Tag der Deutschen Einheit 2023: in Hamburg Deutschlands Einheit feiern

Am 2. und 3. Oktober 2023 richtet Hamburg die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit aus. Dazu gehört auch das Bürgerfest an der Binnenalster: Das Festival der Einheit bietet seinen Gästen aus Hamburg und aus den anderen Bundesländern spannende Inhalte und einzigartige Erlebnisse – und mit der „Nacht der Einheit“ ein ganz besonderes kulturelles Highlight.
„Horizonte öffnen“: Das ist das Motto, unter dem – genau wie die Hamburger Bundesratspräsidentschaft – auch das Bürgerfest in Hamburg steht. Es soll die Vielfalt, Modernität und Weltoffenheit Deutschlands erlebbar machen, die neue Perspektiven für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands eröffnen. Hamburg wird sich dabei von seinen besten Seiten zeigen: bunt, inspirierend und international. Die Gäste erwartet eine spannende Mischung aus Information, Unterhaltung und Aktionen zum Mitmachen, Mitdenken und Erleben.

Von Politik zum Anfassen bis zu den Ideen für morgen: Highlights des Bürgerfests in der Innenstadt

Das „Bürgerfest – ein Festival der Einheit“ findet am 2. und 3. Oktober 2023 an der Binnenalster, auf dem Rathaus- und dem Gänsemarkt sowie in der Mönckebergstraße und auf den angrenzenden Plätzen statt. Auf der NDR Alsterbühne – sie befindet sich auf einem Ponton vor der Treppenanlage am Jungfernstieg – sorgen namhafte Künstlerinnen und Künstler für gute Unterhaltung, darunter Stefanie Hempel und Überraschungsgäste, Michael Schulte sowie Alex Christensen & Friends.

Die „Nacht der Einheit“ am 2. Oktober 2023 ist der unterhaltsame Übergang zum Tag der Deutschen Einheit und ein einmaliges Erlebnis – mit Musik, Tanz, Infotainment und zahlreichen kulturellen Höhepunkten in der Innenstadt. Ob PoetrySlam im Jupiter, Hip Hop Streetdance in der Europapassage, Impro-Theater in der Patriotischen Gesellschaft, Lichtkunst an der Galerie der Gegenwart, Musik auf den Bühnen und in den Kirchen oder Polit-Talk, Kino und Ausstellungen: Bis Mitternacht lässt sich hier kulturelle Vielfalt hören, sehen und erleben.

Ländermeile mit allen Bundesländern

Auf der traditionellen Ländermeile können Besucherinnen und Besucher eine Deutschlandreise unternehmen, ohne Hamburg zu verlassen: Alle Bundesländer zeigen durch originelle Präsentationen die Vielfalt ihres Landes und damit auch Deutschlands – von Menschen und Landschaften über Institutionen aus Kultur, Wissenschaft und Politik bis zu gastronomischen und musikalischen Angeboten.

Auf dem Rathausmarkt, im Innenhof des Rathauses und in der Handelskammer stellen die Verfassungsorgane Bundesrat, Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht ihre Aufgaben und Arbeit vor. Im nachgebauten Plenarsaal kann man in die Rolle von Bundestagsabgeordneten schlüpfen, Bundesministerinnen und Bundesminister bieten Bürgergespräche an und der Bundesrat bietet Infotainment auf dem Rathausmarkt.

Young Future Lab

Networking, Workshops, Edutainment: Das Young Future Lab auf dem Gänsemarkt ist Zukunftswerkstatt, Think Tank und Hotspot für alle, die heute schon unsere (Um-)Welt von morgen gestalten. Auf Aktionsflächen und einer großen Bühne diskutieren Influencer, finden Workshops statt und wird beim ScienceSlam Wissenschaft unterhaltsam auf den Punkt gebracht. Dabei sind unter anderem die Landeszentrale für politische Bildung, die Hamburger Stiftungstage, Seed e. V., das GIGA (German Institute for Global and Area Studies) und „Use the news“.

Entlang des Neuen Jungfernstiegs präsentieren rund 35 Institutionen, Vereine und Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsprojekte, klären über die Nachhaltigkeitsziele der UN auf und machen Nachhaltigkeit erlebbar – zum Beispiel mit einer Fahrrad-Disco. Inspiration liefern unter anderem die interaktive Kunstausstellung Art for Trees und EcoNation mit ihrer interaktiven App für das Abfallrecycling, die auch direkt auf dem Bürgerfest für die praktische Umsetzung des Abfallkonzepts eingesetzt wird. Ein Forum für den breiten Austausch über nachhaltige Handlungsfelder bietet die Speakers‘ Corner. Das Alsterufer wird bei Beginn der Dämmerung vom Cluster Erneuerbare Energien Hamburg mit Hilfe einer wasserstoffangetriebenen Lichtinszenierung eindrucksvoll illuminiert.

Den Fortschritt live erleben

Wie die Digitalisierung unser Leben erleichtert, zeigt Hamburg am westlichen Ende des Jungfernstiegs zwischen Große Bleichen und Colonnaden. Hier gibt es spannende digitale Facetten des Alltags zu entdecken, darunter innovative Lösungen für die Mobilität von morgen, Neues zum digitalen Lernen und Studieren, mehr über Künstliche Intelligenz, innovative Start-ups und Projekte für eine moderne Verwaltung.

Weitere Veranstaltungsbereiche

Über 60 Vereine, Stiftungen und Institutionen aus den Bereichen Engagement, Kultur, Sport, Wissenschaft und gesellschaftliches Leben stellen ihre Arbeit am Ballindamm vor. Hier ist der Treffpunkt für alle, die sich zivilgesellschaftlich engagieren und für ein starkes, vielfältiges Gemeinwesen einsetzen. Auf der Vereinsmeile sorgen unter anderem Hamburg Pride e. V. und BID Reeperbahn auf Bühnen für eine beschwingte Stimmung, Hochschulen und Forschungseinrichtungen bieten spannende Einblicke in die zahlreichen Projekte und Institutionen des Wissenschaftsstandortes Hamburg, die Active City Initiative sowie verschiedene Hamburger Sportvereine bringen Sportbegeisterte in Bewegung. Darüber hinaus informieren verschiedene Bundesinstitutionen über Themen der SED-Diktatur.

Ein besonderes Highlight steuert auch das Miniatur Wunderland zum Bürgerfest bei. Gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung wurde eine Ausstellung unter dem Titel „Die geteilte Stadt – eine bebilderte Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung“ konzipiert, die die innerdeutsche Nachkriegsgeschichte, Wiedervereinigung und das Leben nach dem Mauerfall anhand von neun außergewöhnlichen und einmaligen Miniaturwelten darstellt.

Auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz zeigt Hamburg seine Internationalität. Hier finden die Gäste das Tor zur Welt, für das Hamburg bekannt ist: Über 40 in Hamburg ansässige Konsulate präsentieren mit bunten Ständen die Beziehungen ihrer Länder zur Hansestadt, der Pakt für Solidarität und Zukunft zwischen Hamburg und Kyiv informiert über seine Projekte, Hafen Hamburg Marketing stellt den Hafen mit seinen weltweiten Verbindungen vor und die Europa-Union sowie Unicef Hamburg berichten von ihrer Arbeit. Darüber hinaus können die Besucherinnen und Besucher die Vielfalt der in Hamburg lebenden internationalen Communities entdecken. Im Mittelpunkt stehen Information, Mitmach-Aktionen, Kultur und internationale Kulinarik. Ein facettenreiches Bühnenprogramm, moderiert von Nathalie Strauß von Radio Hamburg, mit kulturellen Beiträgen sowie Talks zu

Städtepartnerschaften und mehr auf der Blaulichtmeile

Hamburgs Städtepartnerschaften und seinen weiteren Verbindungen in alle Welt, rundet den internationalen Auftritt ab.

Luftaufnahme Alster_(c)Mediaserver Hamburg

Polizei und Feuerwehr, Bundeswehr und Zoll sowie viele Hilfsorganisationen bilden zusammen eine Blaulichtmeile in der Großen Johannisstraße und auf dem Adolphsplatz. Spannend für Technikbegeisterte sind insbesondere die ausgestellten Spezialfahrzeuge, darunter ein Boot der Wasserschutzpolizei, Löschfahrzeuge und mehrere historische Polizeimotorräder.
Rund um die St. Petri-Kirche und den Speersort sowie in den Colonnaden gibt es spannende Angebote für die Kleinen und Kleinsten in den Familienbereichen. Die Elbkinderland-Chöre treten gemeinsam mit Musiklegende Rolf Zuckowski auf, ein großer Fahrrad-Parcours, Aufführungen des Verkehrskaspers oder die Rabauken vom FC St. Pauli laden ebenso zum Verweilen ein wie der Verein KinderKinder e. V., der Kinderrechte interaktiv präsentiert.
Die Metropolregion Hamburg ist die Heimat von fünf Millionen Menschen im Norden Deutschlands. Er ist ein starker Wirtschaftsraum mit vielen innovativen Unternehmen. An der Reesendammbrücke zwischen Jungfernstieg und Ballindamm zeigt die Region ihre Vielfalt – und was sie für die Zukunft plant.
Auf der offiziellen Event-Webseite www.tag-der-deutschen-einheit.de/programm/ finden sich alle Programmpunkte stets aktuell sowie Informationen für die Nachbarschaft und Anlieger.

Rückfragen der Medien
Pressestelle des Senats
Telefon: 040 42831 2242
E-Mail: pressestelle@sk.hamburg.de

Hamburg Tourismus Gmbh
Sascha Albertsen
Telefon: 040 300 51 111
E-Mail: sascha.albertsen@hamburg-tourismus.de
Internet: www.hamburg-tourismus.de

Wenn aus der Kur ein Horrortrip wird

Orthopädisches
Turnen im Takt der Trommel, Ansichtskarte des Hermann-Hedrich-Heims bei Bad Frankenhausen, vor 1938 (c) Dölling und Galitz Verlag

Bis heute kann Beate N.* (75) keinen Quark oder Joghurt essen. Die Geschwister Werner (71) und Tanja T.* (69) haben dieselben Albträume vom Eingesperrtsein in einem dunklen Keller. Die Eltern wunderten sich, dass Werner nach Rückkehr von der „Kur“, wo die nachkriegsbedingt unternährten Kinder sich erholen und satt essen sollten, mit den Fingern Löcher in Wände kratzt. Bis heute kann er keinen Honig und keinen Käse essen.

Drei Fälle aus dem persönlichen Umfeld der Verfasserin dieses Beitrags, deren Erzählungen aus den so genannten Erholungsheimen ihr kalte Schauer über den Rücken laufen lassen. Drei Menschen, die von einem den Eltern als positive Maßnahme dargestellten Aufenthalt (allerdings nicht in einem DAK-Kurheim) traumatisiert zurückkehrten, so sehr, dass es sie ihr Leben lang nicht loslassen sollte. Die immer wieder davon erzählen, dass sie gezwungen wurden aufzuessen und Zeugen davon wurden, dass andere Kinder sogar ihr eigenes Erbrochenes aufessen mussten. Beate N. ekelte sich vor dem Schichtquark, aus dem Wasser quoll, und bekam ihn so lange immer wieder vorgesetzt, bis sie ihn aufgegessen hatte – über mehrere Mahlzeiten und mehrere Tage gab es für sie kein anderes Essen. Die Geschwister T. wurden tatsächlich in einen dunklen Keller gesperrt. Auch sie wurden gezwungen, alles zu essen, was auf den Tisch kam. „Wir haben gegessen, bis wir gekotzt haben“, wird eine Interviewpartnerin in dem Buch „Kur oder Verschickung – Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (Dölling und Galitz Verlag, München und Hamburg 2023) zitiert. Hinter dem neutral daherkommenden Buchtitel verbirgt sich eine Chronologie des Grauens. Vor dem Hintergrund der vermehrt verlangten Warnungen vor extremen Inhalten müsste dieses Buch eine solche in roten Großbuchstaben enthalten, denn die Bilder der Schilderungen Betroffener wird man so leicht nicht wieder los.

Die DAK gab bei dem Historiker apl. Professor Hans-Walter Schmuhl eine systematische und unabhängige Untersuchung in Auftrag, so steht es im Vorwort. In der Tat wird in dem 304 Seiten starken Buch eine umfassende Analyse und Rekonstruktion der damaligen Umstände vorgelegt. Im Untersuchungszeitraum wurden laut Vorwort ca. 450.000 Kinder zwischen vier und 14 Jahren auf der Basis ärztlich verordenter Kinderkuren „verschickt“. Besonders in der Nachkriegszeit sollten die Kuren den oftmals prekären Gesundheitszustand der Kinder positiv verändern. Sie sollten „physisch und psychisch gestärkt werden und gesund heimkehren“. Doch in erschütternd vielen Fällen ist das Gegenteil passiert, wurde den Kindern psychische und physische Gewalt angetan, von der sie sich nie wieder erholt haben.

Den Willen brechen

In den ersten drei Kapiteln wird das Kinderkurwesen der Angestelltenkrankenkassen und der DAK vorgestellt und der theoretische Rahmen erläutert. Im vierten Kapitel kommen Betroffene zu Wort und wird der Alltag mit seinen Regeln in den Heimen geschildert. Diese Lektüre auf der Basis von Interviews (geführt von der Journalistin Anja Röhl) ist schwer auszuhalten. Wie man die Kinder von den Familien isolierte – Besuch war verboten, Post wurde kontrolliert – und die kleinen Kinder dachten, sie müssten für immer bleiben; wie sie sich vor Ärzten und den „Tanten“ (Personal) ausziehen mussten, auch beim Waschen keine Privatsphäre hatten; wie man ihnen ihre Teddys und Puppen abnahm, es nicht einmal einen Nachtschrank gab, sie keine persönlichen Dinge haben durften; Wutausbrüche der „Tanten“, Strafen und sogar sexualisierte Gewalt – all das klingt unvorstellbar und ist doch massenhaft passiert. Und meistens haben die Kinder ihren Eltern davon nichts erzählt, weil die kriegsgeplagten Erwachsenen doch dachten, sie hätten den Kindern etwas Gutes getan. So erzählen es auch die Geschwister T., die erst Jahre später den fassungslosen Eltern von diesen Vorkommnissen berichteten. Beate N. erzählte es sofort nach der Rückkehr. Bemerkenswert ist, dass beide Elternpaare sich nicht bei deren Krankenkasse erkundigten oder gegen diese vorgingen. Es wäre heute sicherlich unvorstellbar, dass Eltern sich an ein Kontaktverbot zu ihren Kindern während des Aufenthalts in einem Kurheim halten und später, nach Kenntnis der traumatischen Erlebnisse, stillhalten und schweigen würden.

So ist das Geschehen im Kontext der Nachkriegszeit zu betrachten, wobei einem als erstes der Gedanke an die nationalsozialistische Prägung in den Sinn kommt. Die „Tanten“ hatten dementsprechende Erziehungsmaßnahmen erlernt und waren möglicherweise sogar davon überzeugt, dass es zum Besten der Kinder war, deren Willen zu brechen und sie zu „züchtigen“. Diese Einstellung kam womöglich zusammen mit Überforderung oder auch schlichter Bosheit und Machtausübung. Und auch die Eltern hatten gelernt, lieber zu schweigen als sich mit der Obrigkeit anzulegen. Natürlich hatten die Eltern und Witwen Gefallener ihr eigenes Trauma (hierzu sei die Lektüre der Bücher von Sabine Bode über die Kriegs- und Nachkriegskinder empfohlen). Aber all das gehört zum Gesamtbild: Das Schweigen der Eltern hat einen bitteren Anteil am Leid der Kinder, auch wenn das nicht die Schuld der Täter abmildert oder gar entschuldigt.

Der Bildteil des Buches illustriert dieses Leiden einerseits durch beklemmende Szenen wie im Kreis kriechende Kinder beim Turnen oder halb nackten Kindern im Bestrahlungsraum und andererseits durch die Ablichtungen von Dokumenten, die Regeln zu Tischsitten und Ernährung zeigen. Es kommt einem vor wie in einer anderen Welt, es muss ein Horrortrip gewesen sein.

Verbrechen ohne Strafe?

Das fünfte Kapitel des Buchs setzt sich schließlich mit der rechtshistorischen Betrachtung auseinander, wie wiederum zum zeitlichen Kontext führt; womöglich wären nach damaligem Strafrecht viele Handlungen nicht als Körperverletzung verfolgt und andere als Affekthandlung verharmlost worden. Es bleibt unbefriedigend, dass man aus heutiger Sicht nicht beurteilen kann, ob die Taten im Falle von Anzeigen überhaupt geahndet worden wären.

Aus den Interviews ergibt sich, dass einige Betroffene trotz psychotherapeutischer Behandlungen auch Jahrzehnte später ihr seelisches Gleichgewicht nicht wiedergefunden haben. Die Kur hat ihr ganzes Leben verändert, nichts wurde wieder wie vorher. Dass die DAK-Führung im Vorwort schreibt: „Zu Betroffenen und der ‚Initiative Verschickungskinder‘ haben wir Kontakt aufgenommen und um Entschuldigung für die damaligen Geschehnisse gebeten“, ist als Verantwortungsübernahme sicherlich zu würdigen, steht aber kaum in einem angemessenen Verhältnis zu dem erlittenen Leid. Es bleibt zu wünschen, dass dieses Buch erst der Anfang einer groß angelegten Aufklärungs- und möglichst auch Entschädigungsarbeit ist.

Beate N. und Werner T. möchten das Buch lesen. Tanja T. hingegen sagte der Verfasserin dieser Zeilen, sie möchte nichts davon hören und auch nicht mehr darüber sprechen. Nie wieder.

*alle Namen geändert

 

Buchcover

Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz Verlag, München und Hamburg 2023

Link zum Verlag: https://www.dugverlag.de/isbn-3-86218-163-4

 

Der Verlag Dölling und Galitz hat ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

 

Überzogene Dokumentationspflicht: Ein Hindernis für die Effizienz in der Pflege und Justiz

pexels-pixabay-48195

In jüngster Zeit ist eine wachsende Belastung für die Mitarbeiter in Pflege- und Justizwesen aufgrund steigender Dokumentationspflichten festzustellen. Der zunehmende Verwaltungsaufwand führt nicht nur zu einer Verminderung der verfügbaren Zeit für die eigentlichen Kernaufgaben, sondern gefährdet die sorgfältige Durchführung der Arbeit.

 

 

Wachsende Anforderungen in der Pflege und Justiz

Seit Jahren steigt die Anforderung an die Dokumentationspflicht in der Pflege und im Strafvollzug kontinuierlich an. Dies führt, neben den ohnehin sehr belastenden Aufgaben in diesen Berufsfeldern, zu einer zusätzlichen, ausufernden Arbeitserhebung, welche die personelle Situation weiter verschlimmert. „Es tritt ein Teufelskreis in Gang, indem Mitarbeiter ihrer eigentlichen Aufgabe nicht mehr nachkommen können, da sie mehr und mehr Zeit in die stetig wachsende Dokumentationspflicht investieren müssen“, so Frank Meier*; Justizmitarbeiter. Der Grund für die kontinuierlich steigenden Anforderungen an die Dokumentation liegt in den Ministerien und vorgesetzten Behörden selbst. „Durch die Erhöhung der Dokumentationslast ziehen sich die übergeordneten Behörden aus ihrer Verantwortung zurück“, ergänzt Meier. Hiermit wird deutlich, dass die bürokratischen Hürden selbst die Arbeit verhindern, die sie eigentlich sicherstellen sollten.

Dokumentationspflicht als Selbstzweck

Das Problem liegt nicht nur in der Anzahl der notwendigen Dokumentationen, sondern auch in ihrer Art und Weise. Es wird offensichtlich, dass sich viele Berufstätige in der Pflege und im Justizwesen in erster Linie mit der Erfüllung der Dokumentationsanforderungen, anstatt tatsächlicher Arbeit befassen müssen. „Die Dokumentationspflicht wird zum Selbstzweck, und es besteht die Gefahr, dass Arbeiten nur noch dokumentiert, aber aufgrund der fehlenden Zeit gar nicht mehr durchgeführt werden können“, warnt Meier. Es bleibt zu hoffen, dass Lösungen gefunden werden, die den Arbeitsalltag der Mitarbeiter in Pflege und Justiz wieder entlasten. Oppositionen könnten einen großen Beitrag dazu leisten, indem sie sich nicht gleich auf jeden Fehler stürzen und für ihre Zwecke ausschlachten. Die Presse ebenfalls mit einer sensibleren Berichterstattung. „Durch eine konstruktive Zusammenarbeit von politischen Entscheidungsträgern, Medien und uns als Gesellschaft könnten wir einen Weg finden, um den unnötigen Druck von unseren wichtigen sozialen Dienstleistungen abzubauen“, schließt Meier.

*Name geändert

 

Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegen Putins russischen Neo-Imperialismus?

Demonstranten am Tag der Invasion vor dem Brandenburger Tor in Berlin / Foto: privat

„Zeitenwende“ als politische Reaktion auf Putins Invasion in die Ukraine
Die neue Bundesregierung hat auf die völkerrechtswidrige Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine mit einer ungewöhnlich scharf gehaltenen Regierungserklärung reagiert.  Die mit „Zeitenwende“ begründete Erklärung zur Verhängung schwerwiegender Wirtschaftssanktionen, zur Schaffung der Energieunabhängigkeit von Erdgas- und Erdöllieferungen aus der Russischen Föderation (RF) und zur Erhöhung der Rüstungsausgaben durch Bildung eines 100 Mrd. € Fonds fanden sogar die Zustimmung der Opposition. Nach den Raketenangriffen auf die Ukraine prüft die Bundesregierung die Errichtung eines deutschen Raketenabwehrschirms nach dem Modell Israels.

Groß-Demonstrationen auch in Berlin gegen Putins Invasion  

Fast zeitgleich zur denkwürdigen Bundestagssitzung demonstrierten Hundertausende in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern, am Rande des sowjetischen Ehrenmals und in der Nähe der Botschaft der RF, gegen Putins militärische Invasion und forderten den umgehenden Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Bereits am Invasionstag fanden sich spontan Demonstranten am Brandenburger Tor.

Der Einmarsch der russischen Verbände hat mittlerweile zu einer millionenfachen Fluchtbewegung der ukrainischen Bevölkerung nach Mitteleuropa geführt, die auch in der Bundesrepublik Schutz sucht und findet, so in Hamburg, München und in Berlin. Solidarität und Hilfsbereitschaft der West-Europäer zu den Ost-Europäern sind bemerkenswert.

Putins russischer Neo-Imperialismus eine „Zeitenrückwende“

Der Westen hat der „Zeitenrückwende“ in der russischen Politik unter Putin nach den Reformern Jelzin und Gorbatschow zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl ukrainische Gebiete bereits seit 2014 besetzt gehalten werden und trotz der Warnungen Polens und Litauens. Diese außenpolitischen Fehler räumt jetzt auch Bundespräsident Steinmeier ein.

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 hatte Putin den von Gorbatschow eingeleiteten Zerfall der Sowjetunion kritisiert und eine Revision angedeutet. Mit Rücksichtnahme auf die RF verhinderten Bundeskanzlerin Merkel und der Präsident Frankreichs  auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest eine weitere Osterweiterung. Damit wurde die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens blockiert, während die weniger schutzbedürftigen Länder Albanien und Kroatien aufgenommen wurden. In einem aktuellen Bild-TV-Interview kritisiert der ehemalige russische Ministerpräsident unter Putin, Kassjanow, diese Rücksichtnahme als „Einladung“ für Putins Aggressionspolitik.

Demonstranten am Tag der Invasion vor dem Brandenburger Tor in Berlin / Foto: privat

„Der Spiegel“ erläutert in einer Sonderausgabe Monate vor (!) der Invasion den Machtanspruch Putins, der mit seinem Neo-Imperialismus seinen kommunistischen Vorgängern Lenin und Stalin sowie den früheren Zaren im Bunde mit der russisch-orthodoxen Kirche nachzueifern scheint, nicht aber den Reformern Gorbatschow und Jelzin. Das belegt das rücksichtslose Vorgehen der russischen Armee gegen die Ukraine unter Inkaufnahme von zivilen Opfern und mit der Zerstörung ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen und Krankenhäusern.

Putins scheint seine geopolitische „Zeitenrückwende“ an den 1945 in Jalta auf der Krim von Stalin, Roosevelt und Churchill festgelegten russisch-sowjetischen Einflusszonen gegenüber dem Westen zu orientieren. Die „rote Linie“ des späteren kalten Krieges bildete die Oder. Die baltischen Staaten, die Ukraine und der Kaukasus wurden der russisch-sowjetischen Einflusszone zugeordnet. Das Deutsche Historische Museum in Berlin hat zu dieser Thematik umfassende Zusammenstellungen publiziert.

„Zahnlose“ Vereinte Nationen trotz völkerrechtswidriger russischer Invasion   

Nach der Charta der „United Nations“ (UN)  ist nicht nur der Angriff auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Einrichtungen sondern auch die Invasion in die Ukraine völkerrechtswidrig. Putin missachtet die international anerkannte und zwischen der RF und der Ukraine 1991 vereinbarte Souveränität der Ukraine.

So fordert Artikel 1 der UN-Charta „to maintain international peace and security“ and „to take effective collective measures for the … removal of threats to the peace”.  Der für die Verhängung von Sanktionen gegen die völkerrechtswidrige Invasion in die Ukraine angerufene Sicherheitsrat der UN und die UN-Vollversammlung, haben mit großer Mehrheit die Invasion Putins verurteilt. Der Internationale Gerichtshof der UN hat angeordnet, dass die RF ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort einstellt. Die UN überprüft auch, ob beiderseits Kriegsverbrechen begangen wurden.

Die gegen die russische Aggression möglichen militärischen Sanktionsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrats  können jedoch gegen das Veto der RF nicht verhängt werden. Bemerkenswert ist, dass diese Vetoklausel des Artikels 3 der UN-Charta 1945 auf der Konferenz in Jalta auf der Krim auf Wunsch Stalins mit Roosevelt und Churchill vereinbart worden war. Hier wäre zu prüfen, ob das Veto-Recht der RF dann auszusetzen ist, wenn das Sicherheitsratsmitglied selbst den verbotenen Angriffskrieg führt.

Ein UN-Mandat wird derzeit durch das Veto der RF blockiert, sodass die von Präsident Selenskyj geforderte unmittelbare militärische Unterstützung der Ukraine ausgeschlossen ist. Eine  NATO-Intervention nach Art. 5 ist nach NATO-Generalsekretär Stoltenberg ebenfalls ausgeschlossen, da die Ukraine kein NATO-Mitglied ist. Das gilt auch für einen gegenseitigen militärischen Beistand nach Art. 42 EU-Vertrag, solange die Ukraine nicht Mitglied der EU ist.

Putin unterschätzt Unabhängigkeitswillen und Widerstandskraft der Ukrainer

Putin hat seine Invasion in die Ukraine nach Auffassung von BBC und CNN fehleingeschätzt. Die Ukrainer leisten unerwartet heftigen Widerstand. Die russischen Truppen werden von den meisten Ukrainern keineswegs als Befreier begrüßt, wie 2014 teilweise auf der Krim und in der östlichen Ukraine oder etwa gegen Ende des zweiten Weltkriegs.

Sowjetisches Ehrenmal am Rande der Demonstration nunmehr ohne Kränze / Foto: privat

Der Präsident der RF und sein militärischer und politischer Führungskreis haben die historische Tatsache ignoriert, dass die meisten Ukrainer unabhängig von russischer Bevormundung sein wollen, die unter Stalin zu großer Hungersnot geführt hatte. Trotz des militärischen Ungleichgewichts ist eine Kapitulation, wie sie Polit-Philosoph Richard D. Precht als rational empfiehlt, für die Mehrheit der Ukrainer keine vertretbare Lösung.

 

Historische Konflikte um die Souveränität der Ukraine

Putin bestreitet zuletzt auch in seiner Ansprache vor der Invasion die staatliche Souveränität der Ukraine. Die Auseinandersetzung zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine hat nach Ansicht von Historikern eine längere Tradition, die auf die Konflikte zwischen dem Großfürstentum Kiew und dem Großfürstentum Moskau zurückdatiert werden kann. Involviert in die umstrittene ukrainische Unabhängigkeit waren nicht nur Litauen, Polen und die Habsburger Monarchie sondern auch Deutschland in beiden Weltkriegen. Die Komplexität des Unabhängigkeitskampfes der Ukraine erläutern Zusammenstellungen des Deutschen Historischen Museums.

Historiker Jörn Leonhard erinnert in seinem Weltkriegsband „Die Büchse der Pandora“ daran, dass die Unabhängigkeit der Ukraine erstmals in einem separaten Friedensschluss im Februar 1918 mit den Mittelmächten anerkannt und militärisch gegen Russland durchgesetzt wurde zur Sicherung von Getreidelieferungen. Im folgenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk bestätigte Lenin die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine und anderer Staaten, wie Finnland, Polen, Litauen und Georgien, von Russland. Nach der Annullierung dieser Verträge im Versailler Friedensvertrag und nach Abzug der Mittelmächte besetzte Putins Vorbild Lenin die Ukraine und gliederte sie als „autonome“ Sowjetrepublik in die von Russland dominierte UdSSR ein.

Das Dilemma der deutschen Sanktions- und Integrationspolitik

Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Konflikts, der westlichen Sanktionen und der Flüchtlingsströme für die EU und die Bundesrepublik sind schwer einschätzbar. Über zu erwartende wirtschaftlichen Verschlechterungen durch den Krieg, durch Pandemie, Energiekrise und Inflation hat der Wirtschaftssachverständigenrat jetzt ein Sondergutachten erstellt. Durch die hohe Energieabhängigkeit von der RF steht die deutsche wie die europäische Sanktionspolitik vor einem Dilemma. Nach Ansicht von Wirtschaftsverbänden hätte es schwerwiegende Folgen für die Unternehmen, Arbeitnehmer und Haushalte, wenn Putin als Reaktion auf die westlichen Sanktionen die Ausfuhr von Erdgas und Erdöl nach Deutschland und in die EU ad hoc aussetzen würde. Entsprechend hätte ein Einfuhrstopp für die europäische Wirtschaft erhebliche Negativauswirkungen.

Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Berlin / Foto: privat

Auch in der Flüchtlingsaufnahme stehen Deutschland und die EU vor einem Dilemma. Die europäische Solidarität gegenüber den Flüchtlingen aus Osteuropa ist groß, aber trotz der seit 2014 bestehenden Ukrainekrise waren keinerlei Vorbereitungen für solch einen Notfall getroffen worden. Die neuerliche Flüchtlingsbewegung trifft die EU-Länder ebenso unvorbereitet wie zuvor die Corona-Pandemie. Bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge sollte nicht übersehen werden, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine keine Einwanderer sind und dass ihnen die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre ukrainische Sprache und ihre Kultur zu pflegen und in ihren gewohnten Bezugsgruppen weiterzuleben, was digital erleichtert wird.

Nach Ansicht der Zukunftsforscher Edward Glaeser und David Cutler (Survival of the City) fehlt es auch in Europa am vorausschauenden Ausbau von staatlichen Institutionen und der Schaffung von Reserven an Versorgungsgütern und an Schulungen in den Behörden, um auf derartige Notlagen schnell staatlich reagieren zu können.

Garantien für eine langfristige Friedenssicherung und Abrüstungsverhandlungen

Für Vereinbarungen zu einer langfristigen Friedenssicherung liegen die Interessen der RF und der Ukraine, auch historisch bedingt, sehr weit auseinander. Der Neutralitätsstatus von Schweden und Finnland könnte eine Option sein. Den Friedensverhandlungen sollten auch Abrüstungsverhandlungen der NATO mit der RF und China folgen. Bedenklich ist aber, dass sich Putin bisher nicht an die zwischen der RF und der Ukraine vereinbarten und international anerkannten Grenzen der Ukraine und die Charta der UN hält.

 

70 Jahre Grundgesetz – Jubiläum eines Fragments der Direkten Demokratie

Direkte Demokratie durch Digitalisierung, vorgestellt
in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin Ende Juni 2019
Foto: Immo H. Wernicke

Auf zahlreichen Veranstaltungen haben der Bundespräsident Frank W. Steinmeier und die Bundeskanzlerin Angela Merkel für das vor 70 Jahren im Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als dem Garanten für die Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geworben. Historiker verweisen auf frühere deutsche Verfassungen, die bereits die wichtigsten Grundrechte enthielten. Kritiker, wie seinerzeit Bayerns Regierung oder heute der ehemalige Verfassungsrichter, Paul Kirchhof, bemängeln das Demokratiedefizit des Grundgesetzes gegenüber den Landesverfassungen und der Schweizer Verfassung. Die Digitalisierung könnte den Bürgern auch in Europa mehr politische Mitwirkung ermöglichen.

Werbung für das Grundgesetz durch Bundeskanzlerin und Bundespräsident

In ihrer Rede zum Festakt der Deutschlandstiftung Integration am 14. Mai 2019 in Berlin stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel heraus: „70 Jahre Grundgesetz – das ist in der Tat ein Anlass zu feiern“, und es ist  „immer wieder gelungen, die Werte und Rechte unserer Verfassung mit Leben zu erfüllen.“ Der Bundespräsident geht am 22. Mai 2019 in seiner Rede vor dem Bundesverfassungsgericht auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ein: „Der Parlamentarische Rat gliederte Westdeutschland wieder ein in die liberale Verfassungstradition der Aufklärung. Und er konnte (…) an deutsche Traditionen anknüpfen, an die Verfassung der Frankfurter Paulskirche und die Weimarer Reichsverfassung“, die vor 100 Jahren in Kraft getreten war. 

Alliierte der westlichen Besatzungszonen als Geburtshelfer des Grundgesetzes

Wenig enthalten die Politikerreden über die Rolle der Alliierten als damaliger „Übergangsregierung“ bei der Entstehung des Grundgesetzes. Staatsrechtler Heinrich A. Wolff  erläutert, dass die Militärgouverneure der drei Westzonen im Frankfurter Dokument  von 1948 die Länderregierungen zur Schaffung einer Verfassung unter besonderer Berücksichtigung der Grundrechte aufgefordert hatten. Historiker erinnern daran, dass zuvor im Juni 1945 die damaligen Alliierten und ihre Verbündeten die Grundrechte in Artikel 1 (3) der Charta der neugegründeten „United Nations“ von 1945 vereinbart und in der „Declaration of Human Rights of the United Nations“ von  1948 aufgelistet hatten.

Rückschau auf die Grundrechte in älteren „Deutschen Verfassungen“  

In seiner Rede hatte der Bundespräsident auch an die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte erinnert. Herrmann-Josef  Blankes bestätigt in seinem Band „Deutsche Verfassungen“, dass bereits die Verfassung des Deutschen Reichs v. 1849 (Paulskirchenverfassung) „Die Grundrechte des deutschen Volkes“ enthielt. § 138 legte fest „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, und § 140 bestimmte „Die Wohnung ist unverletzlich“, § 143 sicherte die „Preßfreiheit“, und § 164 garantierte „Das Eigentum ist unverletzlich“.  Ähnlich legte die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919, die „Weimarer Verfassung“ die „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ fest.

Wie die Alliierten 1945, übergehen Bundespolitiker gerne die Landesverfassungen und deren Grundrechtegarantie. Bereits die 200 Jahre alte Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg von 1819 sicherte „jedem Bürger Freiheit der Person, Gewissens- und Denkfreiheit und Freiheit des Eigentums und Auswanderungsfreiheit“. In der Verfassung des Königreichs Bayern v. 1818 wurde dem Volk von Bayern „Freyheit der Meinungen“  und „Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze“ zugesichert: „Der Staat gewährt jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigentums und seiner Rechte“ garantiert.

Strafrechtshistoriker erinnern daran, dass die Grundrechte, auch auf „guten Leumund“, seit Jahrhunderten durch die Strafjustiz in den Einzelstaaten einschließlich der Reichsstädte (Frankfurt) und der Freien Städte (Hamburg) im „Heiligen Römischen Reich“ geschützt waren. Verfassungshistoriker Gerhard Oestrich verweist auf die früheren Reichsgerichte, die die persönliche Freiheit, das Eigentum und die Religionsfreiheit vor Übergriffen der Fürsten schützen sollten.

Legitimations- und Demokratiedefizite des Grundgesetzes?

Bundeskanzlerin und Bundespräsident übergehen in ihren Festtagsreden die Legitimations- und Demokratiedefizite des Grundgesetzes. Staatsrechtler Christoph Gröpl erläutert, dass das Grundgesetz „nicht durch eine Volksabstimmung angenommen worden war“. Der Staatsrechtler bestreitet aber ein Legitimationsdefizit des Grundgesetzes, da die Wähler seit 1949 die Parteien gewählt haben, die sich “eindeutig zur grundgesetzlichen Verfassungsordnung bekannten.“

Das Demokratiedefizit besteht nach Ansicht des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Paul Kirchhof, insofern, als den Bürgern nur wenige konkrete Mitwirkungsmöglichkeiten an politischen Entscheidungen und an der Rechtsetzung gewährt werden. Das Grundgesetz unterscheidet sich darin sowohl von den Landesverfassungen als auch von der „Weimarer Verfassung“ von 1919. Diese gewährte Mitwirkungsrechte bei der Reichsgesetzgebung bei Verfassungsänderungen durch Volksentscheide und Volksbegehren. Die an die Schweizer Verfassung angelehnten Landesverfassungen nach 1945 garantieren ebenfalls Volksentscheide, so das Land Hessen: „Das Volk handelt nach den Bestimmungen dieser Verfassung unmittelbar durch Volksabstimmung (Volkswahl, Volksbegehren und Volksentscheid), mittelbar durch die Beschlüsse der verfassungsmäßig bestellten Organe.“ Anders als das Grundgesetz wurden die Landesverfassungen durch Volksabstimmungen legitimiert. Die Schweiz ist als politisches Vorbild der Direkten Demokratie für Europa jedoch umstritten.

Grundgesetz und Lissabon-Vertrag Fragmente der Direkten Demokratie
Schweizer Botschaft ohne Absperrungen in Berlin:
Vorbild für mehr Direkte Demokratie in Europa
Foto: Immo H. Wernicke

Verfassungsrichter Paul Kirchhof würdigte in seiner 2013 gehaltenen Rede zur 60-Jahrfeier der baden-württembergischen Verfassung die politischen  Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger durch Volksentscheid, Volksbegehren und Volksinitiative. Die Direkte Demokratie ermöglicht dem „Bürger, sich mehr mit seinem Staat zu identifizieren, weil er an ihm selbst mitwirkt“, so Paul Kirchof. Er bemängelt dagegen, dass im Grundgesetz die Befugnis der Bürger zur unmittelbaren Sachentscheidung und zur Rechtsetzung fehlt, denn dies ist Parlament, Bundesregierung und Bundesrat vorbehalten. Volksentscheide sind lediglich bei Gebietsveränderungen der Bundesländer vorgesehen.

Das Reichstagsgebäude gewidmet „Dem Deutschen Volke“,
abgesperrter Sitz seiner Repräsentanten
Foto: Immo H. Wernicke

Das Grundgesetz sieht folglich weder Volksbefragungen noch Volksabstimmungen vor, auch nicht bei so einschneidenden Eingriffen in die Gesellschaftsstrukturen von Ländern und Gemeinden durch Erweiterung von Bundeskompetenzen, Steuer- und Abgabenbelastung, Verteilung von Asylbewerbern und Migranten und durch Abtretung von Souveränitätsrechten an die Europäische Union.

Auf europäischer Ebene sind mehr politische Rechte für die Bürger Fehlanzeige. So konstatiert Paul Kirchhof, dass sich die „Europäische Union im Lissabonvertrag vor direkter Demokratie scheut“. In seinem  2008 erschienen Bestseller kritisiert der ehemalige Verfassungsrichter die „Normenflut die den Rechtsstaat erdrückt“ und fordert von Politikern, Parteien  und Medien: „Gebt den Bürgern ihren Staat zurück“. Die Digitalisierung und das Internet könnten das Prinzip der Volkssouveränität des Grundgesetzes endlich „mit Leben erfüllen“.