von Götz Egloff
Christoph Marthaler gehört zu den Wenigen, die den Wahnsinn der Normalität durchschauen
Je netter wir werden, desto tiefer wird der Abgrund. Mit dieser Erkenntnis macht sich Slavoj Žižek, slowenischer Psychoanalytiker und Kulturwissenschaftler, seit Jahren weltweit unbeliebt. Andererseits schaffte er es im Sommer d.J. mit seiner gewohnt sperrigen Perspektive dennoch – und ein bisschen deswegen – in den US-amerikanischen Playboy. Dies gibt milde Hoffnung auf bessere Zeiten, die sich in Deutschland jedoch erst realisieren werden, wenn Žižek im deutschen Playboy spricht; also nie.
Die perniziöse deutsche Konsensgesellschaft mit lähmender Bürokratie, unendlicher Autobahn-Raserei und selbstgerechter Flaschenpfandzerquetschung hingegen trägt sich währenddessen selbst zu Grabe – nicht ohne von Kollateralschäden minutiös und ganz selbstverständlich Aktennotiz zu nehmen. Davon wusste schon Ödön von Horváth so manches Lied zu singen; „Glaube Liebe Hoffnung“ entstand 1932 ganz klar noch vor Feinstaubplakette und Fahrradhelm. Was ist daraus zu lernen? Mechanismen bleiben gleich, und Mentalitäten ändern sich, wenn überhaupt, nur im Verlauf von Jahrhunderten. Um mit dem Philosophen Christoph Türcke zu sprechen: Erregung statt Bedeutung allerorten.
Entschleunigtes Reflektieren gesellschaftlicher Vorgänge ist derart „outdated“, dass auch die allerletzen Bastionen der Hochkultur, die performativen Künste, sich weitestgehend leichter Konsumierbarkeit verschrieben haben. Nicht so Christoph Marthaler, seit jeher Regisseur der anderen Art, der mit seiner derzeitigen Inszenierung des Horváth-Klassikers neue Maßstäbe setzt. Seine Elisabeth geht im Gefüge des aktenjuristischen Irrsinns dermaßen – und dermaßen oft – zu Grunde, dass dem Zuschauer das buchstäbliche Schmunzeln im Sonstwo stecken bleibt.
Dass hieraus auch für regelmäßige Fernsehkonsumenten kein Ich-muss-sofort-hier-raus-Theater entsteht, ist der Unterhaltungsgabe Marthalers und seinem Team geschuldet, die Sprache, Bild und Spiel in ein großartiges, doch differenziertes Gesamt komponieren. Radikaler, weil, sagen wir, formallogischer, hat noch Tim Egloff in seiner Frankfurter Inszenierung 2009 die Zerstörung der Protagonistin Elisabeth walten lassen. Die Poetik repressiver Sprache kam hier verschärfter zum Tragen; das schnelle Tempo des Abends zeigte drastischste Linearität des Geschehens. Formal ein ganz anderer Horváth – inhaltlich ebenso wie bei Marthaler auf den Punkt.
In Abwesenheit des Orchesters, dessen auditive Überreste nur gelegentlich durch das Haus hallen, hat sich in Marthalers Inszenierung ein blondgescheitelter Hausgeist mit Goldrandbrille und strenger Visage der Leitung des Abends angenommen; ein stammelndes, salbaderndes Prinzip inhaltsloser Dauer-Verwalterei. Schrecklich-schön-schrecklich, und sehr wahr…
Mit seiner Inszenierung löst Marthaler einmal mehr den Wahrheitsanspruch des 1938 verstorbenen Horváth ein; ein Anspruch, der sich in Abgrenzung zum erkenntnistheoretisch schwierigen Wahrheitsbegriff als Anspruch an die Aufdeckung einer tödlichen Wirklichkeit versteht. Für Aktenjuristen ist alles kopfmäßig unverschämt simpel, emotional jedoch unverschämt unverständlich. Für alle Anderen ist das Leben real. Dazu muss sich doch noch eine Aktennotiz finden lassen…
Der in diesen Tagen ihr 10-jähriges Bestehen feiernden Ödön von Horváth-Gesellschaft, Murnau, ist weiters viel Kraft und gutes Gelingen zu wünschen im Bestreben, Werk und Wirkung dieses Autors aufrechtzuerhalten und voranzutreiben – Christoph Marthaler ebenso.