Hemingway – aus der Zeit gefallen?

Der Großschriftsteller wurde vor 125 Jahren, am 21. Juli 1899, geboren.

„Ich will als Schriftsteller gelten, nicht als ein Mann, der an Kriegen teilgenommen hat; oder als einer, der sich in Kneipen prügelt; oder als Schütze; oder als Pferdewetter; oder als Trinker. Ich will nichts als ein Schriftsteller sein und als solcher beurteilt werden.“

Wer das einst von sich gab, war einer, der seine Berühmtheit gerade auch diesen Attributen zu verdanken hat: Ernest Miller Hemingway (21. 7. 1899 – 2. 7. 1961). Seine mediale Selbstdarstellung, gepaart mit einem exzessiven Lebenswandel ließ ihn, nach vier Ehen, früh erkrankt, ausgelaugt und im Wahn aus dem Leben scheiden …

Key West

Eine „Bekanntschaft“ mit dem Ausnahmeautor machte ich, dem Zufall sei‘s geschuldet, in Key West, Florida. Als mir im Sloppy Joe’s, der Lieblingsbar „Papas“, ein handtuchgroßer Flyer von ihm mit Rahmen, um die Ohren flog. Recht derbe, denn Hurrikan Dorian war im Heranrauschen. In der Kneipe traf ich William Crown. Natürlich kam im Sloppy Joe’s das Gespräch auf Ernest, das später im Haus der Crowns bei seiner deutschstämmigen Frau Anne hitzig fortgesetzt wurde. Anne war eine glühende Verehrerin Hemingways. „William informierte mich, dass Sie schreiben – Bücher meine ich. Interessiert Sie Literatur?“, empfing mich Anne. Nun, mir blieb nichts anderes übrig, als ihre Frage zu bestätigen. Sie griff rückwärts auf den Beistelltisch, dann hielt sie The Old Man and the Sea in den Händen. „Ich liebe Hemingway und lese dieses Buch immer wieder. Besonders, wenn Naturgewalten außer Kontrolle geraten – wie bald.“

Ich war perplex, dass diese distinguierte Lady den Macho, Weiberhelden, Alkoholiker, von Publicitysucht getriebenen, verehrte, geradezu schwärmte: „Das Mannsbild, wie aus einer Eiche gemeißelt, finde ich einfach toll. Ich fühle sein Herz mit den Sehnsüchten und seinen Körper mit Verlangen und Ringen um literarische Anerkennung und Vollkommenheit. – Erzählen Sie, was lesen Sie?“ Ich warf die Hände hoch. Gewiss, eine Geste des Protestes und der Provokation. „Um Gottes willen, Hemingway! Der Langweiler mit seinen primitiven Sätzen und nichtssagenden Dialogen. Weltgeltung hat ihm allein sein Lebenswandel verschafft. Seine Figuren sind farblos. Der Plot seiner Geschichten zäh wie Melasse. Nein, ich mag Joseph Conrad, Somerset Maugham, Fredric Prokosch, Robert Ruark. Literaten, aus deren Federn gekonnte Diktion fließt.“

Anne, anfangs erschrocken über meine Reaktion, lachte jetzt und konterte ebenso emotional: „Conrad, dieser geschwätzige Pole. Ein Maulheld. Am Ende bediente er triviale Gemeinplätze, wie Maugham. Nach der zweiten Seite weißt du, wie die Geschichte ausgeht. Puh, wie ermüdend! Und Prokosch, der beschwor dunkles, archaisches Afrika, Sturm und Echo, eine Mixtur aus Klischees …“. Ich fühlte mich herausgefordert und fiel ihr ins Wort: „Herrje, sind The Green Hills of Africa, oder The Snows of Kilimanjaro große Literatur? Bei letzterem schlief ich beim Lesen und während des Films ein. Nein, zu Ernest habe ich keinen Zugang. Da wurde sein Mythos, nicht seine Kunst verlegt!“ Anne: „Ganz und gar nicht! Ihnen fehlt der Zugang, um zu erkennen, welche Kunst im Weglassen, welche Genialität im vermeintlich Banalen und der Einfachheit der Dialoge liegt. Hemingway schuf einen nie dagewesenen, vollkommen neuen Stil, der starke Bilder erzeugt. Einzigartig! Du musst dich seiner Forderung stellen, dich auf ihn einlassen.“ William hatte uns amüsiert gelauscht, meinte nun: „In Sachen Papa Hemingway ist meine Frau Expertin. Sie kann dir den Schriftsteller näherbringen.“

Hemingways Lieblingsplatz im Restaurant La Terraza in Cojimar, Kuba

Dazu kam es auch, trotz meiner Bedenken: In der Whitehead Street 907 besuchten wir das stattliche Anwesen Ernest Hemingway Home & Museum. Der Schriftsteller lebte dort mit seiner Frau Pauline von 1931 bis zu seiner Scheidung 1940. Allerdings von regen Reiseaktivitäten unterbrochen. Nach dem eindrucksvollen Rundgang durch das zweistöckige Gebäude, angefüllt mit allerlei Exponaten, umschlichen von einer Vielzahl schnurrender Sechs-Zehen-Katzen – Hemingway züchtete und liebte diese Vierbeiner –, informierte Anne: „Hier entstanden Titel wie A Farewell to Arms, The Green Hills of Africa, oder To Have and Have Not.“ Dann erhielt ich von Ihr auf einmal lose Seiten einer neu entdeckten Kurzgeschichte des Meisters der Short Stories: Hunt as Luck. Ich überflog den Text. Ein echter Ernest. Es ging ums Fischen, Kräftemessen und ´ner Schlägerei … dabei kam mir der Gedanke: Papa H. taumelte hier in Key West, wie vielleicht auch in Kuba, Afrika, oder anderswo tropensüchtig zwischen Lethargie und Spannung. Thrill und Einsamkeit, führte das zu seiner eigentümlichen Erzählweise? Einigermaßen gelangweilt stecke ich die Seiten ein.

Tags drauf fragte Anne: „Ich hoffe, du hast Hunt as Luck gelesen?“ – „Eine typische Hemingway-Story mit dem eingeschobenen Hinweis des Anglers Carlos, der erzählt, dass im Donovan‘s ein betrunkener Cop aus Jux eine Gallego zusammenschlägt – kann damit nichts anfangen.“ – „Aber, aber, das ist doch gerade der Kern. Die Tragik der Geschichte! Ein selbstherrlicher Polizist, will einem Gringo gegenüber seine Macht demonstrieren, in dem er einen unbeteiligten Kubaner, einen Mitbürger, grundlos niederschlägt. Eine glänzend, lässig eingestreute Parabel bezüglich der Absicht, die die Angler im Schilde führen. Und gleichzeitig gibt Ernest die Zwiespältig seines Charakters preis.“ – „Verflixt, du hast recht, Anne! Ich muss Hemingway aufmerksamer lesen. Es ist an der Zeit, mich intensiver mit ihm zu befassen.“

Havanna

Die Möglichkeit bot sich 145 Kilometer südlich, in Kuba. Dort lebte Ernest, ebenfalls mit Unterbrechungen, 20 Jahre in seinem Domizil Finca Vigía. Ich war gekommen, um Havanna, Kuba und den Schriftsteller für mich zu entdecken und seinen Spuren im Inselstaat der Nach-Castro-Ära zu folgen. Dabei stieß ich auf seinen Brief von 1928 an Pauline: Ich habe mich oft gefragt, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll, und jetzt weiß ich es – ich werde versuchen Kuba zu erreichen. Doch es mussten noch Jahre vergehen bis er sich auf der Insel häuslich niederließ. Zuvor bezog er in Havanna ein Zimmer als Schreibstube und Liebesnest im Hotel Ambos Mundos. Ecke Calle Obispo fand er sein späteres Stammlokal La Floridita, den schönsten Ankerplatz in der Karibik. Ich trank an der Bar, auf „seinem“ Barhocker, einen Daiquiri. Hemingway brachte es auf selten weniger als zehn pro Abend. Und zwar von der Sorte „Papa Doble“ mit doppelter Menge Rum. Ich klapperte sie alle ab, die vielen Stationen seines Wirkens.

Cojimar

Schließlich begab ich mich nach Cojimar. Dort lag einst Papas Motorjacht, die PILAR. Dort lebte auch sein Skipper Gregorio Fuentes und die vielen Fischer, deren Gesellschaft Ernest so genoss. Von Cojimar aus startete er, um möglichst die kapitalsten Marline, Schwertfische, Thunfische oder Haie zu angeln. Im Ort ist Papa noch heute präsent, als großer Fischer, Gönner, Autor und einer der ihren. Hat er den Fischern doch mit Der alte Mann und das Meer ein Denkmal geschrieben. Nach einem gediegenen Essen im La Terraza auf Papas Lieblingsplatz, unter einem Foto, das ihn im Gespräch mit Fidel Gastro zeigt – es gab Schalentiere, die der Schriftsteller auch gern aß – stach ich mit Enzo Hermandez und seinem Fischkutter in See.

Golfstrom

Wir cruisten auf dem Golfstrom im Kielwasser Hemingways auf Fangfahrt. Kurs: Ost-Süd-Ost. Ich saß im Kampfstuhl und hatte einen mords Fisch am Haken. Kämpfte mit dem Burschen. Herrje, war das aufregend und anstrengend – caramba, so musste sich Ernest gefühlt haben! Als Herr über ein wehrhaftes Tier, das es zu besiegen galt. Es war ein Thunfisch, fast zwei Meter lang … und plötzlich war er weg, hatte sich losgerissen. Auch gut!

Später tuckerten wir durch ein Gebiet, in dem Ernest Jagd auf deutsche U-Boote unternommen hatte. Dafür wurde seine PILAR eigens umbaut. Sein Drang an Kriegsgeschehen teilzunehmen war einfach unstillbar! Ich fragte Enzo: „Hatte Papa Erfolg mit der U-Boot-Jagd?“ Der Kubaner lachte. „Er hatte nicht eines gesehen! Die Abende nach erfolgloser Suche endeten bisweilen an Bord mit Saufgelagen, Kartenspielen und Prügeleien. Hemingway aber fühlte sich wohl, konnte er doch wieder mal Mut und Verwegenheit unter Beweis stellen.“ Sein Spätwerk Insel im Sturm erzählt von der Begebenheit als dramatisches Spiegelbild seiner selbst, das er 1945 entwarf, es ist aber erst 1971 überarbeitet, erschienen.

Zurück in Havanna

Am Ende einer langen Reise kreuz und quer durch Kuba verabredete ich mich mit Professor Juan Utiva, einst Dozent für amerikanische und kubanische Literatur. Zur Zeit schlug er sich in Havanna als Fremdenführer durch. Wir trafen uns im Ambos Mundos. Dort, wo wir uns Wochen zuvor kennengelernt hatten.

Hotel Ambos Mundos, Foyer. Hemingways erste Bleibe in Havanna

Bei einer Cohiba und Cuba Libre fragte er neugierig: „Na, und wie resümierst du deine Spurensuche? Hat sich die Sichtweise auf den Schriftsteller verändert?“ In Erwartung der Frage schloss ich meine Augen, versetzte mich auf den Kampfstuhl Ernest‘s PILAR und den des Fischkutters und antwortete: „Hmm – genetische Disposition, die merkwürdige Erziehung – Mutter Grace steckte ihr Knäblein für Jahre in Mädchenkleidung, Vater Clarence machte ihn in der Natur zum Raubein – und traumatische Erlebnisse, darunter der Selbstmord seines Vaters, haben ihn zu einer extremen, ja tragischen Person werden lassen. Einer Person, die in ihrer Besonderheit Regeln sprengte. Schon richtig, den Ruhm als Schriftsteller erwarb er durch neuartige Erzählweise des Weglassens und Minimierens. Und das erklärte er mit seiner Eisbergtheorie: entscheidende Situationen nicht detailliert auszubreiten, sondern Löcher zuzulassen, die der Leser durch Fantasie selbst schließen soll. Also, Hemingway wollte nicht nur einen erheblichen Teil seiner Story unter der Wasserlinie lassen, sondern zusätzlich schmucklos, mit wenig Adjektiven, präsentieren. Mir ist die karge Sprache zu wenig!“

„Das heißt, dein kritischer Blick auf den Autor ist geblieben?“ – „Das will ich so nicht sagen, Juan. Es ist mir jedoch klarer geworden, dass Ernest trotz seiner Verdienste um Sprache und Ausdruckskraft seine Weltgeltung nicht ohne die Vermarktung seines Lebensstils errungen hat. Er trieb ein exorbitant gutes Marketing: mied Journalisten, bepöbelte, oder verjagte sie – bis auf wenige Ausnahmen – einerseits, fütterte sie andererseits ständig mit spektakulären Abenteuern. Hauptsache El Papá blieb im Gespräch. Die Männerwelt, die einst Hemingway, den Hochseefischer, Großwildjäger, Schlachtenbummler, Verführer, Boxer, Macho, Stierkampf-Fan, Abenteuer und weiß Gott was noch alles ‚verschlang‘, ist als sein Konsument so gut wie ausgestorben, und seine bisweilen vulgären Beschreibungen übers Kräftemessen, Tieretöten, zu Kampfhandlungen, finden bei Frauen im Allgemeinen wenig Anklang. Ein bekannter Verleger ließ einmal verlauten: Ein Hemingway würde heute nicht verlegt werden. Nach heutiger Betrachtung sei er aus der Zeit gefallen. Fürwahr, Statements wie dieses von ihm mag man nicht hören: Ich schieße gern mit der Büchse, und ich töte gern, und Afrika ist genau der Ort, wo man das tut.“

„Begnadete Künstler bergen doch häufig Gegensätzliches in ihren Charakterzügen: Geniales, Soziales und Asoziales!“, meinte der Professor. – „Das stimmt. Bei Hemingway irritiert mich seine Philosophie, damit ist er eben nicht als überzeugender Repräsentant des Humanismus zu nennen!“ – „Dennoch, für die allermeisten Kritiker ist er der Pionier und Meister der Short Story und Reformer des amerikanischen Romans. Er warf Erlebtes auf den Amboss, um es neu zu schmieden – das ist ihm gelungen! Und nicht von ungefähr erhielt er 1953 den Pulitzer-Preis, ein Jahr später den Literaturnobelpreis.“ – „Schon richtig. Auch mich fasziniert der Autor. Aber muss ich ihn mögen? Schade, dass sein Lebenswandel über sein Schreibtalent dominierte. Der Mythos über seine Literatur, das bedaure ich.“

Der Professor vehement: „Nein, nein, zu seiner Literatur gehört nicht nur die Schreibkunst, sondern vor allem was er war, um authentisch zu sein, den Leser zu überzeugen. Litt er doch bald unsäglich an seiner Unfähigkeit zu formulieren; Erlebtes in richtige Worte zu fassen.“ – „Keine Frage“, bestätigte ich, „im frühen körperlichen und geistigen Verfall sah er nur noch den Freitod als Erlösung …“ Mich unterbrechend, ergänzte Juan Utiva: „ … indem er in der Diele seines Hauses in Ketchum, am 2. Juli 1961, einem Sonntag, morgens, um sieben Uhr mit einer doppelläufigen Schrotflinte der Qual, seiner von Widersprüchen und Selbstzweifeln gemarterten Seele ein Ende setzte.“

Utiva seufzte hörbar. Wir schwiegen nachdenklich. Nach einer Weile stand er auf und ging. Ich rief ihm nach: „Danke und salud y adiós!“ Dabei fielen mir Worte des Schriftstellers David Herbert Lawrence ein: Mr. Hemingways Skizzen sind exzellent: Kurz, wie das Anzünden eines Streichholzes, das Anzünden einer intensiven Zigarette, und dann ist es vorbei. Seine junge Liebesaffäre endet, als wenn man eine abgebrannte Zigarette wegwirft. Es macht keinen Spaß mehr – Alles ist zum Teufel gegangen. Und – was Ernest einst seinem Freund Aaron Edward Hotchner anvertraute: Hotch, wenn ich nicht unter meinen eigenen Bedingungen leben kann, dann ist für mich das Leben unmöglich. Verstehst du das? So habe ich immer gelebt, so muss ich leben – oder nicht mehr leben.

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Buchcover: Der Autor auf Hemingways Barhocker trinkt einen „Papa Doble“ (Daiquiri) in seiner einstigen Stammkneipe Floridita, Havanna

Wer mehr über Hemingways Leben und Wirken in Key West und auf Kuba erfahren möchte, dem sei das Buch „Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“, genannt. Es ist im Buchhandel, oder unter cropp1@web.de direkt vom Autor zu beziehen. Verlag Expeditionen, 302 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, illustriert mit Farbfotos, ISBN 978-3-947911-55-4; € 22,- (D)

Panel de discusión “ Cien años de olvido – A dónde vas, Latinoamérica?

Foto: José Napoleón Mariona

Poetas-Ensayistas-Novelistas-Pen-Alemania. Pen Centrum Alemania –
100 Aniversario.
Asamblea anual 2024 en Hamburgo.

Gabriel García Márquez al agradecer el Premio Nóbel de Literatura dijo por primera vez la frase “ Cien años de olvido para Latinoamérica“ , y el CLUB PEN DE ALEMANIA lo vuelve a utilizar en ocasión de este panel de discusión acerca de la situación de los periodistas latinoamericanos acosados en sus propios países. Los participantes al foro de discusión dieron testimonio del rescate que el CLUB PEN realizó para sacarlos con vida desde una situación de exilio domiciliar en sus propios hogares y darles protección en Europa.

María Teresa Montaño, de México

María Teresa Montaño Delgado, periodista investigativa de México, relató los detalles de la persecución y acoso de toda su familia, como reacción refleja de las mafias investigadas y la posible conexión con las agencias de gobierno adictas a proteger más a este crimen organizado que a los ciudadanos.

María Teresa fue secuestrada durante 6 horas en el año 2021, los mafiosos la amarraron de pies y manos, le vendaron los ojos y sacaron de su casa sus archivos investigativos.
En ese episodio le robaron el automóvil y dejaron mensajes de amenaza de muerte para sus hijos. Algunas organizaciones de rescate a periodistas perseguidos, como Reporteros sin fronteras y la organización Forbidden Histories le ayudaron a regresar a México, después de cuatro meses de exilio en España. Después del asilo en España continuaron las amenazas y se volvió a exilar otros cuatro meses más. Su campo de investigación periodística son las Mafias Políticas y en el año 2023 pudo editar el trabajo que antes le habían robado durante el secuestro. PEN le confirmó en diciembre del año 2023 su apoyo y ahora está en preparación un libro que narra todo este episodio. Un reportaje aparecido en el periódico madrileño EL PAÍS fue el que despertó la atención del CLUB PEN.

Acoso contra las mujeres periodistas en Latinoamérica

María Teresa opina que en toda Latinoamérica existe el derecho a la libre opinión, aunque hay agresiones nacidas de la naturaleza machista de esa sociedad, con el resultado de que se registra un mayor impacto en contra de las mujeres periodistas investigativas.

Existe esperanza en la elección de una presidenta de la República mexicana para detener la violencia estructural en contra de las mujeres.

Las tres  profundas crisis más urgentes en México

La crisis profunda de los Derechos Humanos, con los miles de casos de desaparecidos y de feminicidios se manifiesta cruelmente con la ausencia de atención para las víctimas. Muchas familias de las víctimas se han organizado para solicitar el apoyo y la protección.

La crisis profunda de poder, crea la pregunta fundamental de ¿Quién es el que gobierna de verdad en México? Es el Presidente, o es el Parlamento, o es el conjunto de Mafias Políticas?

La profunda crisis humanitaria está pendiente de solución sobre todo por la incertidumbre de la magnitud de la intervención del propio presidente saliente, para lograr entendidos con esas Mafias Políticas, lo cual le deja una herencia política a la nueva presidenta electa.

Situación general latinoamericana de la represión literaria

El plano general latinoamericano muestra una represión literaria y el estudio de la organización Reporteros sin Fronteras en su Clasificación anual mundial 2024 muestra la situación precaria de la Libertad de Prensa sobre todo en Argentina, Perú, El Salvador, con un franco deterioro de la Libertad de prensa en todos los contextos políticos.

En resumen, en Latinoamérica es delito escribir desde el lado de la oposición sobre todo en los siguientes países tales como Cuba, Guatemala y Venezuela. Hay leyes y decretos explícitos que castigan el trabajo del escritor crítico.

Ariel Macedo Téllez, de Cuba

Ariel Macedo Téllez, actor, fotógrafo, investigador, es el coordinador en Cuba de la Plataforma “Demonios y Ángeles”. Algunas actividades de denuncia trajeron la atención del gobierno y desataron la represión en su contra.

Ha sido rescatado por PEN de Alemania, para salir de esa situación de incertidumbre y se encuentra a salvo en Alemania. El acoso contra Ariel Macedo Téllez es la continuación de una larga historia de represión política contra los escritores y poetas descontentos con la política del gobierno. En el caso de Ariel, la represión policíaca comenzó en el año 2018, bajo el manto de amenazas y de interrogatorios de parte de la policía política.

El Decreto 349 del Ministerio de Cultura en Cuba

El decreto 349, del año 2018, del Ministerio de Cultura es un instrumento de represión en contra de los autores y artistas que no se incluyan en los registros autorizados por el Ministerio de Cultura.

La Policía Política tiene el monopolio de la represión contra Ariel en particular y contra las asociaciones de artistas independientes. El gobierno cubano ha arrestado varias veces a Ariel, desde 2019 al 2022 , hasta imponer la pena de prohibición para salir del país-. Interesante es la percepción de Ariel, cuando encuentra un paralelo entre la represión en contra de los escritores independientes, tanto por del estado de la República Democrática Alemana (DDR) como en Cuba. El acoso del gobierno en contra de Ariel motivó un movimiento de protesta de parte del grupo de artistas independientes en contra de la política del Ministerio de Cultura. El acoso del gobierno asume diferentes formas que van desde las amenazas, los atentados y el arresto domiciliar. Ariel pudo obtener una autorización para viajar a Nicaragua y desde allí decidió viajar durante   tres días en diferentes buses hasta llegar a México.

Los viajes clandestinos en Centroamérica

Habiendo contratado los servicios de un mafioso dedicado a la migración informal, al llegar a Guatemala le confiscó el equipo profesional como periodista , bajo la sospecha de que Ariel se había colado como refugiado para redactar un reportaje , enviado por las autoridades cubanas , a fin de desprestigiar a las naciones que tienen migrantes informales en la zona centroamericana. Aunque no recuperó el equipo que le robaron los mafiosos que organizan esos viajes clandestinos, le perdonaron la vida, al descubrir que Ariel era un poeta perseguido por el gobierno cubano. La reacción del gobierno cubano fue la de exponerlo a la opinión pública , calificándolo de lumpen , de basura social por haberse exilado voluntariamente.

El rescate de Ariel hacia Alemania

Finalmente, PEN lo sacó de México y lo rescató para trasladarse a Alemania bajo su protección.

Ariel está muy triste por la decisión de quedarse a seguir luchando dentro de Cuba, por algunos poetas cubanos perseguidos por el gobierno, y no aceptan la oferta de PEN para encontrar una solución de vida, al trasladarse hacia Alemania.

El opositor tiene que exilarse para después de estabilizar su vida en ese exilio, regresar a luchar dentro de su propio país, ya con mejores herramientas en base a sus contactos durante la duración del exilio.

Ariel era el director secreto de una Página Satírica llamada “ Hay qué muera” y su identidad fue descubierta al público, como parte del acoso del gobierno, para ponerlo en peligro de los seguidores fanáticos del régimen.

Amir Valle Ojeda, de Cuba

Amir Valle Ojeda nació en Guantánamo dentro de una familia leal al ideal revolucionario. No era una persona disidente ni desobediente al régimen.

Solamente escribía dentro de uno de los dos bloques de escritores dentro de Cuba, que son : los que están inscritos en las listas dentro de Ministerio de Cultura y los otros, como Amir Valle Ojeda que se consideran escritores libres. A los escritores libres (independientes) es a quienes acosa la policía para “calmar sus ánimos”.

Siendo hijo de un Comandante de la Revolución , la familia lo definió como la oveja negra

En el año 2004 presentó su libro en España, pero entonces el gobierno tomó represalias y le negó la autorización para regresar a Cuba, Amir tuvo que quedarse indocumentado en Madrid y entonces PEN de España lo atendió y de esa forma llegó a vivir en Berlín.

PEN de Alemania lo ha apoyado y le ayudó a conseguir un empleo en la Deutsche Welle

Ya Gabriel García Márquez intercedió a su favor ante el gobierno de Cuba en el año 2006 y tuvieron una conversación privada juntos en Alemania en el año 2007.

Amir declara que haber nacido en Guantánamo fue una razón para comenzar a escribir y pone el ejemplo de su nombre – Amir- el cual fue encontrado en un diccionario cuando iba a nacer y no tiene nada qué ver con las tradiciones del sitio o de la familia. Era el nombre de un Príncipe y la mamá decidió nombrarlo como aquel Príncipe Amir. El abuelo de Amir es un comerciante fuerte en Guantánamo a tal grado que la carne fresca de pescado que se consume en la base de los marinos de Estados Unidos se la vende el abuelo de Amir, quien entre otros negocios es el propietario de la flotilla de pescadores.

El efecto “nostalgia por Cuba como aliado

Amir relata que desde la pandemia la situación del pueblo cubano ha empeorado y piensa que el gobierno cubano necesita comprar tiempo para realizar una estrategia que mejore sus relaciones con los países que tienen “nostalgia por Cuba”, y eso incluye a Europa y a los Estados Unidos.

La situación precaria de Cuba se esperaba que cambiaría al fallecer el líder Fidel Castro y no cambió, pero luego se esperó un cambio al fallecer su hermano Raúl Castro y tampoco sucedió.

El “mañana” post socialista en Cuba

Como resultado surgió la expectativa acerca de ese “mañana”, resultando en una idea de Cuba después del episodio socialista. Esta expectativa acerca de ese “mañana post socialista” motivó que las élites socialistas enviaran a estudiar a sus hijos al extranjero para conformar una nueva élite a su regreso.

El resultado es el surgimiento de monopolios económicos dirigidos por la nueva élite, agrupando a Microempresarios legalmente y operando la planta de turismo local. No funcionan los nuevos cambios introducidos por esta nueva élite.

“El aliento del lobo”, nuevo libro de Amir

En su nuevo libro, Amir lo tituló “El aliento del lobo”, hace una comparación entre los métodos del Ministerio de Seguridad del Estado de la -Stasi- DDR- y los métodos del Servicio Secreto de Cuba. Esta idea le surgió al comparar que el muro de Berlín y la situación de isla rodeada de agua en Cuba.

Recuerda la cooperación técnica acerca de los métodos del Ministerio de Seguridad del Estado de la DDR, con las Policías Secretas en algunos países en Latinoamérica, África y Asia , por medio de la cual se enseñaron los métodos de represión , con sus estructuras comparadas.

Conclusiones del panel de discusión

Resumen del Panel de Discusión.

Las expectativas de los escritores latinoamericanos rescatados por PEN de Alemania para una nueva vida en libertad se juntan en un común denominador de la esperanza de poder reunir a la familia, trayendo a quienes se han quedado en sus países. Los dos escritores cubanos desean ver el momento de una Cuba liberada, plural, justa y democrática. De momento en su vida en el exilio alemán, esperan tener un espacio de maniobra para gozar de la libertad dentro de la democracia. El mayor desafío lo consideran en lograr una reducción de la “nostalgia alemana sobre Cuba” , a través de la divulgación de sus libros redactados ye en el exilio.

 

Die Welt von morgen: Unsere Zukunft

Foto Wolf-U. Cropp: „Dreht sich die Erde in die richtige Richtung“?

Ein imaginärer Dialog eines Vaters mit seiner Tochter 

Um Gotteswillen – warum nur! Dein Bild hängt an der Wand, gleich neben meinem Schreibtisch. Dutzende Male betrachte ich es – und spreche mit dir, schaue in deine blauen Augen, mit dem nachdenklich-ernsten Blick und manchmal kommen mir die Tränen. Du warst meine einzige Tochter, mein Schatz und mein Stolz! Ich habe deinen starken Willen, deine Intelligenz, dein Engagement und deinen Mut bewundert. Habe dich bestärkt in deiner Unbeugsamkeit was dein großes Anliegen anging: Die Bewahrung und den Schutz der Umwelt. Ja, darin hast du einen Eifer gezeigt, der mir Bewunderung, aber auch Besorgnis abrang. Du warst auf den Weg Karriere für die Umwelt zu opfern. Nobel! Fridays for Future, dann Letzte Generation waren deine besonderen Engagements … bis zum Tag deiner Resignation. Wo blieb deine Resilienz, jene Stärke, die äußere Einflüsse nicht in dein Inneres ließ? Ärzte vermuten eine posttraumatische Verbitterung, die sich bei dir fundamentiert haben könnte.

Warum? Mensch, Christin, du fehlst mir so sehr! Ewig denke ich an dich, bekomme dich nicht aus meinen Gedanken. Habe ich dich auf dem Gewissen? Als du mich nach der Zukunft fragtest? Nahm ich dir den Optimismus. Hast du den Glauben an den Sinn deiner Aufgabe verloren? Hatte ich dir die Illusion vom Leben im Einklang mit Natur und Umwelt geraubt? Wie kann ich mich entschuldigen, dich um Verzeihung bitten? Ich, als dein Vater, habe viele Fragen, unbeantwortete Fragen, die Schmerzen bereiten, weil du mir nicht antworten kannst.

Nun hadere ich gar mit meinem Beruf als Wissenschaftler, weil ich an der Welt von Morgen arbeite. Mir vorstelle, wie sich diese Welt von Morgen gestaltet. Du aber erschrakst, hattest dich abgewandt, warst über meine Sichtweise und die Rasans der Forschung verzweifelt. Hattest mich verflucht. Verflucht, dass dein Vater am Frefel wider die Natur beteiligt ist!

Ich bin Physiker, Neurotechnologe, Kognitionsforscher, arbeite in einem KI-Labor an einer Entwicklung mit Ergebnissen, für den Laien unbegreifbar. Das hatte dir Angst gemacht. Bin ich deshalb ein Verbrecher, ein Mörder, einer der Monster entwickelt, die Zerstörung schaffen?

Sagt es mir, Christin, schrei es mir ins Gesicht!

Ist Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe, ein ebensolcher Verbrecher? Wissenschaftler sind für Forschung und Entwicklung verantwortlich. Die Politik verantwortet die Verwendung der Resultate. Oder ist das zu einfach, verantwortungslos, oder zynisch?

Ich weiß nur, dass ich leide, unendlich traurig bin, dich, geliebte Tochter, verloren zu haben. Unsere Ziele sind unvereinbar, verlaufen diametral im Nirgendwo. Du, als die Bewahrerin und Pflegerin von Mutter Erde. Ich, der Futurologe, Mit-Gestalter einer Welt von Morgen. Das hat mir mein Teuerstes geraubt. Ich bereue  es, doch ändern lässt es sich nicht!

Mein Bemühen dich angstfrei, aufgeschlossen, tolerant zu erziehen, ist misslungen. Zukunftsangst hat dich übermannt und dich von mir entfernt. Das macht mich unglücklich, weil ich versagt habe, weil ich dir meine Welt nicht richtig erklären konnte.

So oft ich dein Bild sehe, höre ich was du sagtest: „Deine Welt ist nicht die Meine!“

Damit bis du verschwunden. Für immer? Ich weiß es nicht! Und mir kommen dann stets die Tränen. Ich weiß gar nicht, ob ich dir oft genug gesagt habe, dass ich dich liebe, dass du der wichtigste, wertvollste Mensch in meinem Leben warst. Und dass du das bis heute immer noch bist. Auch wenn du mir jetzt nicht mehr antworten kannst, und weit, weit weg bist.

Ich muss mir den Schmerz von der Seele schreiben, um nicht zu verzweifeln, um nicht deinen Weg gehen zu müssen. Meine Überzeugung, was unsere Zukunft angeht, ist zu fest verankert, ich darf sie um deinetwillen nicht verraten, um dir zu gefallen nicht aufgeben. Also halte ich Zwiesprache, erkläre dir was kommen wird, auch in der Gewissheit wie sehr ich dir deine Sehnsuchtsträume zerstöre. Verzeih mir!

Einst fragtes du mich: Was ist für dich, Vater, der Sinn des Lebens?

Meine Antwort lautete: Das Wissen weitergeben.

Schon die nächste, mit Sicherheit die übernächste Generation wird eine gänzlich andere sein. Und diese veränderte Zukunft bewirkt KI, die Künstliche Intelligenz durch Entwicklung und Umsetzung. Auf diesem Forschungsgebiet setzen China und die USA enorme finanzielle Mittel ein. Europa ist mit Deutschland auch dabei, wenngleich verhaltener, weil bürokratische und moralische Hürden höher stehen. Hinzu kommt ein anders geartetes Demokratie- und Humanitätsverständnis.

Wieso?, fragst du.

Nun, das zeigt sich im Umgang mit Flüchtlingen, der Freiheit des Individuums, der Verfolgung und Bestrafung von Terroristen und Verbrechern, oder der Durchsetzung von Zielen nationalen Interesses. Außerdem ist höchst ungewiss, wie sich die EU künftig gestaltet. Mit der Ukraine? Mit der Türkei? Mit dem Nahen Osten? Oder zerfällt die Staatengemeinschaft?

Das wäre eine Katastrophe!, sagst du.

Bei meiner mittel- bis langfristigen Betrachtung unerheblich!

Warum?

Ganz einfach, wegen der zu erwartenden, enormen Veränderung. Risiken, die an einer Vormachtstellung Chinas, der EU, der USA, oder Russlands zweifeln lassen: China droht politische Instabilität, könnte sich zudem wirtschaftlich übernommen haben. Die EU leidet an Uneinigkeit. Die USA spalten ethnische Auseinandersetzungen und Polarisierung. Russland, immer unter irgendeiner „Knute“ seiner Herrscher gelitten, fehlt es an Initiative und Innovationen.

Das trifft doch auch für China zu! Die Unfreiheit, meine ich.

Das ist zwar richtig, doch die Chinesen sind enorm arbeitsam, zukunftsorientiert und geschickte Kaufleute.

Aber Vater, bist du etwa ein Rassist?

Ganz und gar nicht! Doch so wie du, oder eine Familie, hat auch ein Volk gewisse charakterliche Eigenarten. Das zeigt sich doch in den unterschiedlichen Kulturen.

Und wem wäre denn noch eine Führungsrolle zuzutrauen?

Unter Umständen Indien.

Trotz der strengen Trennung durch deren Kasten?

Die werden überwunden. Liebe Christin, es wird sich schließlich der Staat durchsetzen, der als erster und am „brutalsten“ den mit Hilfe von KI kreierten „Supermenschen“ einsetzt und wirken lässt.

Das ist ja entsetzlich! Das darf niemals geschehen!

Ob Angst davor, Ablehnung, Unvorstellbarkeit … wir werden ihn bekommen, den Menschen mit dem „unendlichen“ Wissen. Elon Musk investiert seit Jahren erhebliche Summen, die die Verknüpfung von digitalem Wissen mit dem menschlichen Gehirn herstellen wird. Sein Projekt „Neuralink“ erhielt vor kurzem die FDA-Zulassung.

Was ist das für eine schreckliche Genehmigung, frage ich dich?

Eine US-Erlaubnis der „Food and Drug Administration“ sein Forschungsprojekt weiterzuführen.

Oh Vater, auch wenn ich das Ganze höchst unmoralisch, grauenhaft und Gottspielen wollen finde, wie wirkt sich das aus?

Brain-Computer-Interface musst du dir als Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer vorstellen. Dadurch können Chips dem menschlichen Gehirn implantiert werden und kommunizieren. Ob Musk, anderen Investoren, oder Wissenschaftlern das Vorhaben gelingt, ist nur eine Frage der Zeit. Und glaube mir: Die Antwort auf den Wandel ist der Wandel selbst!

Das möchte ich nie und nimmer erleben!

Mit Hochdruck arbeiten die USA, auch Deutschland mit Siemens an Quantencomputern, die mehrere Millionen Mal schneller Operationen verarbeiten als herkömmliche binäre Rechner. Mit einer solchen Technologie ließen sich komplexe Probleme in Millisekunden lösen. Bei einer neuronalen Verknüpfung mit der Leistung des Quantencomputers würden sich derartige Operationen unmittelbar im menschlichen Gehirn abspielen können. Wahrscheinlich sogar mit implantierten Chips im Nanobereich. Diese, mit dem eigenen und dem „unendlichen“ digitalen Wissen ausgestatteten Personen werden die Welt beherrschen. Vielleicht gar andere, neue Staatengebilde schaffen können.

Mein Gott – die Apokalypse des Menschseins!

Nein, nein, bedenke die enormen Chancen für Gesundheit, Medizin, Wirtschaft, Versorgung und auf vielen weiteren Gebieten. Natürlich bergen Fortschritte auch gefährliche Risiken. Klar ist jedoch, dass ich nicht von Hirngespinsten spreche, vielmehr von der Zukunft in fünfzig Jahren. Wissen war schon immer Macht. Doch das neue Wissen wird übermächtig!

Was sagst du dazu: Bosten Dynamics hat neulich einen Roboter vorgestellt, der auf menschliche Gedanken reagiert. Damit gedankliche Wünsche, auch Befehle, ausführt. Das bedeutet: Du hast gerade Lust auf ein Glas Weißwein. Der Roboter begibt sich selbständig zum Kühlschrank, holt die richtige Flasche heraus, öffnet sie und schenkt dir in ein passendes Glas ein. – Auch das Lügen wird in absehbarer Zeit keinen „Erfolg“ haben, weil Gedanken gelesen werden können.

Mit einer solchen Roboterleistung könnte ich noch leben. Aber das Gute bringt das Böse und umgekehrt. Wie muss man sich das künftige Leben der Menschen vorstellen?

Als klar getrennte Dreiklassengesellschaft. In Herrscher, Menschen mit dem direkten Zugriff auf das „unendliche“ Wissen mittels implantierten Chips, dann Roboter mit künstlicher Intelligenz und Beherrschte, denen das Wissen vorenthalten wird. Im Grunde ist das keine neue Situation, allerdings wird die Trennung zwischen Wissenden und Unwissenden ungleich folgenschwerer sein. Das hängt mit der dritten Kraft zusammen, dem autonomen Roboter mit menschlichen Eigenschaften. – Aber halt, es wird noch eine vierte „Klasse“ geben, die der genmanipulierten Menschen. Über kurz oder lang ist die Biotechnologie in der Lage, ein mittels Genschere angst- und schmerzfrei, auch skrupelloses Individuum zu schaffen, das willenlos, absolut gehorsam seinem Herrn dient.

Mein Gott, das ist ja schlimmer als finsteres Mittelalter mit Versklavung und Inquisition!

Da bin ich anderer Meinung. Ich sehe die umwälzende Entwicklung nicht als Bedrohung oder Horror, vielmehr als eine nächste, ja unausweichliche Stufe in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit.

Vater, wie kannst du so etwas gutheißen? Das ist doch das definitive Ende des natürlichen Menschen!

Ja, damit hast du recht. Doch es ist die einzige Möglichkeit weiter zu existieren, wenn auch auf eine veränderte, vielmehr auf eine angepasste Weise – und daran arbeite ich.

Und für den Packt mit dem Teufel hasse und verachte ich dich!

Es kommt – für dich vielleicht – noch unvorstellbarer: Da das Individuum lediglich aus der Summe einer Vielzahl kleinster Teilchen besteht, kann jedes Lebewesen in seine Teilchen zerlegt und individuell zusammengesetzt werden … mit unheimlichen Ergebnissen. Das Verhalten neuer Individuen wird durch die Zusammensetzung subatomaren Teilchen bestimmt.

Gottspielen ist verwerflich und führt in den Untergang!

Du irrst, das ist Physik der Zukunft und nicht aufzuhalten! Wir wissen, das menschliche Gehirn besteht im Durchschnitt aus zehn hoch achtundzwanzig Atomen. Zugegebenermaßen sind das sehr viele Kleinstteilchen. Die Kombination der Teilchen ergibt unser Bewusstsein. Also, damit ist das Gehirn nichts weiter als ein komplexes neuronales Netzwerk.

Um Himmelswillen, was willst du damit sagen?

Ich will damit sagen, dass Bewusstsein, Gefühle, Geist, Seele materiellen Ursprungs sind. Du kannst es auch Datenmasse nennen, die auf jeden Fall reproduzierbar sein wird. Mit anderen Worten: nichts anderes als Reaktionen elektrischer Impulse, oder die Wirkung elementarer Teilchen.

Nein, Vater, das ist schlimmste Gotteslästerung! Der Klerus aller Religionen beschert dir den Scheiterhaufen und ewiges Fegefeuer. Und das zu Recht!

Die Aufregung kann ich nachempfinden. Erlebnisse, Träume, Hass, Liebe … alles ist künstlich erzeugbar – wer kann und will das heute verstehen?

Kein Platz für die Seele des Menschen. Sein Unantastbares?

Seele? Was ist das? Namentlich Religionen haben dem Menschen eine Seele verschrieben. Auch so etwas wird künstlich herstellbar sein, wie das Denken im Allgemeinen. Theoretisch können wir bereits ein Gehirn simulieren. Praktisch lässt es sich mit einem ausreichend leistungsfähigen Computer herstellen. Quantencomputer sind auf dem Wege dazu. Alles, auch das Unvorstellbarste ist lediglich eine Frage der Rechenkapazität bei schneller Datenverarbeitung.

Bitte, hör auf! Ich ertrag dein Horrorszenarium nicht länger.

Einverstanden, Christin. Wenden wir uns wieder dem Weltenwandel zu: Stephan Hawkins sagte voraus, dass ein Großteil der Erdbewohner in den nächsten einhundert Jahren diesen Planeten zu verlassen hat. Mit dem Supermenschen wird es gelingen, dass der Mars oder ein anderer Planet eine zusätzliche Heimat des Menschen werden kann. Extraterrestrisches Leben wird notwendig, weil die Klimaveränderung nicht aufzuhalten ist …

… sie muss aber gestoppt werden! Das ist meine Forderung!

Da widerspreche ich dir. Trotz aller Bemühungen wird das nicht gelingen. Und die natürlichen Ressourcen der Erde sind endlich, schon bald werden sie verbraucht sein.

Warum, um alles in der Welt, ist die Erderwärmung nicht zu reduzieren?

Weil es keine Alternative zum Wachstum gibt!

Wachstum, Wachstum, immer diese verheerende Forderung das Wachstum zu steigern!

Wachsen oder weichen. Schlimm, dennoch unvermeidlich. Wachstum hält den Kreislauf in Gang und am Leben. Ohne ihn entstehen globale, blutige Auseinandersetzungen, unvorstellbare Hungersnöte, wirtschaftliche Zusammenbrüche und vieles Schreckliche  mehr.

Es wird doch prognostiziert, dass die Erdbevölkerung in den nächsten fünfzig Jahren abnimmt. Damit wäre eines der drängenden Probleme gelöst, dass der Übervölkerung.

Ist mir bekannt. Die Voraussetzung der abnehmenden Erdbevölkerung ist die steigende Industrialisierung in den Entwicklungsländern. Und was bedeutet das? Wachstum! Erderwärmung! Zugriff auf die letzten Rohstoffe! Der Wachstumszwang ist nicht nur wirtschaftlich begründet, sondern körperlich, wie geistig im menschlichen Gen, oder im Großhirn verankert. Die Verortung überlasse ich dir.

Und dann? Wie wird sich das Leben gestalten nach all den düsteren Seiten – durch KI ausgelöst? In meinem Kopf kreisen Gedanken um Weltdiktatur, totale Überwachung, die selbst Orwells „1984“ als harmonisches Miteinander erscheinen lässt.

Eine gute Frage. Ich stelle mir vor: Aus dem Homo sapiens novus, wird ein Homo sapiens novus ludens. Der „neue“ Supermensch, der intelligente Maschinen, also Roboter, für sich arbeiten lässt, hier oder im Anderswo.

Glaubst du denn, dass gutes, erfülltes Leben ohne Arbeit sinnvoll und möglich ist?

Warum nicht? Wir werden wie Privatiers unseren Hobbys frönen. Spielend uns anderen Dingen widmen, wie Kinder, nur  innovativer … Du siehst, die Zukunft muss nicht schrecklich sein – ganz im Gegenteil!

Ich weiß, du wirst jetzt skeptisch, vielleicht sogar verächtlich lächeln.

KI beschert uns ein Davor und ein Danach. Als Utilitarist glaube ich an ein gutes Ende im Danach und hoffe sehr, dass dich dein Lebensmut nicht verlassen hat und ich von dir ein wenig verstanden werde. Und glaube mir: Vor dem Fortschritt Angst haben, ist der Menschheit Untergang! – Ganz gleich, wo du auch sein magst. Ich wäre sehr dankbar und glücklich für deine Einsicht, liebe Christin!

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Dieser Text erschien zuerst in kürzere Form im Mackinger Verlag, Österreich zum Thema „Der Zukunft entgegen gehen“.

 

 

 

 

 

Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6

Feinster literarischer Input: die neuen Perlen der Literatur

Ralf Plenz im Gespräch mit Henning Venske

Wer Literaturveranstaltungen schätzt, in denen nicht nur aus Texten vorgelesen wird, sondern es noch Wissenswertes über deren Autoren und ihre Bedeutung im Kontext der Zeitgeschichte zu hören gibt, ist bei einer Präsentation der Neuerscheinungen des Input-Verlags richtig. Die Hamburger Autorenvereinigung als Veranstalterin hatte zur Vorstellung der fünf neuen Titel eingeladen. Als die Buchreihe mit den ersten Bänden 2021 erschien, war der Gedanke nicht ganz abwegig, dass der Büchermacher Ralf Plenz entweder sehr gut in seinem Metier oder verrückt sein müsste – wer kommt sonst auf die Idee, in Zeiten schwindender Buchabsätze alte Titel neu herauszubringen?

Ergeben die Buchrücken der ersten 19 nebeneinander ins Regal gestellten Bände den Schriftzug „Perlen der Literatur“, ist die „Perlenkette“ fürs Bücherregal nun auf dem Weg, zweireihig zu werden. Zwischenzeitlich existieren 29 Bände, der dreißigste kommt im August. Die Buchvorstellung der fünf Neuerscheinungen von Karl Kraus bis Colette war am 14. Mai das Thema im Theatersaal des Oetinger-Verlags in Hamburg-Altona. Die Vorsitzende der HAV, Literaturwissenschaftlerin und Autorin Sabine Witt, begrüßte die Akteurinnen und Akteure sowie das Publikum, bevor Ralf Plenz die Moderation durch den Abend übernahm.

Der Eros der Logik – Aufsätze über den Gebrauch von Sprache

Elmar Dod referiert über Karl Kraus. Sitzend: Ralf Plenz, Cordula Scheel, Henning Venske (v.l.)

Nach dessen kurzer Vorrede ging es direkt mit Band 27 los: Der Nietzsche-Experte Elmar Dod hatte zu diesem Titel „Karl Kraus – Die Sprache“ das Vorwort verfasst, aus dem er Ausschnitte zu Gehör brachte. Dessen Hauptthema, der Wert des Wortes, beweise große Aktualität und zeige Liebe zur Sprache, so Elmar Dod. 1899 hatte Karl Kraus die Zeitschrift „Die Fackel“ gegründet, die über ihren gesamten Erscheinungszeitraum 30.000 Seiten umfasst. Kraus selbst fasste die in Band 27 versammelten Texte als Sammelband namens „Die Sprache“ zusammen, der 1937 posthum erschien. Die Bedeutung der Sprache, ihr ästhetischer Wert und ihr Geist sind die Themen der Aufsätze. Elmar Dods Zitate aus Vorwort und Kraus‘ Texten beglaubigen schon in ihrer Kürze deren Aktualität und machen Lust auf das Buch.

Kneipen, Kaffeehäuser und Kabaretts

Henning Venske. Foto: Ralf Plenz

Der Impuls zur Neuauflage des oben genannten Werks kam für Ralf Plenz aus der Arbeit an Band 28 „Erich Mühsam – Unpolitische Erinnerungen“, denn Mühsam verweist auf Karl Kraus. Sie waren sich in Wien begegnet. Die Vorstellung dieses Bands oblag dem Radiosprecher und Kabarettisten Henning Venske, der auch das Vor- und Nachwort zu Mühsams unpolitischen Erinnerungen verfasst hat. Bei ihm war das Werk in den besten Händen. „Den ernsthaften Anarchisten war Erich Mühsam zu sehr unpolitische Boheme, dem seriösen Literaturbetrieb trank er zu viel und vergnügte sich zu sehr, den Politikbeflissenen war er viel zu antiautoritär“, so Henning Venske in seinem Vorwort. Sein Vortrag der Satire „Das Lebensprogramm“ von Mühsam war herrlich und wurde weidlich genossen. Die erst 1949 bei Volk und Buch unter dem Titel „Namen und Menschen“ erschienene Sammlung aus den Jahren 1927 bis 1929 lässt das kulturelle Leben am Ende der wilhelminischen Epoche wieder aufleben. Dass Mühsam auch ein wunderbarer Zeichner war, ist nicht allen bekannt. Heute würde man wohl diese Zeichnungen als Comics bezeichnen, meinte Henning Venske.

Eine rosa Perle in der Kette

Florian Weber. Foto: Ralf Plenz

Zu viert übersetzte ein Team den Band 29 von Emilia Pardo Bazán mit dem sehr passenden Titel „Die rosafarbene Perle und andere Geschichten aus dem Panoptikum der Liebe“. Einer der Übersetzer, Florian Weber aus Kiel, war eigens für die Buchvorstellung nach Hamburg gekommen und brachte dem Publikum die hierzulande nahezu unbekannte galicische Autorin näher. Diese war nämlich in ihrer Epoche des 19. Jahrhunderts zur Skandalautorin geworden, weil sie authentisch über die Verhältnisse ihrer Zeit schrieb und dabei Themen wie das Leiden der Frauen unter der männlichen Fremdbestimmung nicht scheute. Ihr sachlich-nüchterner Stil verzichtete auf Wertungen, kam jedoch in einem ironischen Ton daher. Das Übersetzerteam hatte es nicht leicht damit, diesen Ton auch in der deutschen Version zu treffen. Florian Weber bot einen sehr spannenden Einblick in die Arbeit der Übersetzung, die letztlich eine literarische Nach- oder Neubearbeitung mit sich bringen musste. Erotische Obsession, Prostitution, Ehebruch, Eifersucht und Liebestod – nicht weniger als diese thematische Bandbreite umfasst das Buch als Sammelband, der ursprünglich 1898 in Spanien veröffentlicht worden war. Insgesamt hat Emilia Pardo Barzán über 600 Kurzerzählungen geschrieben, die in Zeitschriften publiziert wurden. Ob es noch unentdeckte gibt, ist nicht bekannt.

Zorn verhindert Verständnis für das Kind

Maria Montessoris „Das Geheimnis der Kindheit (Teil 1)“ ist bereits Thema des Bands 25 und findet die Fortsetzung im gleichnamigen Band 26 (Teil 2 und 3 zusammengefasst), einfühlsam präsentiert von der Schriftstellerin Cordula Scheel, die sich im Wege ihrer neuen Übersetzung aus dem Italienischen und des Verfassens ihres Vor- und Nachworts sehr intensiv mit Montessori befasst hat. Kinder gewähren zu lassen, sie nicht zu unterbrechen und ihnen unsere unbedingte Liebe unter Verzicht auf eigene Vorlieben zu geben, war Maria Montessoris dringendes Anliegen; dass sie diese Behandlung ihrem eigenen Kind nicht angedeihen ließ, sondern es weggab, um Karriere zu machen, verwundert indes. Cordula Scheel ist im Podiumsgespräch mit Ralf Plenz anzumerken, wie sehr ihr das Thema der Kindheit am Herzen liegt. „Hilf mir, dass ich es selber kann“, formuliert sie die Essenz der Lehre Montessoris.

Ältere Frau liebt jüngeren Mann

Der Band 30, nämlich „Chéri“ von Colette, wird von deren Fans sehnsüchtig erwartet, doch diese müssen sich noch bis August gedulden: Erst dann wird das Werk gemeinfrei und kann neu veröffentlicht werden. Ulrike Lemke, in mehreren Sprachen versierte Übersetzerin und Lektorin, übernahm die Neuübersetzung des Romans; Vor- und Nachwort stammen von der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Charlotte Ueckert. Ulrike Lemke erzählte kurzweilig von Colette und der Romanhandlung: Die alternde Halbweltdame Léa verliebte sich in den Sohn einer Freundin und begann eine Affäre mit ihm. Colette schrieb das Werk bezeichnenderweise, als sie eine Affäre mit ihrem Stiefsohn hatte. Zu Colettes Zeit um 1920 war es ein größeres Tabu als heute, wenn der Mann 19 Jahre alt war und die Frau 24 Jahre älter. Colettes erste zwei Männer seien Schwerenöter gewesen, erzählte Ulrike Lemke. Colettes literarisches Leben begann kurz nach ihrer Heirat mit dem ersten Mann „Willy“, sie war 20 Jahre alt und wurde Ghostwriterin in seiner Schreibfabrik. Wie alle Vorträge, weckte auch Ulrike Lemkes Buchvorstellung mit Lesung aus dem Roman große Lust auf das Buch.

Die Perlen auf Expansionskurs

Darum schafft man es auch nicht, ohne Buch den Heimweg anzutreten. Die Freude über die schön gestalteten, in Leinen gebundenen Bücher mit individuellem Vorsatzpapier und ebenjener Banderole, die den eingangs genannten Schriftzug auf den Buchrücken bildet, ist groß.

Ich sinniere wieder darüber nach, wie man in diesen Zeiten eine 30-bändige Buchreihe europäischer Literatur auf den Markt bringen kann, und frage noch mal den Büchermacher. Er und seine mehr als fünf Übersetzerinnen und Übersetzer, 14 Vorwortschreiber und -schreiberinnen, drei Lektorinnen und diverse externe Berater haben die Perlen der Literatur in die Welt geschickt: Man kennt sie in Schweden, Norwegen, Italien, Frankreich, Amerika, Österreich und der Schweiz. Sogar nach Australien haben sie es schon geschafft. Man liest sie sowohl allein als auch gemeinsam; zum Beispiel in Lesekreisen. Dort erscheint Ralf Plenz auf Wunsch sogar persönlich und stellt drei ausgewählte Titel vor. Die Buchreihe wurde in diversen Print- und Onlinemedien vorgestellt und rezensiert. Totgesagte leben länger – so verhält es sich mit der Literatur und so kenne ich es aus der Lyrik auch.

Man kann die Buchreihe abonnieren und sogar Vorzugsausgaben mit Original-Kalligraphien und Aquarellen bekommen. Ein einen halben Meter Regalfläche habe er gerade freigeräumt, berichtete der Büchermacher auf die Frage aus dem Publikum, wie viele Titel es noch werden sollen. Man darf also auf die Fortsetzung der hochwertigen Reihe gespannt sein.

Zum Artikel über die ersten Bände geht es hier: Eine Perlenkette fürs Bücherregal

Zum Input-Verlag geht es hier: https://input-verlag.de/

Handgefertigtes, Buchkunst und ein hochinteressiertes Publikum

Seit 1998 wird im Hamburger Museum der Arbeit, die Messe BuchdruckKunst veranstaltet. Der Name sagt zwar fast alles aus, aber wenn man hingeht, öffnen sich dem Betrachter neue Welten.

Mehr als 60 Aussteller haben am Wochenende vom 5. bis 7. April 2024 ihre Arbeiten gezeigt. Jedoch waren nicht nur Bücher zu sehen, ihr Anteil ist in den letzten Jahren zurückgegangen, sondern sehr viele kleinformatige Drucke, egal ob als Holzschnitt, Linolschnitt, Radierung, Siebdruck und Ähnlichem mehr sowie Reproduktionen solcher Werke. Das ist der Haupttrend der Veränderung in den letzten Jahren.

Etliche Aussteller sind schon zum 15. Mal auf der Messe, und dem Veranstalter Klaus Raasch ist es zu verdanken, dass auch jüngere Buchkünstler einen Ausstellerstand haben. Die Qual der Wahl, aus doppelt so vielen Bewerbungen auszuwählen, ist sicher nicht zu unterschätzen. Jedes Jahr kommen etwa 2.500 Besucher nach Hamburg-Barmbek, um sich inspirieren zu lassen, besonders schöne Stücke zu finden und diese zu kaufen. In diesem Jahr waren es laut Veranstalter rund 1.900. Im Eintrittspreis von 12 Euro sind der farbige Katalog und ein Ausstellerverzeichnis enthalten. Sicherlich werden keine ganz großen Geschäfte abgewickelt, dient doch ein Messestand in erster Linie der Kundenpflege und dem absolut grandiosen haptischen Vergnügen, neue Produkte in die Hand zu nehmen und zu bewundern. Hierbei ist nicht entscheidend, ob es Unikate, Drucke in Kleinstauflagen oder Offset-Reproduktionen in größeren Auflagen sind, es geht um Buchkunst abseits des Üblichen.

Für mich als Journalist beginnt die Qual der Auswahl, was ich dem geneigten Leser näherbringen möchte. Ich habe mich auf fünf Beispiele konzentriert, die unterschiedlicher im Handwerk nicht sein können. Beginnen möchte ich mit der Grafikerin Sabine Riemenschneider aus Wernigerode, die in Kleinstauflagen Bücher im Digitaldruck produziert. Im Bild zu sehen ist eine Papierrolle, auf der durch Stanzung Töne einer Orgel gespeichert und automatisch abgespielt werden können. Dieses Papierunikat hat sie bemalt und beschriftet. Um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat sie es nach der Reproduktion digital in ein großformatiges Leporello-Buch ganz ähnlich wie dieses endlos lange Papier gedruckt.

Gerd J. Wunderer aus Augsburg hat sich auf Unikate spezialisiert. Im Bild zu sehen ist ein Bücher-Karussell, ein Papptheater der ganz besonderen Art. Hiervon gibt es keine Reproduktionen und auch kein Buch, sondern nur das Original.

Der Schweizer Buchbinder Roland Meuter zeigte wunderschöne Bucheinbände aus Leder und anderen Materialien. Besonders angetan haben es mir die Illustrationen auf dem Leder und ganz speziell der Buchschnitt. Jeder Leser kennt einen Goldschnitt: goldfarbener Kopfschnitt, Seitenschnitt und Fußschnitt, aber bei diesem Buchkünstler kommt noch etwas hinzu, was ich in 40 Jahren Praxis noch nicht gesehen habe.

Blättert man das Buch, wie im Foto gezeigt, schräg auf, ergibt sich unter dem Goldschnitt eine weitere Malerei. Meuter benennt es mit dem Fachausdruck „unterbemalter Goldschnitt“. Das sind Unikate mit Aquarellfarbe, die erst dann sichtbar sind, wenn man den Buchblock schräg aufblättert: Höchst künstlerisch.

An einem weiteren Stand entdeckte ich die Logbuch-Buchhandlung aus Bremen, die seit zehn Jahren den Logbuch-Verlag nebenberuflich betreibt. Buchumschläge in schmalen Formaten werden künstlerisch im Hochdruck hergestellt, der Innenteil, schön zwei- oder mehrfarbig gestaltet, im Offsetdruck. Mittlerweile sind zwölf Titel lieferbar (im Foto sind sie in einem Schuber zu sehen), ein optisch und haptisch sehr schönes Erlebnis. Es kommen Autoren wie Edgar Alan Poe, Mary Shelley und Washington Irving in der kleinen Buchreihe, die eigentlich eine Heftreihe ist, vor.

Was passiert mit Büchern, die nicht mehr ins Bücherregal passen, oder was passiert nach einer Haushaltsauflösung? Im besten Fall werden sie in gute Hände weitergegeben, gespendet, und wenn sie besonders wertvoll sind, landen einige in einem Antiquariat. Mein letztes Gespräch führte ich mit dem Hamburger Antiquar Dietrich Schaper, der an einem sehr zentralen Ort in Hamburg, im Pavillon in der Nähe vom Dammtor-Bahnhof, sein Antiquariat hat. Er zeigte auf der Messe BuchDruckKunst  etwa 100 Bücher zum Themenbereich Typografie und Druck. Mit ihnen wurden Generationen von Mediengestaltern und Grafikern aus- oder fortgebildet. Mit diesem Flashback in die Geschichte der Gestaltung und der Druckkunst beende ich diesen kleinen Rundgang und lese auf der Rückfahrt das Buch „Danke Artur“, das dem großartigen Setzer Artur Dieckhoff gewidmet ist, der 72jährig im Jahr 2020 verstarb. Er hat die Druck-Abteilung im Museum der Arbeit mit aufgebaut, war der „schwerste Setzer Deutschlands“ und begann sein Gespräch gerne so: „Du kannst mich auch Meister nennen“. Dass er sich an der Düsseldorfer Kunstakademie vom weltberühmten Künstler Joseph Beuys inspirieren ließ, muss nicht extra erwähnt werden.

Der Buchtitel meiner Roman-Trilogie über die Revolution der Druckbranche in den 1980er Jahren heisst nicht von ungefähr „Lebe wild und gefährlich, Arthur“. Als Abgrenzung zum Original wird Artur hier mit „h“ geschrieben.

Dass auch die Hamburger „Büchergilde Gutenberg“-Buchhandlung mit einem eigenen Stand vertreten war, freute mich ebenfalls, denn dort konnte ich mein vorbestelltes Buch von Uwe Timm abholen, da ich seit etlichen Jahren Mitglied in dieser Buchgemeinschaft bin, die sich dem „schönen Buch“ verschrieben hat. Wer diese hervorragende Buchgemeinschaft mit über 100 Partnerbuchhandlungen noch nicht kennt, findet sie natürlich auch online.

 

Hier finden Sie die Websites der beschriebenen Aussteller:

www.atelier-soso.de Sabine Riemenschneider

www.gerd-j-wunderer.de Gerd Wunderer

www.rmeuter.ch Roland Meuter

www.logbuchladen.de Axel Stiehler

www.antiquariat-schaper.de  Dietrich Schaper

www.buechergilde.de Büchergilde Verlag

 

Der Messetermin für 2025 ist hier zu finden: www.buchdruckkunst.com

(Fotos: Ralf Plenz)

Die erste arabische Autorin einer Autobiographie

Porträt von Emily Ruete (Sayyida Salme) in traditioneller Kleidung als Prinzessin von Sansibar. (Foto: gemeinfrei)

Vor 100 Jahren starb Emily Ruete, die Witwe eines Hamburger Kaufmanns und Autorin des Werkes „Memoiren einer arabischen Prinzessin“

Die erste Autobiographie einer Araberin in der Literaturgeschichte, „Memoiren einer arabischen Prinzessin“, erschien in Deutschland. Ihre Autorin beschrieb sich wie folgt: „Ich verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohammedanerin, und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche.“ Das klingt nach einer bewegten Biographie, und das ist sie auch.

Bei der besagten Adeligen handelt es sich um die Prinzessin von Oman und Sansibar Salama (Salme) bint Said. Die Prinzessin kam als Tochter des regierenden Sultans von Oman und Sansibar, Said ibn Sultan, und einer verschleppten tscherkessischen Sklavin in einem Palast ihres Vaters in dessen Reich zur Welt. Dem Herrscher ein Kind zu schenken, erhöhte Prestige und Status einer Sklavin ungemein, machte sie zur Nebenfrau, und Salme war das einzige Kind ihrer Mutter. Das ist eine mögliche Erklärung für das gute Verhältnisse zwischen den beiden Frauen. Mit ihrer Mutter wuchs Salme in Wohlstand im besagten Palast auf.

Die Prinzessin wusste, was sie wollte und was nicht. Beispielsweise wollte sie schreiben können, und so brachte sie es sich selbst bei. Sie wollte keinen Mann, den ihr die Familie ausgesucht hatte, und so war sie mit 22 Jahren noch ledig. 1856 starb ihr Vater und drei Jahre später auch ihre Mutter. Das Erbe beider ermöglichte ihr ein Leben in Wohlstand und Unabhängigkeit.

Die Liebe kostete sie die Heimat

Ihren Ehemann wählte sie sich selbst aus. Der Glückliche war ihr Nachbar, der Kaufmann Heinrich Ruete aus Hamburg. Eine Eheschließung in ihrer Heimat war ausgeschlossen. Als sie von ihm ein Kind erwartete, entschloss sie sich in Absprache mit Ruete, der später nachreiste, zur Flucht übers Meer. Sie war mit der Ehefrau des britischen Konsuls befreundet, und so nahm sie 1866 vor der Küste ein britisches Kriegsschiff auf seinem Weg nach Aden auf. In Aden heiratete sie Ruete, und die Fahrt ging weiter nach Hamburg. Die Prinzessin nahm neben der Staatsangehörigkeit auch den Glauben ihres geliebten Ehemannes an. Als Taufnamen wählte sie den Namen der befreundeten Ehefrau des Konsuls, der sie ihre gelungene Flucht maßgeblich zu verdanken hatte. Abgesehen vom ersten Kind, Heinrich, mit dem Salme in Afrika schwanger war und das kurz nach seiner Geburt in Aden dort auch verstarb, bekam das Paar 1868, 1869 und 1870 im Jahresabstand noch drei Kinder: Antonie Thawka, Rudolph und Rosalie Guza.

Das Glück währte indes nur kurz. Noch im Geburtsjahr ihres letzten Kindes kam Rudolph Heinrich Ruete buchstäblich unter die Räder. Auf dem Rückweg zu seiner Frau sprang er unglücklich von einer Pferde-Straßenbahn ab und wurde von dieser überfahren.

Emily Ruete, die in ihrer afrikanischen Heimat diverse Plantagen aus dem Erbe ihrer Eltern bewirtschaftet hatte, musste die Erfahrung machen, dass ihr für die Verwaltung des Erbes ihres Mannes ein Verwalter vor die Nase gesetzt wurde. So ist es denn auch nicht ihre Schuld, dass das ererbte Vermögen dahinschmolz. Es begann ein gesellschaftlicher, aber vor allem finanzieller Abstieg. Aufgefangen fühlte sie sich weder durch die Hamburger Gesellschaft noch durch die Familie ihres Mannes. Als sie merkte, dass man anderswo günstiger wohnen kann als in Hamburg, zog sie um. Doch in keiner deutschen Stadt konnte sie Wurzeln schlagen, weder in Dresden oder Berlin noch in Rudolstadt oder Köln. In Deutschland blieb sie überhaupt nur wegen der Kinder. Sie ist halt nur „etwas mehr als eine halbe Deutsche“ geworden.

Auf ihre Besitzungen in der afrikanischen Heimat zurück konnte sie auch nicht. Ihre diesbezüglichen Schreiben an den Sultan blieben unbeantwortet. Immerhin hatte sie unerlaubt das Land verlassen, sich unverheiratet schwängern lassen und schließlich auch noch dem Islam abgeschworen. 1875 erfuhr sie indes, dass Sansibars Sultan Barghasch ibn Said nach London kam, und sie fuhr mit geborgtem Geld extra dorthin, um ihn zu sehen. Doch nicht nur, dass ihr Halbbruder sie nicht sehen wollte. Die Briten hintertrieben das Vorhaben. Sie fürchteten, dass nach einer möglichen Versöhnung das Deutsche Reich versuchen könnte, Emilys Sohn Rudolph als Nachfolger seines Halbonkels durchzusetzen. London bot deshalb Ruete Unterhalt für ihre Familie an, wenn sie ihr Vorhaben abbrach. Ruete brach daraufhin ihr Vorhaben ab – aber die versprochene Gegenleistung blieb England schuldig.

Spielball der Kolonialmächte

Ein Jahrzehnt später schien sich Ruete abermals eine Chance zu bieten. Zwischen dem Deutschen Reich und Sansibars Sultan kam es zu Gebietsstreitigkeiten. In klassischer Kanonenbootpolitik-Manier tauchte ein deutscher Flottenverband vor Sansibar auf, unweit davon ein deutsches Zivilschiff mit Ruete an Bord. Sollte sich der Sultan als nicht kooperativ erweisen, wollte die Reichsregierung den Araber mit den Ansprüchen der deutschen Staatsangehörigen Ruete unter Druck setzen. Doch Barghasch zeigte sich kooperativ, und so verzichtete das Reich darauf, die Ansprüche seiner Staatsangehörigen zu unterstützen. Wenigstens durfte Ruete an Land gehen und ihren mitreisenden Kindern die Stätten ihrer Kindheit und Jugend zeigen. Danach ging es zurück nach Deutschland.

Ein Jahr später landete Ruete mit ihren Memoiren einen Erfolg, der ihre finanzielle Situation verbesserte. 1888 unternahm sie auf eigene Faust eine weitere Reise nach Sansibar. Wieder verweigerte ihr der Sultan eine Begegnung. Aber diesmal kehrte sie nicht nach Deutschland zurück. Denn ihre Kinder waren aus dem Gröbsten raus. Sie sah sich nun nicht mehr gezwungen, bei der Wahl ihres Wohnortes auf diese Rücksicht zu nehmen. Nacheinander wohnte sie in Jaffa, Jerusalem und Beirut, wo auch ihre beiden Töchter hinzogen und ihr Sohn am deutschen Konsulat arbeitete. Im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verließ Ruete Beirut.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie wieder in Deutschland. In Jena fand sie Unterschlupf bei den Schwiegereltern einer ihrer Töchter. Dort ist sie auch vor 100 Jahren, am 29. Februar 1924, gestorben. Ihre letzte Ruhestäte fand Emily Ruete an der Seite ihres geliebten Mannes in Hamburg-Ohlsdorf.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

Sammler und andere Verrückte

Rainer Ehrt: „Kinderbild Christa Wolf“, Druck nach einer Zeichnung. Foto: Pirckheimer Gesellschaft

Bücherliebhaber und -sammler treffen sich zum Austausch
Für alle Buchliebhaber findet bei freiem Eintritt in Hamburg-Altona eine Tagung im Rahmen des Jahrestreffens der Pirckheimer Gesellschaft statt. Die Herausgeberin der bibliophilen Zeitschrift „Marginalien“ hat ihren Sitz in Berlin und vereint nach eigenen Angaben „Sammler und andere Verrückte“, namentlich Bibliophile, Freunde der Graphik (mit ph!) und Exlibrissammler. Es scheint, als trotzte ein kleines gallisches Bücherfreundedorf mit rund 600 Mitgliedern den digitalen Römern, von denen es zunehmend umzingelt wird. Man sollte jedoch nicht glauben, dass man es hier mit ewig Gestrigen zu tun hat, im Gegenteil gelingt es den Pirckheimern, Klassik und Gegenwart harmonisch zusammenzubringen, das Schöne durch die Zeit zu erhalten und Menschen neu für das Medium Buch zu begeistern. Wem das Herz bei leinengebundenen Büchern aufgeht, wer sich gern Exlibris in den Buchdeckel klebt oder gar selbst welche zeichnet, der ist bei dieser Tagung in seinem Element und wird Gleichgesinnte treffen, mit denen es sich vortrefflich fachsimpeln lässt.

Foto: Pirckheimer Gesellschaft

Sicherlich werden auch die „Marginalien“ vor Ort zu finden sein. Diese »Marginalien – Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie« werden von der Pirckheimer-Gesellschaft im quartus-Verlag herausgegeben und geben den Lesern einen Einblick in die unterschiedlichsten Bereiche der Buchkunst und Bibliophilie aus Geschichte und Gegenwart.

Die Pirckheimer-Gesellschaft schaut auf eine bewegte Geschichte zurück: Gegründet 1956 unter dem Dach des Kulturbundes der DDR ist sie jahrzehntelang die größte bibliophile Gesellschaft im deutschsprachigen Raum – zu Hochzeiten mit weit über 1000 Mitgliedern. Sie regt breitenwirksam die Lust aufs gut gemachte Buch an – mit Editionen, Ausstellungen und der eigenen Zeitschrift Marginalien. Aus den unruhigen Wendejahren ersteigt sie neu motiviert und zieht mittlerweile ihre Kreise in ganz Deutschland mit Regionalgruppen von Bayern bis Berlin. Zum Verein Pirckheimer Gesellschaft erfahren interessierte Leser mehr auf der Webseite, die auch Porträts von Sammlern umfasst, und vor allem im Blog.

Das Programm in Hamburg

Die vom Pirckheimer-Mitglied Ralf Plenz ausgerichtete Veranstaltung „Pirckheimer-Treffen samt Vorträgen und Ausstellung mit Gästen der Hamburger Autorenvereinigung und anderen Buchliebhabern“ beginnt am Sonntag, 25. Februar 2024 um 11 Uhr und endet um 17 Uhr.
Anschrift: Alfred-Schnittke-Akademie, Max-Brauer-Allee 24, 22765 Hamburg (Altona), das ist 400 Meter vom Bahnhof Altona (Fernbahn und S-Bahn) entfernt. Der Eintritt ist frei.

Alfred-Schnittke-Akademie

Es gibt einige Fachvorträge von Kennern antiquarischer Bücher, Druckern, Buchkünstlern, Autoren und Verlegern des besonderen Buchs. Gemeint sind sowohl antiquarische Bücher, Sammlerobjekte und Handpressendrucke, jedoch auch wiederveröffentlichte Klassiker. Die Vorträge sind abwechslungsreich, genügend Pausen für Gespräche sind eingeplant. Dazu gibt es an den Tischen der Aussteller viel bibliophiles Anschauungsmaterial.

 

(Dieser Text enthält Auszüge aus der Homepage der Pirckheimer Gesellschaft. Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)

Text: Ralf Plenz und Maren Schönfeld

Nachruf auf Guy Stern, Ehrenpräsident des PEN Zentrums deutschspr. Autoren im Ausland

Guy Stern, Foto: Susanna Piontek

Guy Stern, Ehrenpräsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (früherer Deutscher Exil PEN) verstarb am 7. Dezember 2023, fünf Wochen vor seinem 102. Geburtstag. Unser PEN Zentrum verliert mit ihm einen großartigen und bedeutenden Menschen und ich persönlich einen Kollegen und Freund.

Guy wurde in Hildesheim geboren und emigrierte 15-jährig als einziger aus seiner Familie in die USA. Seinen Eltern war es finanziell nicht möglich, mehr als eine Person ausreisen zu lassen, und sie entschieden sich für den ältesten Sohn Günther, wie er damals noch hieß. In den USA versuchte er seine Familie nachkommen zu lassen, was aber nur möglich war, wenn ein Bürge gefunden werden konnte, der sich verpflichtete, für den Unterhalt aufzukommen. Das war schwierig und alle Versuche eine entsprechende Person zu finden, scheiterten. Somit hat Guy weder seine Eltern noch seine Geschwister und Großeltern je wiedergesehen. Sie wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Als ich ihn einmal fragte, was er vom Abschied von seiner Familie in Erinnerung behalten habe, hat mich seine Antwort stark berührt. Sie bestand aus einem Wort: Taschentücher! Auch werde ich nicht vergessen, was er mir über sein Empfinden sagte, als einziger der Familie überlebt zu haben, u. z.: „Wenn du gerettet wurdest, sagte ich mir, musst du zeigen, dass du dessen würdig bist. Und das war die treibende Kraft in meinem Berufsleben“, und mit dieser Kraft beeindruckte er in seinem Leben in vielen verschiedenen Funktionen.

So wurde er Mitglied der geheimen Einheit der „Ritchie Boys“, des Militärgeheimdienstes der USA im Zweiten Weltkrieg. Für seinen Einsatz wurde er mit dem amerikanischen „Bronze Star“ ausgezeichnet.

Einmal fragte er mich spitzbübisch lächelnd, wie es seine Art war: „Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“ Ich wusste es damals nicht, war sehr erstaunt und erfuhr, dass es einen Film aus dem Jahr 2004 mit dem Titel The Ritchie Boys gibt, in dem er mitgewirkt hatte. Auf dem Cover der DVD, die er mir schenkte, ist er als einer von drei „Ritchie Boys“ abgebildet. Der Name geht zurück auf das Camp Ritchie in Maryland, wo die Ritchie Boys ausgebildet wurden. Ihre Aufgabe war es, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur im Kampf gegen die Nazis zu nutzen, und sie wurden nach der Invasion als Geheimwaffe vor allem für Verhöre von Gefangenen an der Front und zur Spionageabwehr in Europa eingesetzt (s. auch https://die-auswaertige-presse.de/weisst-du-eigentlich-dass-ich-ein-filmstar-bin/).

Vor noch nicht langer Zeit, am 9. Mai 2021, erinnerte das amerikanische Fernsehen in der bekannten CBS-Sendung „60 Minutes“ an diese Einheit. Guy Stern kam in diesem Beitrag auch zu Wort, in dem die „Ritchie Boys“ damit gerühmt wurden, dass sie Leben gerettet hätten und man sie als Helden bezeichnen müsse.

Nach dem Krieg beendet Guy sein Romanistik- und Germanistikstudium und unterrichtete an verschiedenen amerikanischen und als Gastprofessor auch an deutschen Universitäten.

Einen besonderen Platz in seinem Leben war mit der Position des Direktors eines Instituts des Holocaust-Museums in Detroit verbunden, für das er bis in sein hohes Alter tätig war. Als Autor und Herausgeber veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Sammelwerke zur deutschen Literaturgeschichte, insbesondere zur Emigrantenliteratur.

Er wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt u. a. das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Hildesheim und 2017 den erstmals verliehenen OVID Preis des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Guy Stern (r.) und Gino Leineweber bei der OVID Preisverleihung am 7. Mai 2018 in der Frankfurter Nationalbibliothek. Foto: privat

Dieses Zentrum wurde 1934 von den aus Deutschland vor den Nazis geflüchteten Schriftstellern und Schriftstellerinnen als Deutscher Exil-PEN gegründet. Heinrich Mann war der erste Präsident. Bis vor einem Jahr hieß einer seiner Nachfolger als Präsident Guy Stern. Erst 100-jährig gab er das Amt auf und wurde von den Mitgliedern zum Ehrenpräsidenten gewählt. Mit ihm wurde die Tradition und das Selbstverständnis unseres Zentrums in besonderer Weise personifiziert und wir wurden von der Kraft bereichert, die ihn als Überlebenden des Nazi-Terrors angetrieben hatte.

Das PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland und ich werden ihn als einen engagierten Literaten und humorvollen Freund in Erinnerung behalten. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau Susanna Piontek.

 

 

 

 

 

Ein Drängen, das auf verstürzten Wegen Freiheit sucht

Gedenken an den Lyriker und Künstler Winfried Korf (1941-2021)

Als ich, frisch gebackene Sekretärin der Hamburger Autorenvereinigung, mit dem Korrekturlesen der Beiträge für die Anthologie „Spuk in Hamburg“ (Verlag Expeditionen, Hamburg 2014) befasst war, beeindruckten mich zwei Gedichte eines Lyrikers besonders, den ich bislang nur vom Sehen kannte. Dieser Lyriker arbeitete sehr traditionell, mit einem packend bildhaften und eloquenten Wortschatz, geschliffenem Metrum und gestochenem Versmaß. Wer war dieser Mensch, der einer offiziellen Version der Gattung Lyrik „linksbündiger Flattersatz“ mit althergebrachter Wortgewaltigkeit trotzte?

Bei unserer Lesung zur Vorstellung der Anthologie ließ ich mir auch ihm ein Autogramm auf seine Autorenseite schreiben. Seine Widmung lautete: „In Erinnerung an die glanzvolle Vorstellung unserer Anthologie“. Seine Schrift war genauso wie seine Gedichte: Barock und verschlungen.

Einige Jahre später war unser Kontakt zu einer Freundschaft gediehen, die auch das gemeinsame Arbeiten an unseren Gedichten – für eine ganze Zeit auch zu dritt mit einer weiteren HAV-Kollegin – einschloss. Wir diskutierten, manchmal hart, über Formulierungen und den Sinn von Interpunktion in Gedichten. Man konnte sich an ihm die Zähne ausbeißen! Aber gerade das machte es so spannend, denn sein Humor verließ ihn dabei nie. Unsere völlig unterschiedliche Art zu schreiben war kein Hindernis, sondern gerade eine Bereicherung. Dabei hatte Winfried die Angewohnheit, zu „schweren Fällen“ nicht nur Bearbeitungsvorschläge zu unterbreiten, sondern ein eigenes Parallelgedicht zu schreiben. Eine einzigartige Erfahrung, die eine völlig neue Perspektive auf den eigenen Text eröffnete.

Diese Parallelgedichte sind nun, gut anderthalb Jahre nach seinem Tod, neben seinen wunderbar gestalteten handschriftlichen Briefen und seinen Gedichten, ein großer Schatz für mich.

Karin Grubert und Winfried Korf, Foto: privat

Winfried Korf war Maler, Zeichner, Lyriker. Er war auch Historiker, Dozent in der Erwachsenenbildung und Dramaturg, er spielte Klavier, er war ein Tausendsassa. Und er war ein Mensch, der niemals stillzustehen schien. Wenn er nicht schrieb, zeichnete er. Wenn er nicht malte, fotografierte er. Er war ein Getriebener, manchmal kam er mir vor wie jemand, dessen Kerzen an beiden Enden brannte. In seiner letzten Lebensphase sagte er mehrmals, er könne noch nicht sterben, er habe noch zu viel vor. Und bis zu seinem letzten Tag am 14.12.2021 schrieb und malte er, unermüdlich. Die Überschrift dieses Textes, ein Zitat aus seinem Gedicht „Ewige Wanderung“ (Buchtitel s. u.) erscheint mir wie eine Beschreibung seines Wesens. Das Drängen, das ihn antrieb, blieb bis zum letzten Moment. Er hinterließ Mengen an Werken in Wort und Bild, ein Gesamtkunstwerk, das seine Frau Karin Grubert nun unermüdlich ordnet, sortiert und erfasst. Berührend dabei ist, dass er selbst vieles zusammengestellt hatte, das Ordnen seiner künstlerischen Dinge könnte man als Vermächtnis auffassen.

Uns verband die Lyrik, die Literatur, ein wenig auch die Malerei. Natürlich flossen in unsere Gespräche seine umfangreichen Kenntnisse aus den anderen Bereichen seines Wissens ein, aber nie schulmeisterlich, sondern immer dezent, zurückhaltend und bereichernd. Sein Sinn für das Schöne, der Hang, jede Box für Notizzettel, jede Schachtel, jede Mappe mit künstlerischen Elementen zu veredeln, umgab ihn wie ein Raum, in dem er lebte. Alles, was er anfasste, machte er zu Kunst.

Unsere Gespräche über unsere Gedichte, aber auch über andere Literatur, über das Leben, Gott und die Welt, den Garten, die Liebe – diese Gespräche fehlen mir unendlich. Dankbar bin ich dafür, dass wir uns begegnet sind. Dankbar auch für seine Gedichte, mit denen er seine Handschrift hinterlassen hat. Spät entdeckte er, der Reimdichter, das ungereimte und minimalistische Haiku; eine Form, der er exzessiv frönte und sie auch mit seinen Fotografien zusammenbrachte. Vielleicht hätte er heute, bei einer Feier anlässlich seines 82. Geburtstag, in fröhlicher Runde welche zitiert. Ganz bestimmt ist dieser Tag ein Anlass, in seinen Gedichtbänden zu lesen. Dies ist eins meiner Lieblingsgedichte:

Auf dem Stege
Betrachtungen im Böhmerwald

Immer anders, immer gleich: Geweb’ der Wellen,
Die hurtig über Wehr und Felsen schnellen,
Im Lichte springen, gleich gejagten Rudeln
im dunklen Grunde unter Wurzeln strudeln.

Immer gleich und immer anders: Streit der Steine.
Jeglicher am andern und für sich alleine
Werden sie flussab geschoben und im Schieben
Aneinander zu Geröll und Sand zerrieben
Und als Stoff zum späteren Gebären
Neuer Bergeswelt begraben in den Meeren. –

„Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss“:
Er ist es und er ist es nicht.
Du bist es und du bist es nicht.
Wir alle ändern Leben, Lauf, Gesicht –
Ein jeglicher nach seinem Muss.

Und doch ist’s nur die eine Sphäre,
Darin Zerstörer durch die Zeiten kreisen,
Sich steigern, gipfeln, mindern und zerreißen,
Sich verflammend ineinander schweißen
Zu Gestalten, schmelzend in der Leere,

Daraus der Geist sich seine Körper schafft:
Die Dinge als Verdichtungen der Kraft.
Von dem Stege zwischen Hier und Dort,
Von seines Bogens aufgewölbtem Ort,
Der, keines Ufers Eigen, beide bindet
Und überschreitet und kein Ziel je findet,

Schau‘ ich hinunter auf das Schnellen,
Auf das Geweb‘ der Steine und der Wellen:
Strömen, strömen, strömen – Takt der Zeit,
Verschränkt in den Kristall der Ewigkeit.

Winfried Korf (1941-2021): Wanderung im Abend, BoD, Norderstedt 2016

Titel von Winfried Korf bei Amazon: https://www.amazon.de/s?k=winfried+korf&crid=11IILNECC0KER&sprefix=winfried+korf%2Caps%2C89&ref=nb_sb_noss

Endlich wieder Leipziger Buchmesse!

Wie schön! Nach drei Jahren coronabedingter Pause fand endlich wieder die Leipziger Buchmesse im Verbund mit der Manga-Comic-Con und dem Lesefest Leipzig statt. Mit rund 2.000 Ausstellern aus 40 Ländern, mehr als 3.000 Veranstaltungen und rund 3.200 Mitwirkenden an etwa 300 Veranstaltungsorten bot die Messe wie vor Corona eine große Bühne für Autorinnen und Autoren, für Verlage und natürlich für die Leserinnen und Leser. Oder sollte man genauer sagen Hörerinnen und Hörer?  In zahlreichen Lesungen, Talkrunden, Interviews und Mitmachaktionen wurden alle Aspekte rund um Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt vorgestellt. Aber es wurden auch – so ist es gute Tradition hier – viele Fragen zu den generellen Themen Zukunft des Buches, veränderte Lesegewohnheiten des Publikums und Situation der Autorinnen und Autoren diskutiert. Eher am Rande ging es auch um politische Themen.

Ich besuchte die Leipziger Messe vor Corona etwa alle zwei Jahre. Einerseits, um jeweils meine eigenen neuen Bücher auf Lesungen vorzustellen, anderseits, um mich über den Stand der Dinge zu informieren, Anregungen zu bekommen und bekannte Autorinnen und Autoren zu erleben beziehungsweise weniger bekannte zu entdecken. Immer spannend und inspirierend!

Was würde sich verändert haben nach dieser Zwangspause?

Stand Österreichs

Mein erster Eindruck: Vor allem überall Freude, dass die Buchmesse wieder stattfindet. Allerdings hat Corona Spuren hinterlassen: Man rechnete mit ca. 40 % weniger Besuchern (es sollten dann doch fast 250.000 werden!), und auch die Hallen waren längst nicht völlig ausgebucht. Aller (Neu-) Anfang ist eben schwer. In vielen Gesprächen wurde geklagt, dass die stark gestiegenen Papier- und Produktionskosten für die Buchherstellung das Verlagswesen erheblich belastet haben und noch belasten. Aber es war auch viel Optimismus nach dem Motto „Trotz allem!“ zu spüren. Vielfach wurden die staatlichen Hilfen unter dem Titel „Neustart Kultur“ lobend erwähnt. Ja, und das spezifische „Leipziger-Buchmessen-Feeling“ stellte sich nicht nur bei mir ganz schnell wieder ein. Überall Lesungen, Gespräche und Buchvorstellungen, jede Menge junger Leute in ihren Verkleidungen und geschäftiges Treiben an den Verlagsständen und auf den diversen Foren. Allerdings fiel auf, dass selbst größere Verlage auf oft etwas kleineren Ständen als früher vertreten waren.

Wer diese Messe besucht, sollte sich Schwerpunkte setzen, denn sonst verliert man leicht den Überblick und läuft irgendwann orientierungslos durch die Gegend, was zugegebenermaßen auch seine Vorteile haben kann. Manchmal stößt man dadurch auf unentdeckte literarische Schätze, hört interessante, noch unentdeckte Autorinnen und Autoren oder gerät in spannende Diskussionsrunden.

Preisverleihung

Für mich als Autor von Belletristik sind die neuen Romane des Jahres ein naheliegender Schwerpunkt, auf den ich mich konzentriert habe. Dementsprechend habe ich den Bereich Sachbuch nur gestreift, und über Krimis, Horror, Fantasie und Jugendliteratur können andere viel kompetenter schreiben.

Preise der Leipziger Buchmesse

Der Höhepunkt des ersten Messetages war die Verleihung der Preise der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Sachbuch, Übersetzung und Belletristik. Es war wie in besten Zeiten gerammelt voll in der zentralen Glashalle. Die fünf nominierten jeder Kategorie waren jeweils anwesend, und erst mit der Bekanntgabe der Gewinnerinnen und Gewinner löste sich die Spannung. In der Kategorie Belletristik kürte die siebenköpfige Jury den türkischstämmigen Dinçer Güçyeter für sein Familienportrait „Unser Deutschlandmärchen“. Für mich eine Überraschung, waren doch u.a. auch die viel bekannteren Clemens J. Setz und Ulrike Draesner nominiert. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in der Kategorie Sachbuch/Essayistik Regina Scheer sowie Johanna Schwering in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet wurden.

Wie vergänglich nicht nur sportlicher, sondern auch literarischer Ruhm ist, zeigte sich mir bei einem Gespräch im ARD-Forum mit dem großartigen Lyriker Jan Wagner. Der war 2015 umjubelter Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik gewesen, und nun berichtete er vor lichten Reihen über Idee und Produktion des Podcasts „Book of Songs“. Anschließend war ich der Einzige, der sich seinen wunderbaren Lyrik-Band „Regentonnenvariationen“ signieren ließ.

Gastland war in diesem Jahr Österreich. Dementsprechend setzte ich meinen Schwerpunkt und hörte mir Lesungen und Gespräche mit u.a. mit Michael Köhlmeier, Tonio Schachinger, Raphaela Edelbauer und Teresa Präauer an. Ständig muss man sich zwischen unendlich vielen Angeboten entscheiden, und immer beschleicht einen das Gefühl, irgendwo anders etwas zu verpassen. Man sollte gelassen bleiben, auch mal hier und dort ungeplant hineinhören, um so ganz eigene Entdeckungen zu machen. So besuchte ich auf Empfehlung von Lou A. Probsthayn, dem Betreiber des in Hamburg ansässigen Literatur Quickie Verlages, eine abendliche Lesung in einer Eisdiele am Stadtrand von Leipzig. Denn das ist eine der Besonderheit hier: Begleitend zur Messe findet das Festival „Leipzig liest“ nicht nur auf dem Messegelände, sondern überall statt: In Cafés, Bankfilialen, diversen Vereinen und vielen anderen Orten der Stadt.

Ulrike Schrimpf im Café

Schon diese Location war eine Attraktion: Im Stil der 1970er Jahre bot das Café ein lauschig-nostalgisches Ambiente, und die Lesung von Ulrike Schrimpf aus ihrem Roman Lauter Ghosts bekam dadurch einen besonderen Reiz, dass die männlichen Passagen von einem Schauspieler des Stadttheaters Halle im Wechsel mit der Autorin gelesen wurden. So konnte der Text noch mehr funkeln.

Und die Politik? Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine? Spielte kaum eine wahrnehmbare Rolle. Ich hatte mich dennoch entschlossen, der Vorstellung des Buches „Kremulator“ des belarussischen Autors Sasha Filipenko zuzuhören, der im Exil in der Schweiz leben muss. Auf ihn war ich durch seinen das russische Herrschaftssystem entlarvenden Roman „Die Jagd“ aufmerksam geworden. Und jetzt? Besuchten vielleicht 20 Zuhörerinnen und Zuhörer diese Veranstaltung.

Kein Vergleich zu einem Autor wie Sebastian Fitzek! Um sich von ihm ein Buch signieren zu lassen, standen die vor allem jugendlichen Fans in einer mindestens 100 m langen Schlange an. Überhaupt die Jugend. Ihr wird schon traditionell viel Raum gegeben. Auffallend die kostümierten Kids, die sich vor allem für Mangas, Horror, Phantasie und Lebenshilfe interessieren. Hochwertige Literatur ist das sicher nicht, und ich frage mich, zu welchem Ergebnis das führen mag, denke aber: Besser sowas lesen als gar nichts. Schließlich ist lesen bzw. lesen können eine fundamentale Fertigkeit, die nicht bei allen Jugendlichen in wünschenswertem Umfang vorhanden sind.

Und Corona? Alles schon vergangen und vorüber? Hoffentlich! Auf ein Neues: Auf zur Leipziger Buchmesse 2024, vom 21.bis 24.März. Gastland wird dann übrigens die Niederlande plus Flandern sein.

Skurril bis tödlich

In „Dandys, Diebe, Delinquenten“ begeben wir uns mit der Autorin Bettina Müller auf eine Zeitreise durch das kriminelle Berlin der dreißiger Jahre. In einer etwas langatmigen Einleitung schlägt sie den Bogen vom beschaulichen kaiserlichen Berlin bis in die chaotischen Jahre der Weimarer Republik. Die unübersichtlichen Verhältnisse brachten es mit sich, dass ein bunter Haufen von Verbrechern ihrem kriminellen „Metier“ nachgehen konnte. Manche Sumpfblüte gedieh in dem schwülen Klima und brachte die Polizei schier zur Verzweiflung. Aus der Fülle von Vergehen hat die Autorin vierzehn besonders spektakuläre Fälle herausgepickt, die sich seinerzeit im „Chicago“ des Reiches ereigneten. Sie bewegen sich auf einer Skala von skurril bis tödlich.

Ein Mann mit dem klingenden Namen Georges Manolescu, dem man den Ehrentitel „Fürst der Diebe“ ans Revers heftete, eröffnet den Reigen. Unter dem Motto „Mehr Schein als Sein“ trieb er sein Unwesen, wechselte je nach Gusto seine Identität, „befreite“ die Reichen auf seinen Raubzügen von allem Kostbaren, das nicht niet- und nagelfest war, landete im Kittchen und fand schließlich in Menton an der Côte d’Azur seine letzte Ruhestätte. Ein weiterer „Gentleman-Verbrecher“ – sprich Hochstapler – führte jahrelang die Berliner Polizei an der Nase herum. Sein Vorbild war offensichtlich der Hauptmann von Köpenick. Er zwängte sich zwar nicht in eine preußische Uniform, trug dafür aber einen gestutzten Schnurrbart à la Wilhelm Zwo und präsentierte sich stets in feinem Zwirn. Auch einen berüchtigten Juwelendieb hatte das Berliner „Milljöh“ zu bieten, der sich während eines Raubzugs vor der Inhaftierung aus dem Fenster stürzte und sich dabei das Bein brach. Ende der Karriere.

Eine der skurrilsten Erscheinungen jener Verbrecherriege war der Fassadenkletterer Fritz Wald, ein Dandy aus dem Sächsischen, der seinem riskanten Beruf stets in Smoking und Lackschuhen nachging. Man nannte ihn das „Nachtgespenst“, das nicht nur seine Opfer bestahl, sondern auch den in tiefem Schlummer befindlichen Damen des Hauses einen zarten Kuss auf die Lippen drückte, bevor er sich abseilte. Ein gefundenes Fressen für den bekannten Schauspieler und Sänger Kurt Gerron, der – echte Berliner Schnauze – dichtete: „Ick bin dein Nachtgespenst. Ick weck dich, wennde pennst.“

Dieses spannend geschriebene Buch enthält neben völlig unblutigen Vergehen auch grauenvolle Verbrechen. Da ist der Fall eines Polizisten, der sich 1924 vor dem Schwurgericht wegen besonders brutaler Morde an zwei älteren Frauen zu verantworten hatte. Ein Gutachter bescheinigte dem Mörder eine schwere psychische Störung und sorgte dafür, dass er statt unter dem Fallbeil in einer psychiatrischen Anstalt landete. Eine humane Entscheidung. Diese Einstellung änderte sich schlagartig, als wenig später die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Für die waren alle Delinquenten „Ungeziefer“, von denen sehr viele umgehend deportiert wurden.

„Dandys, Diebe, Delinquenten“ von Bettina Müller, erschienen im Elsengold Verlag, 191 Seiten, zum Preis von €22,–, ISBN 978-3-96201-112-3

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung

 

 

Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise…

Mit dem Sahara-Express durch die Wüste

In seinem jüngst erschienenen Buch „Zwischen Hamburg und der Ferne“ lädt uns der bekannte Schriftsteller Wolf Cropp auf eine Reise rund um die Welt ein. Leichtfüßig bewegt er sich zwischen der Hansestadt und zahlreichen Ländern auf der nördlichen und südlichen Halbkugel unseres Globus. In Insgesamt zweiundvierzig völlig voneinander unabhängigen Erzählungen gewährt der Autor dem Leser einen Einblick in sein abenteuerliches Leben, das ihn stets fernab der ausgetretenen touristischen Pfade nicht nur in die interessantesten, sondern häufig auch gefährlichsten Regionen des Planeten führten.

Die Reise um die Welt beginnt vor der Haustür
Mal wieder im Hamburger Hafen bei der Verholung der PAMIR

Ein kluger Fahrensmann sagte einst, dass einer, der die Welt erkunden will, zuerst seine Heimat richtig kennenlernen solle. Dann erst habe er das Rüstzeug für die weite Ferne. Folgerichtig beginnt Cropp seinen Erzählzyklus in seiner Vaterstadt Hamburg. „Kampfplatz Stadtpark“ berichtet von einem gefährlichen Abenteuer, das er und seine Spielkameraden nach 1945 in der vom Krieg zerstörten Hansestadt zu bestehen hatten. Vielleicht war dieses Erlebnis zusammen mit anderen gewagten „Aktionen“ auch die Feuertaufe für diesen drahtigen Mann, der auf seinem weiteren Lebensweg nie einer Herausforderung auf dem Weg ging.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Der Voodoo-Priester mit der Plastiktüte?

Wer kann sich etwas Schöneres vorstellen als die Inseln der Südsee? So verschlug es den Autor nach Moorea, Tahiti, wo er mit dem „Inselschreck“ Bekanntschaft schloss. Mit den Füßen im Stillen Ozean plätschernd, überlegte er sich, wie er zu Wasser nach Papeete gelangen könnte, mietete ein Auslegerkanu und landete in der Tat am Ziel seiner Träume, trotz der Warnung eines Einheimischen, er könne zwar heil in Tahiti ankommen, aber auch bei ungünstiger Strömung auf dem offenen Meer verloren gehen. Hatte der Waghalsige nur Glück oder war er einfach ein begnadeter Navigator? Wir vermuten letzteres. Von dieser Tour de Force etwas erschöpft, wandelt Cropp beseelt auf den Spuren des Malers Paul Gauguin und lässt uns an der tragischen Lebensgeschichte des Malers teilhaben. Der Künstler erträumte sich einen Garten Eden in der Südsee, frei von allen Konventionen der westlichen Zivilisation, fand aber zu seinem Leidwesen eine durch die französische Kolonialherrschaft zerstörte autochthone Kultur vor. Quelle déception! Dennoch schuf er wunderbarer Gemälde, die zwar zu seinen Lebzeiten niemand kaufen wollte, die aber heute unbezahlbar sind. Ein Schicksal, das er mit anderen genialen Künstlern teilt. Man denke nur an Vincent van Gogh.

Eisfischen am Nordrand Alaskas

Auf den „Marktbesuch“ im westafrikanischen Benin folgen spannende Geschichten auf dem „Transalaska Highway“ sowie eine „Kreuzfahrt ins ewige Eis“ Alaskas. Ferner erfahren wir, dass am Sambesi „Die Hölle stinkt.“ Es gehört schon viel Mut dazu, sich auf eine „entspannte Bootsfahrt“ oberhalb der Victoriafälle zu begeben. Noch viel gefährlicher aber sind die Gewässer darunter, in denen hungrige Krokodile leben und auf Beute lauern. Doch auch diesen Höllentrip übersteht Cropp mit einem Lächeln auf den Lippen, als er gleich zwei der riesigen Echsen mit weit aufgerissenen Mäulern neben seinem Boot erblickt. Nach einem solchen Abenteuer mutet der Ausflug in die Wüste im Tschad zwar auf den ersten Blick wie ein Spaziergang an, entpuppt sich jedoch als Ausflug voller Tücken. Als der Autor die Orientierung verliert, verlassen ihn bald seine Kräfte. Völlig erschöpft legt er sich im Wüstensand zum Schlaf nieder: „Ich suchte den Boden ab. Schwarzkäfer bohrten sich in den Grund. Skinke huschten über den Sand. Ein Skorpion hastete davon. Eine Hornpiper grub sich ein. Der Abendwind blies sie weg, die letzten Lebensspuren…“ Aber auch aus dieser prekären Lage arbeitet sich Cropp heraus, der offenbar wie eine Katze über sieben Leben verfügt. Der wunderbaren Geschichten sind viele in diesem lesenswerten Buch. Eine der anrührendsten ist jene, in der sich der Autor auf die Suche nach dem verlorenen Sohn eines Freundes in Thailand begibt und diesen nach endlosen Umwegen auch findet.

Kein Platz für Märchen
Der Autor on Tour

Wenn auch manche Erzählungen etwas fantastisch anmuten, so haben wir es im Autor Cropp nicht etwa mit einem Claas Relotius zu tun, der den „Spiegel“ vor nicht langer Zeit mit Geschichten beglückte, die ausschließlich seiner allzu lebhaften Fantasie entsprangen. Keines von Cropps Abenteuern ist erfunden. Hier geht es ausschließlich um „histoires vécues“ – am eigenen Leib Erlebtes und Erlittenes. Manche der in „Zwischen Hamburg und der Ferne“ enthaltenen Erzählungen kennen wir bereits aus verschiedenen Büchern, die der Autor im Laufe der Zeit über seine Reisen rund um den Globus geschrieben hat. Sein einzigartiges Fabuliertalent lässt uns seine Abenteuer hautnah miterleben. Dazu gehören u.a. „Fluchtort Guantánamo, „Heimaterde“ und „Die Brandung.“ In diesem Kontext hervorzuheben ist „Insel der Meuterer (Pitcairn), eine faszinierende Geschichte, die das Schicksal der Überlebenden der legendären „Bounty“ auf einer gottverlassenen Insel in der Südsee erzählt. Da dieses felsige Eiland offenbar auf den Seekarten der britischen Admiralty im 18. Jahrhundert nicht zu finden war, biss man sich im fernen London die Zähne aus nach dem Verbleib von Fletcher Christian und den übrigen Meuterern. Kaum zu glauben, aber es gibt auf Pitcairn immer noch Nachkommen dieses Aufrührers gegen die britische Krone.

Zurück zu den Wurzeln

Mit „Zwischen Hamburg und der Ferne“ überreicht uns Wolf Cropp einen bunten Blumenstrauß wunderbarer, den ganzen Erdball umspannender Erzählungen. Die literarische Reise endet, wo sie begann, in Hamburg. Hier begegnen wir der drallen „Seemannsbraut“ auf St. Pauli, erfahren manch Bizarres über die „Liebe in Zeiten von Corona“ und wohnen der Überführung der „Viermastbark Peking“ in ihren heimatlichen Hafen auf dem Grasbrook bei.

Fazit

Wer sehnt sich in dieser trüben kalten Jahreszeit nicht nach Sonne, Meer und Abenteuern in fernen Ländern? Empfehlung: Man greife zu „Zwischen Hamburg und der Ferne“ und genieße dieses fast 500 Seiten starke Buch in vollen Zügen. Viel Spaß bei der Lektüre.

Buchcover
(c) Verlag Expeditionen, Hamburg

„Zwischen Hamburg und der Ferne“ von Wolf Cropp ist im Verlag Expeditionen erschienen, umfasst 491 Seiten und kostet 20 Euro. ISBN 978-3-947911-68-4

Fotos: Wolf-Ulrich Cropp

Siri, die Gänse reden

Alsterabend
Foto: Privat

Ich fragte Siri nach dem Sinn des Lebens
und sie sagte: 42
seitdem vertraue ich ihr
und nun warte ich vor dem Neptun
der seinen Dreizack hoch über das Gewässer hält
Zur Rechten und zur Linken flüstert der Wind
in Schilf und Weiden
in meinem Rücken eine asphaltierte Promenade
und das Gras auf der Liegewiese dahinter
ist raspelkurz gehaltenen von einer Herde Gänse
alle beringt und sprachfreudig und von guter Verdauung

Ich frage Siri, und sie sagt
die Gänse sprechen von Futter und Liebe
Genau wie ich, ist meine Antwort
und Siri sagt: deine Verabredung
ist 30 Minuten überfällig
Ich sage: das hat nichts zu bedeuten
sie wird schon kommen
wir haben uns mehr zu sagen
als alle Gänse zusammengenommen
und Bilder lügen nicht
davon hat sie mir auch genügend geschickt
das Grübchen, dieser offene Blick

Siri sagt: dein Provider ist vertrauenswürdig
aber das besagt nichts
über die Nutzerinnen der Programme
Ich ärgere mich über die Antwort
wir schweigen beide und lauschen den Gänsen
bis hinter dem Sockel des Neptuns
eine Bewegung entsteht und
meine Verabredung hervortritt und mich fragt
sprichst du mit deinem Handy?
ich habe mich nicht getraut dich zu stören

Darauf will ich etwas entgegnen
aber Siri übernimmt und sagt
so einfach liegen die Dinge nicht
ich kenne eine Angststörung
wenn ich sie höre
wie lange bist du schon in Therapie?
Und meine Verabredung sagt
seit einem Jahr, mein Therapeut meint
ich mache gute Fortschritte

In der Pause, die folgt, schnattern die Gänse
der Wind streicht durch Schilf und Weidenlaub
und winzige Wellen glucksen ans Ufer
während meine Verabredung
die Finger zu einer Raute aneinanderlegt
Siri fragt dann an meiner statt
warum versteckst du dich hinter einem Denkmal
gehört das zur Therapie?
Ich komme meiner Verabredung zuvor
und sage zu meinem Phone
die Frage ist berechtigt
doch sollte sie nicht zur Unzeit gestellt werden
hörst du nicht die Gänse
von Futter und Liebe und Sex reden?

Und Siri sagt: dieses Gespräch führt zu keinem Ziel
es ist ein Fehler, wir sollten es löschen
aber wie du willst – kein Problem
wenn du deine Verabredung behalten möchtest
dann wirf mich ins Wasser
Worauf meine Verabredung gründlich erschrickt
das kann ich nicht zulassen
also gehe ich jetzt wieder zum Neptun
dahinter hat es eine schöne Aussicht
über den See und wir alle tun so
als hätte es dieses Treffen nie gegeben

Siri sagt: das scheint mir eine elegante Lösung
bravo und nichts für ungut
richte das deinem Therapeuten aus
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Uhr
und Siri sagt: jetzt schon 45 Minuten Verspätung
du sollest dich nach einer Alternative umsehen
Meine Verabredung winkt mir Adieu und sagt
ich werde meinem Therapeuten von dir erzählen
Grüße an dein Phone, wenn’s genehm ist
Hinter mir schnattern die Gänse
während meine Verabredung Leine zieht,
Siri was reden die Gänse?
komm mit auf die Wiese
wir wollen uns umhören

 

X-Mas oder Weihnachtsmänner sind auch nur Menschen

Bild: Hanna Malzahn

Der Countdown läuft, am  24.12. ist Deadline.
Der Weihnachtsmann ist soo müde, ginge er in Urlaub, gäbe es einen Shitstorm, denn er hat Millionen Follower.
Unser Weihnachtsmann und seine Crew, The Angel Company, sponsered by himmlischer Power, gehen zum Meeting-Point, einer Location im Norden zu einem Get-together.
Es ist kein junges Start-up, dieses Business is old-school.

Die Engel sind ein Dream-Team.

Sie geben viel Support und arbeiten rund um die Uhr im Job-Sharing, eine Challenge mit der Zeit.
Es gibt lange To-Do-Listen, und es ist ein Full-Time-Job. Viel Action, High Speed und Multitasking sind angesagt.
Briefings, Stop and Go. Es geht zu wie beim Black Friday Sale.
Das Arbeiten im Standby-Modus, – das wäre ein absolutes No-Go.
Ebenso sind Flops – obwohl –  shit happens – ein absolutes Don’t,
–  never, ever  –
jetzt braucht man viel Manpower und ein gutes Timing, dann ist alles easy going.

Viele Wunschzettel treffen als Last-Minute-Order ein.

Nachdem der Weihnachtsmann die Mails gecheckt hat, hört er die Voice-Mails in der Mailbox seiner Hotline ab.
Beim Check-up der Wunschzettel wird der Code gescannt und an das Marketing-Management weitergeleitet. Es kommen auch Spams und Fakes an, die der Weihnachtsmann als Junkmails gleich cancelt.
Im Callcenter, das wie ein Show-Room mit einem High Tech Equipment aussieht, arbeiten viele Engel auf höchstem Level an Terminals, Screenings und einem Counter für Sonderwünsche.
Es ist ein seasonal Trade, viele Freelancer und Newcomer angeworben durch Headhunter gehören zum Team.
Hashtag: job placement.
Der Weihnachtsmann macht ein Pokerface, denn er ist soo müde, er denkt, für eine Midlife-crisis  ist er eigentlich zu alt.
So holt er sich erst einmal im Drive-in  einen Coffee to Go, einen iced flavored Latte mit Caramel Cream.
Er träumt von einer ruhigen After-work-party, oder an das Chillen mit einem guten Sience- Fiction-Thriller, einem Bestseller und Pageturner in seinem Kingsize-Bett oder im Whirl-Pool.
Trotz Kaffee fühlt er sich ausgepowert, er isst ein Sandwich und trinkt einen Energy Drink, schöner wäre ein Cocktail bei einem Sundowner zur Happy Hour.
Vor dem großen Weihnachtshappening ist der Weihnachtsmann ein richtiger Workaholic, und um einem Burn-Out vorzubeugen, geht er erst mal in die Lounge zum Relaxen und Come down.
Dort trifft er ohne die geringste Lust auf einen Small Talk seinen Coach.
Dieser gibt Crash-Kurse in Beauty Treatment, er verteilt Papers und Handouts für Workshops.

Von Zeit zu Zeit gibt es auch eine Supervision für die Work-Life-Balance.

Der Weihnachtsmann ist als Frontman everybody’s Darling.
Coca-Cola machte ihn zum Shooting-Star und Teaser für das Weihnachtsbusiness.
Sein old fashioned Vintage-Look, etwas oversized, und sein mega Bart sind absolute Eyecatcher. Auf sein groovy Styling hat er ein Copyright, auch in Schokolade gegossen.
Jetzt sitzt er erschöpft wie ein Couch Potatoe auf dem Sofa.
Sein Personal- Trainer macht ein paar Warm-ups mit ihm. Er empfiehlt ihm Nordic Walken, Stretching und Aerobic sowie die Zeitschrift Mens‘ Health. Dort gibt es Workouts, Bodycare und Food Specials für die Sixpack-Figur. Der Weihnachtsmann liebt aber all you can eat!
Vielleicht  Finger-Food als Appetizer und dann etwas Ordentliches, einen homemade Brunch, jedenfalls kein Fast Food.
Und beim Big-Body-Mass-Index gibt ja auch noch die Weight Watchers.

Nach einem Softdrink mit Bitter Lemon und einem Hot Dog mit French Dressing im Self-Service-Restaurant muss der Weihnachtsmann mit einem Milchshake in sein Home-Office.
Er war schließlich die ganze Zeit offline.
Sein Büro ist durchdesigned, es hat einen Touch von Lifestyle,
ein sehr kluges Investment, gelernt in der Trading Masterclass,
alles gegen Cash, keine Peanuts, kein Leasing.
Es hat Airconditioning, Spotlights und einen Lift zum Basement.
Dort sind in vielen Containern die Geschenke, zum Teil in Limited Edition. Die Security ist im Ground floor.
Der Weihnachtsmann fährt seinen Laptop hoch. Er loggt sich ein und macht Backups und Upgrades der vielen Wunschzettel.
Dabei muss er zwischen vielen Anfragen hin und her switchen und einiges googlen. Er macht Online Banking und muss sich als Kontroll-Freak sehr viele Pin-Codes merken.
Sein Arbeitsplatz ist ein Activity-Center mit Hot Spots und App-Stores.

Aber Weihnachten boomt, da ist nichts mit just for fun.

Er ist auch der Ghostwriter des himmlischen Newsletters „X-mas goes public“ mit weihnachtlichem Cover, vielen Statements und Headlines.
Und er steckt sein Know-How in die x-mas-Homepage:
die Website www.x-mas.com .
Weihnachtsshows  und die Charity-Events organisiert er als Public Viewing für die Publicity.
Ein Weihnachtsumzug ist genauso ein Highlight wie die Love Parade oder der Schlager-Move.
Das grooved.
Die himmlische Public-Relation-Abteilung hat gute Connections zur Fashion Week,  – exklusiv – kein Mainstream.
Auch  der Weihnachtsmann hat sich schon bei einem Stylisten coachen lassen. Abgesehen von seiner Dienstkleidung mag er schon Labels.
Er geht gern in Factory-Outlet-Stores zum Late-Night-Shoppen.
Second Hand Shops promoten keine Fashion, die seinem Dresscode entsprechen. Und manche Outfits eignen sich eher für eine Bad-Taste-Party, das ist ihm zu strange und entspricht nicht seinem Mindset.

Das ist nicht der Burner, sondern Bullshit.

Ein gewisses Understatement findet er abgefuckt, obwohl, für die Fahrt mit dem Rentierschlitten – Open Air in der Kälte – bevorzugt er Sport- und Streetwear, Jeans im Five-Pocket-Style, blue used, stone-washed mit dezente destroyed Effekten und die Musthave XL-Bodybag mit einem Lunchpaket.
Er hat viele Relationships und macht gute Deals. Besonders zur Community der Sales-Manager hat sich im Laufe der Jahre eine Win-Win-Beziehung entwickelt.
Gutscheine stehen im Ranking der Geschenke ganz oben. Ein Gutschein für ein Candlelight- Dinner, für eine Pool-Party mit Top-Catering, für Piercings, eine Reise all inclusive mit Sightseeing ins Survival Camp.
Es gibt auch Wünsche nach einem Speed- oder Blind-Date, nach einem One-Night-Stand, nach einem coolen Lover mit Sex-Appeal, nach einem toughen Womanizer, nach einem Model Scout, nach einem Bodygard, nach Sex and Drugs und Rock´ n Roll und nach etwas Glamour, Love and Peace und nach Happiness.

Wenn der Weihnachtsmann alle Wunschzettel abgearbeitet hat, schickt er sie mit einem Shuttle-Bus ans Controlling.
Die Geschenke werden dann vom Facility Manager auf den Schlitten geladen.
Der Pick-up-und-Return-Service und das Recycling gehen in die Holidays, die holy Days bedeuten eine echte Verschnaufpause.

Der Weihnachtsmann ist ein Allround-Entertainer, immer just in Time, immer cool und voll im Trend.
Er bekommt gute Feedbacks und viele Likes.
Er ist ein Global Player mit jährlichem Comeback.
Und er ist nicht zu toppen,
alle Jahre wieder!

 

(Hanna Malzahn las diesen Text bei unserer Weihnachtsfeier 2022, s. dazu den Artikel von Uta Buhr vom 10.12.2022)

Ein großer Mime – in allen Sätteln gerecht

Herbert Tennigkeit
Foto: actorsagency hamburg

Ein Nachruf auf den Schauspieler und Rezitator Herbert Tennigkeit

Dies vorweg. Herbert Tennigkeit war ein lustiger Vogel, stets zu Scherzen und heiteren Geschichten aufgelegt, die er in seiner unnachahmlichen Art zum Besten gab. Hinter dieser mitreißenden Fröhlichkeit verbarg sich ein nachdenklicher belesener Feingeist, der gern über die Dinge philosophierte, die weit über das Alltägliche hinausreichten.

„Mir hat keiner an der Wiege gesungen, dass ich einmal Schauspieler werden würde. Ursprünglich hatte das Leben offenbar etwas ganz anderes mit mir vor,“ gestand Herbert Tennigkeit mir einst, als ich ihn während eines Hamburger Gastspiels in seiner Theatergarderobe aufsuchte.

1937 im ostpreußischen Memelland geboren, floh er 1944 kurz vor Kriegsende unter dramatischen Umständen mit seiner Mutter und seinen Brüdern vor der Roten Armee gen Westen. Nach einem Aufenthalt in Sachsen trieb es die Familie weiter nach Berlin. Herberts Mutter war praktisch veranlagt und bestand darauf, dass der Sohn erst einmal etwas Ordentliches lernte. Der ging daraufhin bei einem Maler und Anstreicher in die Lehre, der ihm beibrachte, wie man vom Krieg verwahrloste Häuser wieder in einen bewohnbaren Zustand zurückversetzte. Geschadet habe ihm diese Ausbildung zum Handwerker nicht, gestand Tennigkeit einmal. Aber sein Traumziel, Schauspieler zu werden, habe er nie aus den Augen verloren. 1962 war es dann so weit. Er zog nach Düsseldorf und nahm dort Unterricht bei einem seinerzeit bekannten Schauspieler. Auch zum Sänger ließ er sich ausbilden.

Diese solide Ausbildung hatte sich gelohnt, denn in der Folgezeit durfte sich der frisch gebackene Mime über eine Reihe von Engagements an bekannten westdeutschen Bühnen freuen.
Während ein Tourneetheater ihn durch viele Städte der Republik führte, stand er auf der Bühne des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters, brillierte bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, trat in der Komödie Frankfurt auf und wirkte in Theaterproduktionen mit, die ihn in die Niederlande, Österreich und nach Großbritannien führten. Sein umfangreiches Repertoire umfasste unter anderen Stücke von Shakespeare, Osborne, Brecht, Kleist und Hochhuth. Auch in Operetten und Musicals trat dieser vielseitige Künstler auf. Besonders gelungen empfand er seinen Auftritt in „Irma la Douce“: „Ein bezaubernd frivoles Stück.“ Schade nur, dass er der Irma aller Irmas Shirley MacLaine nie begegnet ist. Aber man kann halt nicht alles haben.

Als Sprecher machte Herbert Tennigkeit sich ebenfalls einen Namen. Seine sonore Stimme eignete sich gut für Hörspiele. Dabei lagen ihm die Karl-May-Hörspiele besonders am Herzen: „Welcher Jugendliche hat nicht alle oder die meisten der insgesamt 65 Romane dieses Titanen der spannenden Lektüre verschlungen?“ Nicht wenige von uns haben sie mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen. Die Chronistin war eine von ihnen.

In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann der Mime Tennigkeit noch eine viel beachtete Karriere als Darsteller in Fernsehfilmen und -serien. Unvergessen ist seine Rolle als Anästhesist Dr. Laudann in der „Schwarzwaldklinik“, einer Serie, „die sich zu einem veritablen Straßenfeger entwickelte. Kitsch as Kitsch can? Wahrscheinlich. Aber das Publikum war begeistert von der heilen Welt des Schwarzwaldes und den Protagonisten, die so sympathisch menschlich rüberkamen. Fast genau so beliebt waren Serien vom Schlage „Das Erbe der Guldenbergs“ , „Das Traumschiff“, „Hotel Paradies“ und „Kreuzfahrt ins Glück“, in denen Tennigkeit ebenfalls Erfolge feierte.

Unschlagbar war Herbert Tennigkeit als Rezitator. Seine Lesungen in ostpreußischer Mundart sind bis heute unvergessen. Wenn er aus Siegried Lenz‘ „So zärtlich war Suleyken“ las oder Günther Ruddies‘ „Woher kommen die Marjellchens?“ rezitierte, blitzte in den Augen mancher Zuhörerin aus der „kalten Heimat“ nicht selten ein heimliches Tränchen auf.

Seine ostpreußische Heimat hat Herbert Tennigkeit nie vergessen. Er trug sie immer im Herzen. Mehrmals ist er an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. In einem Interview vor Jahren, das die PAZ mit ihm führte, bekannte er sich offen zu seiner Sehnsucht nach seinem heimatlichen Poggen. Er wollte seinen Sandkasten, den Apfelbaum im elterlichen Garten und auch seine Schule wieder sehen. Und – oh Wunder – alles war noch da. Da darf auch ein gestandenes Mannsbild eine Träne vergießen.

Ich erinnere mich noch genau an eine gemeinsame Fahrt mit Herbert Tennigkeit zu einem Termin an der Ostsee. Während der kurzen Reise erzählte er mir in beredten Worten viel aus seinem ereignisreichen Leben als Darsteller großer Rollen und gestand ganz nebenbei, dass er sogar mit dem Gedanken gespielt habe, Schlagersänger zu werden. Einfach, weil er gern singe. Ganz so wie der große Kollege Gustav Gründgens, der einmal bekannte: „Ich weiß ja, ich kann nicht singen. Und dabei singe ich doch so gern.“ Aber Herbert Tennigkeit konnte wirklich singen. Immerhin hatte er in jungen Jahren Gesangsunterricht genommen. Und so sangen wir auf unserem Weg nach Timmendorfer Strand aus voller Kehle „Lilli Marlen“, „Die Beine von Dolores“ und „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.“ Ein unvergessliches Erlebnis.

Schließlich, doch nicht zuletzt muss an dieser Stelle noch Herbert Tennigkeits langjährige enge Freundschaft mit der in Königsberg geborenen Autorin und Journalistin Ruth Geede erwähnt werden, die im April 2018 im biblischen Alter von 102 Jahren verschied. Ruth, die Doyenne ihrer Zunft, teilte ihre Liebe und lebenslange Sehnsucht nach Ostpreußen mit Herbert. Und niemand konnte ihre Gedichte und Prosa so schön im ostpreußischen Idiom rezitieren wie er. Eine Kostprobe seiner Kunst wurde uns zur Feier des 100. Geburtstages von Ruth Geede im Jahre 2016 geboten.

Nun ist auch Herbert Tennigkeit von uns gegangen. Er starb am 10. Oktober 2022 im Alter von 85 Jahren in seiner Wahlheimat Hamburg.

Requiescat in pace!

(Dieser Nachruf erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung)


Lesen Sie auch diesen Artikel über eine Fahrt mit dem Dampfschiff St. Georg, bei der Herbert Tennigkeit Texte rezitierte: https://die-auswaertige-presse.de/2016/08/alstervergnuegen-auf-dem-historischen-dampfer-st-georg/

 

„Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“

Guy Stern, Foto: privat

Meine Begegnungen mit einem Ritchie Boy extraordinaire
Guy Stern habe ich nur zweimal persönlich getroffen und beide Male mit seiner Frau Susanna. 2013 war es in Detroit und 2018 in Frankfurt/Main. Von ihm gehört hatte ich schon vorher. Mehr mit ihm zu tun bekam ich erst durch die Vorstandsarbeit des P. E. N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland (früher Deutscher Exil-P. E. N.). Guy gehörte dem Vorstand schon längere Zeit an, als ich 2017 dazukam. Seit 2018 ist er unser Präsident.

Das Treffen in Frankfurt ergab sich, als er den Ovid-Preis, den er im Jahr zuvor erhalten hatte, an die neue Preisträgerin Herta Müller überreichte. In Detroit hatte ich mich selbst bei ihm eingeladen. Ich wollte ihn kennenlernen, und in Michigan habe ich seit 2012 ein Domizil. Wir verbrachten einen halben Tag zusammen, und aus dem Treffen sind mir zwei Dinge in besonderer Erinnerung geblieben.

Als er mich durch das Holocaust-Museum in Detroit führte, dessen Direktor er einst gewesen war, zog ein Exponat meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Der „Hannoversche Bahnhof“ mit einem alten Eisenbahnwaggon, in dem man zur Nazizeit die Juden in die Vernichtungslager transportiert hatte. Von Hamburg aus, meiner Heimatstadt, die gerade einen neuen Stadtteil, die HafenCity, entwickelte. Hier lag der frühere „Hannoversche Bahnhof“. Alle Parteien in Hamburg wollten dort einen Gedenkort einrichten. Uns – ich war in jener Zeit Mitglied in der Deputation der Kulturbehörde – war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass es eine ähnliche Gedenkstätte bereits in Detroit gab. Nach meinem Treffen mit Guy informierte ich meine Kollegen und stellte auch den Kontakt zwischen den zuständigen Personen in Hamburg und Detroit her.

Guy Stern (r.) und Gino Leineweber, Foto: privat

Außerdem werde ich nicht vergessen, wie mich Guy mit einem spitzbübischen Lächeln fragte: „Weißt du eigentlich, dass ich ein Filmstar bin?“ Ich wusste es nicht, war sehr erstaunt und erfuhr, dass es einen Film von 2004 mit dem Titel The Ritchie Boys gibt, in dem er mitgewirkt hatte. Er schenkte mir zum Abschied eine DVD davon, auf deren Cover neben anderen auch er als „Ritchie Boy“ abgebildet ist.

Der Titel trägt den Namen einer Einheit amerikanischer Soldaten im II. Weltkrieg, die im Camp Ritchie in Maryland ausgebildet wurden. Darunter viele deutsche Juden, die in die USA geflüchtet waren. Ihre Aufgabe war es, ihre Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur im Kampf gegen die Nazis zu nutzen, und sie wurden nach der Invasion als Geheimwaffe vor allem für Verhöre von Gefangenen an der Front und zur Spionageabwehr in Europa eingesetzt. Guy Stern war einer von ihnen.

Er war auch einer von drei „Ritchie Boys“, die in der bekannten CBS-Sendung „60 Minutes“ am 9. Mai 2021 zu Wort kamen und in der sie und ihre frühere Einheit für die Effektivität ihrer Arbeit gerühmt wurden: Sie hätten Leben gerettet und man müsse sie als Helden bezeichnen, hieß es.

Guy zu sehen und ihm zuzuhören ist immer eine Bereicherung, wie mir aus den Treffen und vielen Internet-Meetings vertraut ist. Bei CBS wirkte er trotz seiner 99 Jahre mit seiner freundlichen und offenen Art fast jugendlich. Die Sendung führte mich in einen Teil seiner Vergangenheit, der sehr bedeutend für ihn gewesen war. Und wieder sind es zwei Dinge, an die ich seither zurückdenke.

Seinen Eltern war aus finanziellen Gründen nur möglich, eine Person in die USA ausreisen zu lassen, und sie entschieden sich für den ältesten Sohn. Günther, wie er damals noch hieß. Er hat danach weder sie noch seine Geschwister und Großeltern je wiedergesehen. Seine Antwort auf die Frage, was er vom Abschied von seinen Eltern in Erinnerung behalten habe, hat mich gefühlsmäßig stark berührt. Sie bestand aus einem Wort: Taschentücher!

Guy Stern, Foto: Susanna Piontek

Vergessen werde ich auch nicht, was er dabei empfindet, als einziger der Familie überlebt zu haben. Dazu sagte er: „Wenn du gerettet wurdest, sagte ich mir, musst du zeigen, dass du dessen würdig bist. Und das war die treibende Kraft in meinem Berufsleben.“

Im Film The Ritchie Boys gibt es eine Szene, in der Guy mit seinem alten Kameraden Fred Howard im Fond eines Autos sitzt, auf dem Weg zum früheren Camp Ritchie. Während Guy schon glaubt, die Gegend zu erkennen, sagt Fred, das könne auch Texas sein. Sie kabbeln sich ein wenig, bis Fred sagt: „Imagine. You see already the Blue Mountains. –  Guy, you are the best.“

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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(Dieser Artikel erschien zuerst in „Von der Exilerfahrung zur Exilforschung: Zum Jahrhundertleben eines transatlantischen Brückenbauers. Festschrift zu Ehren von Guy Stern“ von Frederick A. Lubich (Herausgeber), Marlen Eckl (Herausgeber), 738 Seiten, Deutsch, Englisch, Französisch, 48 Euro, Verlag Königshausen u. Neumann, Januar 2022

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Mittsommer-Geschichten: Lese-Fest in Planten un Blomen

Gemeinsam mit dem Verband Deutscher Schriftsteller*innen Hamburg und gefördert von Neustart Kultur laden wir sehr herzlich zu unserem Lese-Fest ein. Seien Sie herzlich willkommen! Unternehmen Sie mit uns einen literarischen Spaziergang durch blühende Landschaften in „Planten un Blomen“.
Ohne Anmeldung, einfach stehenbleiben und lauschen.

Programm:

Musikpavillon
16.00-17.00 Gaby Albers
17.00-18.00 Reimer Boy Eilers
18.00-19.00 Charlotte Ueckert
19.00-20-00 Gino Leineweber

Picknickbaum am Seeufer
16.00-17.00 Christine Sterly-Paulsen
17.00-18.00 Susanne Bienwald
18.00-19.00 Margret Silvester
19.00-20.00 Hartmut Höhne

Wasserkaskaden
16.00-17.00 Ruth Frobeen
17.00-18.00 Esther Kaufmann
18.00-19.00 Birgit Rabisch
19.00-20.00 Joachim Frank

Rosengarten
16.00-17.00 Wolf-Ulrich Cropp
17.00-18.00 Jörg Krämer
18.00-19.00 Christina Oskui
19.00-20.00 László Kova