt ist, wird immer wieder bestätigt. Dieses Medikament beeinflusst den Serotoninspiegel, der auf die Ejakulationszeit wirkt (7).

Dem vorzeitigen Höhepunkt kann also mit Dapoxetin beizukommen sein; bei vorhandener Indikation kann für Männer mit erektiler Dysfunktion eine kurzzeitige regelmäßige Niedrigmedikation mit einem PDE-5-Hemmer wie Tadalafil in Betracht gezogen werden. In jedem Fall muss eine gründliche Anamnese erfolgen, und fast jede Medikation sollte von körperlichem Training oder Stressbewältigungsstrategien flankiert werden, was bei erektiler Dysfunktion auch hinsichtlich der häufig assoziierten Hypertonie hilfreich ist (8).

Einen der drei Kernthemenbereiche in Berend Oliviers Neuerscheinung „Sexual Dysfunction“ stellt dann auch die männliche erektile Dysfunktion in ihrer Assoziierung mit eben jenen kardiovaskulären Beeinträchtigungen dar, die sich oft als stressrelevante Faktoren wiederfinden. Lebensalter und hohe Medikamenteneinnahme gelten hier als besonders relevant; werden Herz-Kreislauf-Parameter jedoch medikamentös gut eingestellt, verbessert sich meist auch die erektile Dysfunktion. Diese und weitere Zusammenhänge werden beleuchtet, wie der Band insgesamt derzeitige Forschungsergebnisse zu sexuellen Funktionsstörungen mit dem Schwerpunkt auf Störungen bei Männern vorlegt. Zwei weitere Kernthemenbereiche stellen Hypogonadismus, ebenso wichtig für sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, sowie psychiatrisch-psychosomatische Aspekte sexueller Funktionsstörungen bei Männern und Frauen dar. Beim ersten Thema steht vor allem die Individualisierung der Therapie im Vordergrund, bei letzterem die Wechselbeziehungen zwischen sexueller Dysfunktion, Depression und Pharmakologie. Die Erforschung der Zusammenhänge im psychiatrisch-psychosomatischen Bereich steht bei den sexuellen Funktionsstörungen noch am Anfang, gleichzeitig kündigt sich mittels der translationalen Medizin, die die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung direkt in klinische Anwendung überführt, Vielversprechendes an. Beispielsweise ist in der Praxis die Gabe von Dapoxetin bei Ejaculatio praecox sehr oft hilfreich, aber nicht unproblematisch. Zu diesem und assoziierten Bereichen erfolgen eine Zusammenfassung von Studienergebnissen sowie kulturspezifische Überlegungen zu Erektion und Potenz.

Der Markt der wissenschaftlichen Neuerscheinungen zum Thema ist um eine Veröffentlichung reicher: Berend Oliviers konziser englischsprachiger Band „Sexual Dysfunction“ liefert ausführliche Übersichten über den Stand der Forschung. Wenn das Werk auch in erster Linie auf Mediziner und verwandte Berufe abzielt, macht es dessen Ergebnisse auch dem wissenschaftlich gebildeten Laien zugänglich. Zudem zeigt sich, wie groß der weitere Forschungsbedarf ist.

Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017

Literaturverweise:

  • Stadler, T.C., Stief, C.G., Becker, A.J. (2011). Medikamentöse Therapie der Erektilen Dysfunktion – Aktueller Stand und Ausblick. In: Sexuologie, 18, 1, 57-63.
  • Egloff, G. (2012). Potenz und Psyche – PDE-5-Hemmer als Low-dose-Dauermedikation? In: Arzt, Zahnarzt & Naturheilverfahren, 1, 12-13.
  • Leiber, C. (2008). Jenseits der PDE-5-Hemmer. In: Uro-News, 10, 24-25.
  • Cormio, L., deSiati, M., Lorusso, F. et al. (2011). Oral L-Citruline Supplementation improves Erection Hardness in Men with Mild Erectile Dysfunction. In: Urology, 77, 1, 119-122.
  • Stein, D., Engebretsen, K., Bruemmer, N., Frasure, B. (2008/2010). A Medically Designed Synergistic Combination of Pro-Hormones and Pro-Sexual Nutrients and their Influence on Male Sexual Desire and Potency: Preliminary Results. In: Journal of the American Association of Integrative Medicine, 4 (2010), 2-24.
  • Gallo, L., Perdonà, S., Gallo, A. (2010). The Role of Short Frenulum and the Effects of Frenulectomy on Premature Ejaculation. In: J Sexual Medicine, 7, 3, 1269-1276.
  • Berlin Chemie (2014). Priligy® Newsletter 2 „Männerwissen“, spaeterkommen.de
  • Gossmann, J. (2008). Hypertonie und Sexualität. In: Lenz, T. (ed.). Hypertonie in Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer, 406-407.

 

 

 

 

Aktuelle Entwicklungen der Psychopathologie

Buchcover
Buchcover

Internationale wissenschaftliche Neuerscheinung
Den wissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Konzepten in der Psychopathologie präsentiert der neue im New Yorker Wissenschaftsverlag Nova Science erschienene Band „Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, herausgegeben von Jeremy Williams. Der Band vereinigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, mit Schwerpunkten auf klinischer Persönlichkeitsforschung und Gewaltentstehung. In acht Kapiteln werden Daten und Überlegungen vorgelegt und zukünftige Forschungsperspektiven ausgewiesen.

Nicole Schluep und Junaid Hassim untersuchen im ersten Kapitel „Prognosis in Context“ Prognoseperspektiven im Hinblick auf psychische Störungen. Dabei werden sowohl Faktoren zur Prognosestellung vorgestellt als auch kritisches Denken bei der klinischen Einschätzung in den Blick genommen. Es zeigen sich Notwendigkeiten von Kontextualisierungen, d.h. von Perspektivenrelativierungen, die schwierig, weil individuell anpassungsbedürftig sind, zumal soziale und persönliche Mechanismen psychisches Erleben in einem kulturellen Gefüge definieren. Die Prognosestellung, wie die Autoren es formulieren, variiert notwendigerweise mit der Tatsache, auf welcher Seite des Zaunes sich die Konzeption von Psychopathologie befindet.

Nicole Schluep ist Dozentin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria und niedergelassen in privater Praxis.
Junaid Hassim ist klinischer Psychologe, Heilpraktiker und wissenschaftlicher  Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria.

Im zweiten Beitrag des Bandes „Pathological Personality Traits: The Darker Aspects of Personality“ widmen sich Gillian McCabe, Jennifer Vrabel und Virgil Zeigler-Hill jenen psychischen Anteilen, die im psychopathologischen Konzept der ´Dark Personality´ ihren Eingang gefunden haben. Mittels kategorialer und dimensionaler Zugänge werden hier Persönlichkeitsmerkmale diskutiert. Interessant ist, dass es eine Rückkehr zur alten psychoanalytischen Einsicht geben könnte, dass Persönlichkeitsmerkmale sich stets auf einem Kontinuum konstituieren, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren ging.

Gillian A. McCabe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Jennifer K. Vrabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Virgil Zeigler-Hill, Persönlichkeitsforscher mit den Schwerpunkten Selbstwert, Narzissmus und interpersonelle Beziehungen, Associate Professor am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan

Eine weitere Perspektive auf die „Dark Personality“ eröffnet András Láng in seinem Beitrag „Early Maladaptive Schema Domains and The Dark Triad: Core Beliefs Show What is Common and What is Distinct in Dark Personalities“. Jene Verhaltensmuster, deren sogenannte Eigenschaften Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus die ´Dunkle Triade´ begründen, werden auf ihre kognitiven Konstrukte hin untersucht. In seiner Studie arbeitet der Autor klinische und subklinische Merkmale heraus. Es lassen sich verschiedene Folgerungen ableiten, von denen die Hypothese frühkindlicher kognitiver Fehlanpassungen eine wesentliche ist.

András Láng, Assistant Professor an der Universität Pécs in Ungarn im Fachbereich klinische und Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsforschung

Das vierte Kapitel des Bandes behandelt das Thema Vermeidung. Santiago Barajas, Luis Garra und Marisa García-Pérez stellen in “Avoidance: Implications for Psychopathology and Advances in Research” das Phänomen der Vermeidung im psychopathologischen Kontext derer Vorzüge und Nachteile vor und verweisen auf die Bedeutung der Funktionalität von Vermeidungsvorgängen für Diagnostik und Behandlung sowie auf Zusammenhänge mit Angststörungen und Depressionen. Ihr Studienüberblick fächert Vermeidungsvorgänge in Subtypen auf, die in grundlegend verhaltensbezogene, kognitive und erfahrungsgenerierte unterteilt werden. Daraus ergeben sich Optionen für Einschätzung und Behandlung. Wichtig erscheint dabei, dass gleichermaßen Verhalten, Denken und Fühlen angesprochen werden sollten.

Santiago Barajas, klinische Forschung, Universitätsklinik Guadalajara, Spanien
Luis Garra, Psychologe an der Universität Castilla-La Mancha
Marisa García-Pérez, Ärztin für Anästhesie, Schmerztherapie, Universitätsklinik Valencia

Das Forscherteam um Giulio Cesare Zavattini an der medizinisch-psychologischen Fakultät der Sapienza Universität Rom behandelt in ihrem Beitrag “The Intergenerational Impact of Trauma: Individual, Family and Community Implications”, dem fünften Kapitel, die Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg, eine Thematik, die in den letzten Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt hat. Ihre Übersichtsarbeit führt Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt schweres Trauma zusammen und referiert individuelle psychische Funktionen ebenso wie familiendynamische und soziodynamische Manifestationen der Weitergabe. Es zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass Trauma-Aspekte transgenerational wirksam werden. In der Zusammenschau zeigt sich ebenso die erhebliche Bedeutung der Thematik, die lange Zeit vielfach unterschätzt wurde.

Giulio Cesare Zavattini ist Psychoanalytiker und leitet die Sektion dynamische und klinische Psychologie an der Sapienza Universität Rom
Antonio Gnazzo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sapienza Universität Rom
Mojgan Khademi, niedergelassene Psychoanalytikerin und Associate Professor an der Alliant International University, Alhambra, Calif.
Viviana Guerriero, Psychologin, Sapienza Universität Rom
Julie Manoogian, niedergelassene Psychotherapeutin in San Diego, Calif., affil., Alliant International University, San Diego
Ani Kalayjian, Kulturwissenschaftlerin an der Columbia University New York
Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin

Das sechste Kapitel fokussiert “On Pre- and Postnatal Mental Health Intervention Concepts” und trifft eine Bestandsaufnahme von Ansätzen früher Interventionen bei Mutter und Kind im vor- und nachgeburtlichen Bereich. Existierende Programme werden vorgestellt und der Forschungsstand beleuchtet. Vor dem Hintergrund einer materialistischen Sozialisationstheorie werden die Grundlagen um Einflüsse zu Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltentstehung erweitert; ebenso wird die  psychosomatische Bedeutung pränataler Prägungen im intrauterinen Lebensraum  einbezogen.

Götz Egloff, nach psychoanalytischer und psychotherapeutischer Ausbildung in Heidelberg, Mannheim und Düsseldorf niedergelassen in Mannheim
Dragana Djordjevic, nach Tätigkeit als Ärztin im Kreißsaal Gastwissenschaftlerin an der Universität Heidelberg und Stipendiatin für den Aufbau psychosozialer Behandlungskonzepte für Neugeborene im jugoslawischen Raum, Oberärztin an der Universitätsklinik Niš. Forschung zur Psychosomatik der Herzfrequenzvariabilität

Robert Emes Beitrag “Advances in the Study of Male Psychopathy” bildet das siebte Kapitel. Die nach wie vor männliche Domäne der Psychopathie, einem Konzept, das auch als Soziopathie beschrieben wird und aufs Engste mit dem Phänomen Gewalt verknüpft ist, rekapituliert der Autor hinsichtlich der ihr unterliegenden Forschung. Eme weist auf Entwicklungspotentiale und -grenzen von Persönlichkeit hin und verbindet Ergebnisse und Erfahrungen mit neurowissenschaftlicher Forschung. In seinem Beitrag werden    entwicklungspsychologische Fragestellungen neu aufgeworfen; und es zeigt sich auch, dass selbst Programme, die frühzeitig einwirken, im Bereich Delinquenz bislang wenig erfolgreich waren.

Robert Eme forscht zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom in den Grenzgebieten Neurowissenschaften, Pädiatrie und Endokrinologie. Als Professor an der Argosy University in Schaumburg, Illinois, betreibt er langjährig Forschung zu Delinquenz

Last but not least, “Biofeedback – an Evidence-based Approach to the Management of Two Major Health Diseases: Obesity and Perinatal Mood Disorders” behandelt als achtes und letztes Kapitel des Bandes ein effektives, doch bislang wenig beachtetes Verfahren zur Beeinflussung von Übergewicht und Essstörungen sowie der postpartalen Depression. In ihrer Vorstellung des Verfahrens weisen Gaia deCampora, Luciano Giromini und Richard Gevirtz auf die Bedeutsamkeit der Regulierung des Autonomen Nervensystems bei psychischen und psychosomatischen Störungen hin. Die insbesondere in der Postpartum-Phase auftretenden Stimmungsstörungen können frühzeitig beeinflusst werden, so wie auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Steigerung der Flexibilität mittels Selbst-Regulation möglich und wünschenswert ist. Biofeedback, richtig eingesetzt, kann eine wertvolle Intervention sein, gerade wenn weitergehende Maßnahmen nicht passend sind.

Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin
Luciano Giromini, Dozent an der Universität Turin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alliant International University, San Diego, Calif.
Richard Gevirtz, Alliant International University, San Diego, Calif., Forschung zur Herzfrequenzvariabilität

Der englischsprachige Band zeichnet sich durch eine ausgewogene Auswahl von Forschungsansätzen und -perspektiven aus. Sowohl Studien als auch theoretische Grundlagen werden vorgestellt. Die am Band beteiligten Wissenschaftler geben mit ihren Beiträgen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen der Psychopathologie als Untersuchungsgegenstand und als Konzeption. Möglichkeiten und Grenzen werden dabei deutlich, ebenso wie die Erkenntnisbemühungen an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften.

„Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, Jeremy Williams (ed.). Nova Science, New York. 225 pages, $ 160