Aktuelle Gebühren heilpraktischer Leistungen

Kommentar zum GebüH 1985 (Stand 2018)

In den Jahren 2011 und 2016 kursierten in Therapeutenkreisen verschiedene Papiere, die sich mit der Abrechnung heilkundlicher Leistungen nach dem Gebührenverzeichnis für Heilpraktiker (GebüH 1985) im Vergleich zur Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) befassten. Hierzu muss man wissen, dass nicht nur neben dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM 2000, 2004, 2014) für gesetzliche Krankenversicherungen auch die GOÄ und für Psychotherapie die GOP in verschiedenen Versionen sowohl für gesetzliche als auch private Krankenversicherungen zum Einsatz kommen, sondern dass das GebüH (für heilpraktische Leistungen) nicht etwa fortwährend angepasst wird. So kommt es, dass den nominalen Daten des GebüH die realen Daten der Gebühren heilpraktischer Leistungen gegenüberstehen, mit denen Privatpatienten* zu rechnen haben. Wie bei den sog. Individuellen Gesundheits-Leistungen (IGeL) sollen die heilpraktischen Leistungen zwischen Therapeut und Privatpatient frei ausgehandelt werden, im Alltag sind jedoch gewisse Gebührenhöhen üblich. Im Folgenden wird daher das GebüH in der aktuellen Version dargestellt und kommentiert. Der Kommentar umfasst also die Erfahrungswerte, wie sie gehandhabt werden; bindend sind diese nicht.

Ein großer, wenn nicht der überwiegende Teil der als Heilpraktiker zugelassenen Therapeuten steht dem Fach Psychosomatik nahe, das wiederum dem Fachbereich Innere Medizin entstammt (nicht etwa der Nervenheilkunde) und auf ein eng verzahntes Leib-Seele-Verständnis zurückgreift. Ein anderer Strang des Faches ist mit der anthropologischen Medizin verbunden; zudem gibt es Verbindungen zur naturheilkundlichen Tradition der Jugendbewegung. Daher lässt sich von ganzheitlich-psychosomatischen Ansätzen sprechen, die sich ein Stückweit im GebüH widerspiegeln. Es ist nicht überraschend, wenn z.B. Regulationstherapien im Vordergrund stehen oder alternative    Verfahren auf leibseelische Veränderungen abzielen, mit jeweils unterschiedlichen Akzenten. Da Psychosomatik ein weit ausgreifendes Fach darstellt, in dem verbal und körperlich interveniert werden kann, findet sich am Ende der folgenden Auflistung und den dazugehörigen Einzelkommentaren ein Addendum, in dem berufspraktische Aspekte dargestellt werden, die für Patienten von Interesse sein können.

Vorausgeschickt sei ebenso, dass viele heilpraktische Behandlungsformen im GebüH nicht erfasst werden und deren Gebühren in der Regel analog zur GOÄ/GOP samt Steigerungssätzen ausgewiesen werden. Die Beihilfe für Beamte erstattet jedoch oft nur die Unter- oder Mittelwerte der GebüH. Im Falle von IGeL-Leistungen wie Faltenunterspritzung u.ä. im Beauty-Bereich ist anzufügen, dass diese keine heilkundlichen Behandlungen darstellen.

Im Folgenden erscheinen Einzelkommentare gleichermaßen kursiv und fettgedruckt. Wo kein Einzelkommentar erscheint, ist von analoger Gebührenbemessung in GebüH und GOÄ/GOP auszugehen. Aus Platzgründen wurden gekennzeichnete Auslassungen vorgenommen; am Ende des Textes findet sich ein Link zum vollständigen Download von Auflistung und Einzelkommentaren.

* Im Rahmen besserer Lesbarkeit wird in diesem Text nur die männliche Form verwendet, obwohl gleichermaßen Frauen und Männer gemeint sind.

 LEISTUNGSÜBERSICHT

Allgemeine Leistungen – Hausbesuch einschließlich Beratung – Nebengebühren für Hausbesuche – Schriftliche Auslassungen und Krankheitsbescheinigungen – Chemisch-physikalische Untersuchungen – Sonstige Untersuchungen – Spezielle Untersuchungen – Photoaufnahmen – Bioenergetische Verfahren – Neurologische Untersuchungen – Heilmagnetische Behandlungen – Psychotherapie – Atemtherapie, Massagen – Akupunktur – Inhalationen – Aerosole – Eigenblut, Eigenharn – Injektionen, Infusionen – Blutentnahmen – Hautableitungsverfahren, Hautreizverfahren – Infiltrationen – Roedersches Verfahren – Sonstiges – Abszesse u.a. – Versorgung einer frischen Wunde – Verbände (außer zur Wundbehandlung) – Wirbelsäulenbehandlung – Osteopathische Behandlung – Hydro- und Elektrotherapie – Elektrische Bäder- und Heißluftbäder – Spezialpackungen – Elektro-physikalische Heilmethoden

LEISTUNGEN

  1. Für die eingehende, das gewöhnliche Maß übersteigende Untersuchung € 12,30 bis 20,50
    KOMMENTAR: entspricht etwa der GOÄ. Generell gilt: dies ist die übliche Gebühr
  1. Durchführung des vollständigen Krankenexamens mit Repertorisation nach den Regeln der klassischen Homöopathie  15,40 bis 41,-
    KOMMENTAR: GOÄ ebenso etwa 120,-; Beihilfe ebenso. Generell gilt: dies ist die übliche Gebühr
  1. Kurze Information,auch mittels Fernsprecher, oder Ausstellung einer Wiederholungsverordnung, als einzige Leistung pro Inanspruchnahme des Heilpraktikers bis  4,50

4. Eingehende Beratung, die das gewöhnliche Maß übersteigt, von mindestens 15 Minuten Dauer, gegebenenfalls einschließlich einer Untersuchung  16,40 bis 22,-
Anmerkung: Eine Leistung nach Ziffer 4 wird nur als alleinige Leistung von der privaten Krankenversicherung oder Beihilfe erstattet.

5.- 8. (…)

  1. Hausbesuch einschließlich Beratung
    1 bei Tag 21,50 bis 29,50
    9.2 in dringenden Fällen (Eilbesuch, sofort ausgeführt)  24,- bis 32,-
    9.3 bei Nacht und an Sonn- und Feiertagen  27,50 bis 36,50

KOMMENTAR: die GOÄ liegt für Ziff. 9.1 bei etwa 42,-; 9.2 bei etwa 52,-; 9.3 bei etwa 62,-. Generell gilt: für Hausbesuche muss mit den Gebühren der GOÄ gerechnet werden 

10.-11.(…)

  1. Chemisch-physikalische Untersuchungen
    1 Harnuntersuchungen qualitativ mittels Verwendung eines Mehrfachreagenzträgers (Teststreifen) durch visuellen Farbvergleich bis zu 3,10
    Anmerkung: Die einfache qualitative Untersuchung auf Zucker und Eiweiß sowie die Bestimmung des ph-Wertes und des spezifischen Gewichtes ist nicht berechnungsfähig.
    12.2 Harnuntersuchung quantitativ (es ist anzugeben, auf welchen Stoff untersucht wurde, z.B. Zucker) bis zu  4,60
    12.4 Harnuntersuchung, nur Sediment bis zu  4,60
    12.5 Carzinochrom-Reaktion (CCR) bis zu  17,90
    12.7 Blutstatus (nicht neben Ziff. 12.9, 12.10,12.11) bis zu  18,-
    12.8 Blutzuckerbestimmung bis zu  8,-
    12.9 Hämoglobinbestimmung bis zu  5,50
    12.10 Differenzierung des gefärbten Blutausstriches bis zu  7,70
    12.11 Zählung der Leuko- und Erythrozyten bis zu  5,50
    12.12 Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit (BSK) einschließlich Blutentnahme bis zu 6,-
    12.13 Einfache mikroskopische und/oder chemische Untersuchung von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen auch mit einfachen oder schwierigen Färbeverfahren sowie Dunkelfeld, pro Untersuchung bis zu  9,50
    12.14 Aufwändige Chemogramme von Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen je nach Umfang (z. B. Enzymdiagnostik, Nierenchemie, Blutserumchemie, Stuhlchemie, Elektrolyse, Elektrophorese, Fermentchemie, pro Einzeluntersuchung) bis zu  10,50
    12.15 Kristallographie, Photometrie, pro Einzeluntersuchung bis zu  10,50
    Anmerkung: Die Art der Untersuchung bei Ziff. 12.13, 12.14 oder 12.15 ist anzugeben.
    KOMMENTAR: die GOÄ liegt im Einzelnen teilweise deutlich unter den Oberwerten des GebüH. Generell gilt: die Ziff. 12 des GebüH kommen meist im Mittelwert zur Anwendung
  1. (…)
  2. Spezielle Untersuchungen
    1 Binokulare mikroskopische Untersuchung des Augenvordergrundes 5,20 bis 10,50
    14.2 Binokulare Spiegelung des Augenhintergrundes  5,20 bis 10,50
    Anmerkung: Eine Leistung nach Ziffer 14.1 kann nicht neben einer Leistung nach Ziffer 1 oder Ziffer 4 berechnet werden. Leistungen nach Ziffer 14.1 und 14.2 können nicht nebeneinander berechnet werden.
    14.3 Grundumsatzbestimmung nach Read  5,20 bis 8,-
    14.4 Grundumsatzbestimmung mit Hilfe der Atemgasuntersuchung  10,30 bis 26,-
    14.5 Prüfung der Lungenkapazität (Spirometrische Untersuchung)  10,50 bis 20,50
    14.6 Elektrokardiogramm mit Phonokardiogramm und Ergometrie, vollständiges Programm 26,- bis 51,50
    14.7 EKG mit Standardableitungen, Goldbergerableitungen, Nehbsche Ableitg., Brustwandableitung  20,50 bis 31,-
    14.8 Oszillogramm-Methoden  5,20 bis 25,50
    14.9 Spezielle Herz-Kreislauf-Untersuchungen  10,50 bis 25,50 Anmerkung: Nicht neben Ziffern 1 oder 4 berechenbar.
    14.10 Ultraschall-Gefäßdoppler-Untersuchung zur peripheren Venendruck- und/oder Strömungsmessung bis  11,30
    KOMMENTAR: GOÄ ähnlich, teilweise unter den Oberwerten des GebüH; nur die Ultraschall-Gefäßdoppler-Untersuchung nach Ziff. 14.10 liegt höher, nämlich bei etwa 41,-. Generell gilt: die Ziff. 14 des GebüH kommen meist im oberen Mittelwert zur Anwendung

15.-18. (…)

  1. Psychotherapie
    19.1 Psychotherapie von halbstündiger Dauer15,50 bis 26,-
    19.2 Psychotherapie von 50-90 Minuten Dauer  26,- bis 46,-
    19.3 Ausstellung eines psychodiagnostischen Befundes  15,50 bis 38,50
    19.4 Psychotherapeutisches Gutachten je zweizeiliger Schreibmaschinenseite bis  15,50
    19.5 Psychologische Exploration mit eingehender Beratung  15,50 bis 46,-
    19.6 Anwendung und Auswertung von Testverfahren (TAT, Rohrschach, usw.)  15,50 bis 38,50
    19.7 Behandlung von Störungen der Sprechorgane je Sitzung  10,50 bis 31,-
    Anmerkung: Die Honorare für eine ausgedehnte Spezialbehandlung von Sprechangst-Neurosen (Stottern), Honorare für spezielle ausgedehnte Sprechlernkurse, Kurse der Entwöhnungsbehandlung usw. sind besonders zu vereinbaren.
    19.8 Behandlung einer Einzelperson durch Hypnose  15,50 bis 26,-
    KOMMENTAR: wichtigste Ziffern sind jene der GOÄ/GOP 2002/2010 entstammenden; diese werden in der Regel mit den Steigerungssätzen 2,3 oder 3,5 belegt: Anamnese (Ziff. 860) etwa 123,-/187,-; 20-minütige Erörterung mit Patient (Ziff. 34) etwa 40,-/61,-; 20-minütige psychotherapeutische Behandlung (Ziff. 849) etwa 30,-/46,-; reguläre verhaltenstherapeutische Sitzung (Ziff. 870) etwa 100,-/153,-; reguläre psychotherapeutische Sitzung (tiefenpsychologisch Ziff. 861 oder analytisch Ziff. 863) etwa 92,-/140,-; für alle Ziffern gilt: ein Steigerungssatz von 3,5 oder mehr wird von privaten Krankenversicherungen selten vollständig erstattet. Generell gilt: es ist mit einer Sitzungsgebühr zwischen 100,- und 150,- zu rechnen
  1. (…)
  2. Akupunktur
    21.1 Akupunktur einschließlich Pulsdiagnose € 10,30 bis 26,-
    21.2 Moxibustionen, Elekroakupunktur, Injektionen und Quaddelungen in Akupunkturpunkte € 5,20 bis 15,50
  3. Inhalationen
    22.1 Inhalationen, soweit sie vom Heilpraktiker mit den verschiedenen Apparaturen in der Sprechstunde ausgeführt werden €5,50 bis 13,-
  4. Aerosole
    23.1 Anwendung von Aerosolen mit Kompressor, Pressluft- bzw. Sauerstoffapparat
    € 5,20 bis 15,50
  5. -33. (…)
  1. Wirbelsäulenbehandlung
    34.1 Chiropraktische Behandlung der Wirbelsäule €10,50 bis 18,-
    34.2 Gezielter chiropraktischer Eingriff an der Wirbelsäule € 15,40 bis 19,-
    Anmerkung zu Ziff. 34.2: Bei einem mehr als dreimaligen gezielten Eingriff an der Wirbelsäule kann der Leistungsträger eine Begründung verlangen.
    KOMMENTAR: Beihilfe erstattet bei Ziff. 34.1 etwa 4,-; bei 34.2. etwa 17,-. Generell gilt: die Ziff. 34 des GebüH kommen meist im Oberwert zur Anwendung
  1. Osteopathische Behandlung
    35.1 des Unterkiefers €7,70 bis 15,50
    35.2 des Schultergelenks € 15,40 bis 26,-
    35.3 der Handgelenke, des Oberschenkels, des Unterschenkels, des Vorderarmes und der Fußgelenke € 15,40 bis 26,-
    35.4 des Schlüsselbeins und der Kniegelenke € 5,20 bis 15,50
    35.5 des Daumens € 5,20 bis 13,-
    35.6 einzelner Finger und Zehen € 5,20 bis 13,-
    KOMMENTAR: die Ziff. 35.2, 35.3 und 35.5 sind in der GOÄ höher bewertet: jeweils etwa 49,-, 37,- und 19,-. Generell gilt: die Ziff. 35 des GebüH kommen in der Regel im Oberwert zur Anwendung oder gehen darüber hinaus

36.-37. (…)

  1. Spezialpackungen
    38.1 Fangopackungen €8,- bis 15,50
    38.2 Paraffinpackungen, örtliche € 8,- bis 15,50
    38.3 Paraffinganzpackungen € 10,50 bis 23,-
    38.4 Kneippsche Wickel und Ganzpackungen, Preißnitz- und Schlenzpackungen € 10,50 bis 31,-
    Anmerkung: Alle nicht aufgeführten Bäder und Packungen evtl. unter Verwendung verschiedener Apparate werden nach vergleichbaren Positionen berechnet.
    KOMMENTAR: Beihilfe erstattet je Packung höchstens 3,-. Generell gilt: die Ziff. 38 des GebüH kommen meist im Mittelwert zur Anwendung
  1. Elektro-physikalische Heilmethoden
    39.1 einfache oder örtliche Lichtbestrahlungen € 5,50 bis 8,-
    39.2 Ganzbestrahlungen € 7,70 bis 10,50
    39.4 Faradisation, Galvanisation, und verwandte Verfahren (Schwellstromgeräte) € 5,50 bis 15,50
    39.5 Anwendung der Influenzmaschine € 5,50 bis 10,50
    39.6 Anwendung von Heizsonnen (Infrarot) € 5,50 bis 8,-
    39.7 Verschorfung mit heißer Luft und heißen Dämpfen € 5,20 bis 10,50
    39.8 Behandlung mit hochgespannten Strömen, Hochfrequenzströmen i.V.m. verschiedensten Apparaten € 5,50 bis 15,50
    39.9 Langwellenbehandlung (Diathermie), Kurzwellen- und Mikrowellenbehandlung € 8,- bis 18,-
    39.10 Magnetfeldtherapie mit besonderen Spezialapparaten € 10,50 bis 20,50
    39.11 Elektromechanische und elektrothermische Behandlung (je nach Aufwand und Dauer) € 5,50 bis 31,-
    39.12 Niederfrequente Reizstromtherapie, z.B. Jono-Modulator € 5,50 bis 26,-
    39.13 Ultraschall-Behandlung € 5,50 bis 15,50
    KOMMENTAR: bei Ziff. 36-39 liegt die GOÄ teilweise ähnlich, teilweise deutlich unter den Unterwerten des GebüH; Packungen, Hydro- und elektrophysikalische Therapie sind tendenziell niedrig bewertet, obwohl hoher Aufwand; Beihilfe erstattet bspw. bei Ziff. 39.1 und 39.2 etwa 3,- bzw. 8,- und bei 39.13 höchstens 4,-. Generell gilt: die Ziff. 36-39 des GebüH kommen meist im Oberwert zur Anwendung

Den vollständigen Kommentar zum Download unter folgendem Link: https://www.researchgate.net/profile/Goetz_Egloff

 KOMMENTAR: Addendum 

Psychosomatik als weit ausgreifendes Fach spiegelt sich in den heterogenen Qualifikationen der Therapeuten wider. Daher ist anzufügen, dass eine vielfältige Gruppe von Therapeuten, die oft Mehrfachabschlüsse und unterschiedlichste Vorberufe und -ausbildungen mitbringt, die oben beschriebenen Ziffern (je nach Zulassung) nutzt, die rechtliche Zusammenführung jedoch nur drei heilpraktische Berufe kennt:

Heilpraktiker
Heilpraktiker für Psychotherapie (HP Psych)
Heilpraktiker für Physiotherapie (HP Phys)

Diese nutzen, neben grundständig ausgebildeten allgemeinen Heilpraktikern, bei heilkundlicher Zulassung folgende Berufsgruppen:

Akademische Psychologen und Sozialwissenschaftler (B.Sc., M.Sc., B.A., M.A., Dipl.-Psych. u.ä.)
Absolventen von Fachhochschulen (Bachelor, Master, Dipl.-Soz.päd. FH, Dipl.-Soz.arb. FH)
European Certified Psychotherapists (ECP) der European Association for Psychotherapy (EAP)
Mitglieder des Deutschen Dachverbands für Psychotherapie (DVP)
Mitglieder des Berufsverbands Akademischer PsychotherapeutInnen (BAPT)
Systemische Therapeuten, Gesprächstherapeuten u.ä.
Psychotherapeuten ohne Kassensitz bzw. ohne sog. Richtlinienverfahren der gesetzlichen Krankenversicherungen
Supervisoren, Philosophen, Berater
Logotherapeuten, Existenzanalytiker, Daseinsanalytiker (sog. Phänomenologen und Existentialpsychologen, insbesondere in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz)
und einige andere

Nicht nur in der psychotherapeutischen Praxis werden psychosomatische Störungen behandelt; durch Überschneidungen der Fachgebiete werden diese ebenso von allgemeinen Heilpraktikern behandelt. Diese sind oft:

Osteopathen, Chiropraktiker u.ä.
Medizinische Fachberufe (examinierte Schwestern, Pfleger)
Naturärzte (Schweiz), Ayurveda-Ärzte, TCM-Ärzte
Doctors of Naturopathy (ND, DO) u.ä. ausländische Ärzte

Psychosomatik bedeutet in der Praxis überwiegend, aber eben nicht nur, verbale Behandlung. Je nach diagnostischer Einschätzung kommen unterschiedliche Ansätze zur Anwendung; psychotherapeutische Behandlungen können sein:

Die kleine Psychotherapie, meist Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Therapie, aber auch Gesprächstherapie oder systemische Therapie, umfasst oft etwa 25 Sitzungen, kann aber bis etwa 50 Sitzungen reichen. Sie ist eher ziel- und lösungsorientiert unter unterschiedlicher Berücksichtigung biographischer Faktoren.

Eine große Psychotherapie (z.B. Psychoanalyse, oder eine sog. Strukturtherapie) ist als eher aufdeckende Therapie innerer Konflikte auf einen längeren Zeitraum angelegt und umfasst etwa ab 80 Sitzungen bis hin zu etwa 160 Sitzungen, was auch dem Grundkontingent der gesetzlichen Krankenversicherungen entspricht. Längere Therapien sind meist nicht sinnvoll. Zudem gibt es sog. niederfrequente Therapien, die sich über mehrere Jahre mit wenigen Sitzungen erstrecken, mit guten Erfolgen. Die Wahl des Verfahrens hängt meist, aber nicht nur, von der Symptomatik ab.

(für die Studiengemeinschaft für dermatologische, gynäkologische und andrologische Psychosomatik (SDGAP), Heidelberg: Götz Egloff)

„The Beauty of the Father“ by Nilo Cruz just premiered at The English Theatre of Hamburg

Let’s fly away on our magic carpet!

Spanish guitar music welcomes the spectators of this family drama set in a lush Mediterranean landscape with flowers and palm trees, the deep blue sea on a far horizon. In mid-February we find ourselves in the little town of Salobrena near Granada. Although the studio of Spanish painter Emiliano (Joseph Rye) is bathed in sunshine, he seems to be in a gloomy mood. No wonder. He is about to paint a picture of the murder of Federico Garcia Lorca, his favourite poet who was shot by a Nationalist firing squad in early 1936 during the Spanish Civil War. Lorca, the famous author of plays such as “Yerma” and “The House of Bernada Alba”, died at the young age of 38. Sketches of Lorca’s execution cover the walls of the studio and make the audience shiver. Lorca has become Emiliano’s alter ego to whom he talks and asks for advice while working on his painting. It goes without saying that Lorca is only visible and audible to Emiliano. Lorca becomes more and more part of the family and serves as counsellor to the painter, a discreet witness whom he can trust not to reveal his former life in the United States.

Dancing and singing on a sunny afternoon. Olé!

The suicide of his American wife is Emiliano’s well kept secret. When his spouse found out about his bisexuality, she took her life, leaving him alone with his young daughter Marina. Emiliano was so shocked by his wife’s death that he fled to Spain where he started a completely new life in a ménage à trois with Paquita, a beautiful Spanish woman, and Karim, a young Moroccan who shares the bed with Emiliano. Paquita, the good-natured woman, married Karim in order to enable him to stay legally in the country. She plans to divorce him when he has been given his citizen papers by the Spanish authorities. After that step she hopes to marry Emiliano whom she loves. For the time being the three of them live happily together until Marina announces her arrival in Spain. Everything is fine until the very moment when Marina, who has fallen in love with Karim, finds out that the young Maghrebinan is her father’s lover. She is out of her mind and accuses Emiliano of having killed her mother. The whole family is on the edge of their nerves. The only two people who keep their calm are – of course – the invisible Lorca and cheerful Paquita who tries to handle the heated situation in a most charming manner. However, she does not succeed. Emiliano who does not accept the relationship between Karim and his daughter wants the young man out of his house and view immediately. Karim is enraged. He tears Emiliano’s sketches and paintings from the walls and hurls them all over the place. Then he disappears with a rifle in his hand. Two gunshots ring out. Fortunately he misses the painter who reappears unhurt in the house. Lorca is shocked. The shots remind him of his execution by Franco’s soldiers over sixty years ago. “Am I dead?” asks the painter. “No, the boy missed,” Lorca replies. The end of the plot will not be revealed here. Please find out yourselves, dear spectators, whether or not the family, including Karim, is reconciled after all this trouble.

The American press is full of praise for Pulitzer Prize Winner Nilo Cruz and his oeuvre. One critic wrote: “Cruz is a writer of ideas, who fills the stage with a kind of lush dramatic literature, unifying character with thought and action in time and space.” After having seen a performance of “The Beauty of the Father”, another New York critic wrote: “Richly poetic language adds to Cruz’ family drama.”

The audience thanked the actors and director Clifford Dean for this performance with a standing ovation. Dean is always in search of outstanding plays that are completely unknown to German theatre goers. So is Nilo Cruz, the young playwright whose plays deserve to become part of the repertoire of German stages. The passionate performance of five actors made the evening a great success. Holly Smith, whom the “aficionaos” of the English Theatre have already seen in a couple of dramas and comedies, played the role of her life as Paquita, the joyful singing and dancing embodiment of a Mediterranean female. Just captivating!

Photos: Stefan Kock

Final performance of “The Beauty of the Father” on April 13, 2019

Tickets under phone number 040 – 227 80 89, online booking under www.englishtheatre.de

Next premiere: “Moonlight and Magnolias”, a comedy by Ron Hutchinson, on April 25, 2019

„The Beauty of the Father“ – das neue Stück am English Theatre of Hamburg

Lass‘ uns entfliehen auf unserem magischen Teppich!

Spanische Gitarrenmusik erfüllt den Saal, bevor sich der Vorhang hebt. Das Atelier des Malers Emiliano (Joseph Rye) rückt ins Blickfeld. Im Hintergrund leuchtet ein tiefblaues, von den gleißenden Strahlen der Sonne angestrahltes Meer. Mediterrane Lebensfreude im winterlichen Hamburg! Doch halt. Die mit Skizzen eines erschossenen Menschen bedeckten Wände des Hauses spiegeln keinerlei Fröhlichkeit wider. Der Künstler ist besessen vom Tod des großen spanischen Dichters und Theaterautoren Federico Garcia Lorca, der 1936 während des spanischen Bürgerkrieges von Francos Schergen hingerichtet wurde. Emiliano schickt sich gerade an, den Tod des von ihm verehrten Poeten in einem Gemälde festzuhalten. Lorca ist das nur dem Maler sichtbare Alter Ego Emilianos, der – stets mit einem makellos weißen Anzug bekleidet – mehr und mehr in die schwierigen familiären Verhältnisse des Malers hineingezogen wird.

Tanzen und singen an einem sonnigen Nachmittag. Olé!

Das Familiendrama nahm bereits vor Jahren seinen Lauf, als Emilianos Ehefrau sich das Leben nahm, nachdem sie von der Bisexualität ihres Mannes erfuhr. Er verließ daraufhin fluchtartig die Vereinigten Staaten und siedelte sich im andalusischen Städtchen Salobrena in der Nähe von Granada an. Die minderjährige Tochter Marina ließ er allein in Amerika zurück. Inzwischen hat Emiliano sich in seiner neuen Heimat ganz nach seinem Gusto eingerichtet. Er lebt in einer Ménage-à-trois mit der temperamentvollen Paquita (hinreißend gespielt von Holly Smith, die mit ihrem drolligen „Spanglish“ das Publikum verzaubert) und einem jungen gutaussehenden Marokkaner namens Karim (Theo Bougouneau) zusammen. Soweit so gut ? Mitnichten. Denn mit der überraschenden Ankunft Marinas (Jess Pritchard) wird Emiliano sich seiner Lebenslüge nolens volens bewusst. Seine Tochter beginnt, unangenehme Fragen zu stellen, und entlarvt ihn als Eskapisten, der sich allen Problemen durch seine Flucht feige entzogen hat. Zunächst läuft alles dank des heiteren Wesens der Spanierin Paquita gut, die alle Unstimmigkeiten mit leichter Hand vom Tisch wischt. Als die junge Frau sich allerdings in Karim verliebt, ist die südliche Idylle nachhaltig gestört, zumal Marina erfährt, dass der junge Marokkaner das Bett ihres Vaters teilt. Die Folge sind lautstarke Auftritte Emilios, der in den Versuchen, seine Handlungsweise zu rechtfertigen, von Mal zu Mal hilfloser wirkt. In diesem Aufruhr der Gefühle bewahrt nur einer die Ruhe. Federico Garcia Lorca (Alex Warner) erweist sich mit seinen weisen Ratschlägen aus dem Jenseits als Fels in der Brandung. Als Emiliano Karim auffordert, sein Haus zu verlassen und dieser Marina bittet, mit ihm fortzugehen, kommt es zu einem Showdown zwischen den beiden Männern. In seiner Wut reißt Karim Emilianos Skizzen von den Wänden, wirft sie auf den Boden und verlässt mit Emilianos Gewehr das Haus. Man hört Schüsse. Doch Karim trifft den Maler nicht. Lorca begleitet diesen Vorgang mit einem lakonischen „Der Junge hat nicht getroffen.“ Karim kehrt auf die Terrasse zurück. Verzeihen Emiliano und der Rest der Familie Karim seinen mörderischen Angriff auf den Hausherrn? Das Ende wird wie üblich nicht verraten. Das muss der geneigte Zuschauer selbst herausfinden. Bleibt zum Schluss der Vorstellung nur noch ein Bert Brecht zugeschriebenes Zitat: Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen. Langanhaltender Beifall des Publikums für das Stück und ein großartiges Ensemble unter der Regie von Clifford Dean. Für die Musik und hinreißenden Tanzeinlagen zeichnet Paul Glaser verantwortlich.

Es gehört zu den Eigenheiten des English Theatre, neben bekannten und beliebten Sujets immer wieder Stücke von Autoren ins Programm zu nehmen, die einem breiten Publikum in Deutschland völlig unbekannt sind. Ein großes Dankeschön dafür geht an Direktor Clifford Dean. Denn er entdeckte Nilo Cruz, den 1960 auf Kuba geborenen Theaterautor, der mit seiner Familie im Alter von zehn Jahren in die USA emigrierte und in „Miami’s Little Havanna“ eine neue Heimat fand. In Amerika bereits durch Stücke wie „Anna and the Tropics“, „Exquisite Agony“ usw., berühmter Autor, der an verschiedenen amerikanischen Universitäten als Lehrer im Fach Drama bekannt ist, wartet noch auf seine „Erweckung“ in deutschen Landen. „The Beauty of the Father“ ist der erste Schritt in diese Richtung. Mit dem Titel wissen wenige etwas anzufangen. Um welche Schönheit geht es hier? Diese Frage mag sich jeder selbst beantworten, der dieses zeitgenössische Familiendrama gesehen hat. Die in diesem Stück behandelten Probleme sind uns Europäern ebenfalls nicht fremd. Nachdem im Deutschen Bundestag unlängst die Ehe für alle verabschiedet wurde, ist praktisch alles im familiären Umfeld zulässig. Auch die „Ménage-à-trois“ ist uns seit Langem geläufig. Auch dass noch ein Familienmitglied mit Migrationshintergrund wie der Marokkaner Karim hinzukommt, stellt kein Novum dar. Aus derartigen Familienkonstellationen entstehen zwangsläufig Konflikte, wie sie auch in „The Beauty of the Father“ zur Sprache kommen. Als Integrationsfigur fungiert hier Federico Garcia Lorca, der aus dem Nichts auf der Bühne erscheint und, obgleich schon ein Menschenalter tot, dem Familienoberhaupt Emiliano in dessen Fantasie bei der Bewältigung der Probleme hilfreich zur Seite steht. Garcia Lorca galt als eine der größten Hoffnungen der spanischen Literatur gleichermaßen als Poet und Stückeschreiber. In jungen Jahren, gerade einmal im Alter von 38 Jahren, wurde er durch seinen gewaltsamen Tod aus seinem vielseitigen Schaffen gerissen. Die Trauer über seinen viel zu frühen Tod veranlasste Nilo Cruz, ihm als Alter Ego seines Protagonisten Emiliano neues Leben einzuhauchen. Was dem Autor grandios gelungen ist.

„The Beauty of the Father“ läuft bis einschließlich 13. April 2019

Tickets unter der Telefonnummer 040-227 70 89 oder online unter www.english-theatre.de

Nächste Premiere von „Moonlight and Magnolias“, Komödie von Ron Hutchinson, am 25. April 2019

Armut, Sonne und Geschichte

Albert Camus´ “Der erste Mensch“ im Altonaer Theater

Joachim Król, Foto: Stefan Nimmesgern

Was verbindet die bundesweite Initiative zur Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade) mit dem Text eines Literaturnobelpreisträgers? Warum begleitet AlphaDekade den Schauspieler Joachim Król auf einer Tournee? Nachdem Król im Altonaer Theater aus Albert Camus´ unvollendet gebliebenen Roman „Der erste Mensch“ gelesen hat, sind diese Fragen beantwortet.

„Der erste Mensch“, Camus´ intimster und persönlichster Text, erzählt die Geschichte seiner Kindheit. Einer vaterlosen Kindheit – Lucien Camus fällt 1914, ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes, im 1.Weltkrieg – im Armenviertel von Algier. In einer Wohnung, die nur das Allernotwendigste enthält und in der meist brütende Hitze herrscht. Camus´ Familie besteht aus einem gutmütigen, halbdebilen Onkel, einer dominanten Großmutter, deren bevorzugtes Erziehungsmittel der Ochsenziemer ist, von dem sie häufig Gebrauch macht, und seiner fast tauben, sanften Mutter. Einer Analphabetin, deren Wortschatz keine 500 Wörter umfasst und die dem Kind als abgewandte, schweigende Figur am Fenster in Erinnerung bleibt. Eine Kommunikation mit ihr ist beinahe unmöglich. Der kleine Junge liebt diese sanfte, abwesende Mutter und sehnt sich nach ihrem viel zu seltenen Lächeln.

Und doch ist es auch eine Kindheit wie im Paradies. Geradezu hymnisch schreibt Camus immer wieder von der Schönheit des Lichts, vom Schwimmen im Meer, von der Sonne, von Freundschaft und der Abwesenheit falschen Überflusses, von seiner Freude am Dasein unter dem heißen afrikanischen Himmel. „Das Elend hinderte mich daran zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“

Das Wunder der Bildung

Diesen Satz hätte Camus so nie formulieren können, nie wäre er zu Papier gebracht worden, hätte es nicht einen Lehrer gegeben, der sich seiner annahm. Louis Germain gelang es, die strenge Großmutter davon abzubringen, den 10-Jährigen als Hilfsarbeiter zu verdingen, damit er etwas zum Familieneinkommen beitrage. Unentgeltlich half Germain seinem Schützling bei der Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium, unterstützte und ermutigte ihn.

Als der Schauspieler Joachim Król diese für Camus´ Entwicklung so wichtige Passage das erste Mal las, hat er an seine eigene Biografie gedacht: „Ich war ein Bergarbeitersohn in den sechziger Jahren im Ruhrgebiet. Und genau wie bei Camus kam eines Tages ein Lehrer zu uns und bat meinen Vater zum Gespräch. Was zum Ergebnis hatte, dass meine Eltern mich aufs Gymnasium gehen ließen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Nach Feierabend ist dieser engagierte Lehrer zum Hausbesuch gekommen und hat wesentliche Weichen für mein Leben gestellt.“

Der junge Camus erlebt den von Louis Germain erkämpften Eintritt in die höhere Schule zunächst als Verlust. Die Welt der Bildung und des Bürgertums ist ihm fremd. Wenn Klassenkameraden von Koffern voller alter Briefe, Kleider und Spielsachen auf den Dachböden der elterlichen Häuser, von Fotoalben und ihrer Familiengeschichte erzählen, bleibt er stumm. Armut, so begreift er, hat keine Zeit. Wer Tag für Tag ums materielle Überleben kämpft, beschäftigt sich nicht mit Vergangenheit oder Zukunft, weiß nichts von Politik und fernem Weltgeschehen. Wer in eine solche Familie hineingeboren wird, ist wie „der erste Mensch“. Ein Mensch ohne Wurzeln, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit, nirgendwo zuhause.

Camus´ Lehrer wiederum sind irritiert von seinem familären Hintergrund. Ein Haushalt ohne Bücher oder Zeitschriften, Erziehungsberechtigte, die keine Unterschrift leisten können – was für das Kind selbstverständlich und normal ist, löst bei ihnen Befremden aus. Unübersehbar jedoch ist das Talent und der Lernwille, ja, die Lerngier und Lesewut ihres scheuen neuen Schülers.

Camus Text, er selbst hat ihn als sein Hauptwerk bezeichnet, blieb unvollendet. Nach seinem Autounfall im Januar 1960 fand man neben dem tödlich Verletzten eine schwarze Ledermappe; darin das handgeschriebene Manuskript mit Anmerkungen und Verbesserungen. Und der Widmung an seine Mutter: „Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können.“

Kopfkino, das unter die Haut geht

Joachim Król erzählt die bewegende Kindheitsgeschichte unterstützt von fünf Solisten des l’orchestre du soleil. Die vom Komponisten Christoph Dengelmann eigens für seinen Vortrag komponierten Melodien greifen Elemente algerisch-französischer Pop- und Volksmusik auf. Sie begleiten, interpretieren und unterstützen die Rezitation.

Den Zuhörern, Król selbst wäre es am liebsten, wenn „die Leute von einem Kopfkino“ sprechen würden, geht die Aufführung unter die Haut.

Und so erfüllt sich hoffentlich der Wunsch von AlphaDekade, die Aufführung möge Theaterbesucher für das Thema Alphabetisierung sensibilisieren. Wie notwendig dies ist, zeigt die Tatsache, dass jeder siebente Erwachsene in Deutschland ein funktionaler Analphabet ist und zwar einzelne Wörter und Sätze lesen, nicht aber zusammenhängende – auch kürzere – Texte verstehen kann.

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek erklärte zum Auftakt der Tournee: „Die Familie, der Kollege, die Lehrerin des Kindes oder die Betreuungsperson im Jobcenter – sie alle können, wie Louis Germain, Mutmacher sein, wenn sie eindeutige Anzeichen erkennen, Betroffene ansprechen und an die richtige Stelle weiterleiten.“

Nicht aus jedem Kind kann ein Nobelpreisträger werden, aber von der Teilhabe an zahlreichen Bereichen des öffentlichen Leben sollte niemand auf Grund mangelnder Lese- und Schreibkenntnis ausgeschlossen bleiben. Wir brauchen viele Louis Germains. Könnten wir selbst einer sein?

Familie und Kindheit in Zeiten von Wandel und Strukturverlust

Buchcover

Familien- und Erziehungsforschung sind in den letzten Jahrzehnten zu  breit angelegten Disziplinen geworden, in denen psychologische, soziologische und anthropologische Forschungsstränge zusammenlaufen. Ebenso sind Theorie und Praxis eng miteinander verbunden, was für die Wissenschaften nicht selbstverständlich ist. Das 20. Jahrhundert, das Ellen Key als das „Jahrhundert des Kindes” bezeichnete, brachte nicht nur einige Neuerungen, sondern wichtige Arbeiten zu diesem Gebiet hervor, darunter  W. Goodsells  „A History of the Family as a Social and Educational Institution“ (New York, 1915) und H. Schelskys „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ (Stuttgart, 1967). Geradezu revolutionäre Ansätze gingen aus der Mentalitätsgeschichte nach Philippe Ariès und Lloyd deMause hervor, die in ihren unterschiedlichen Standortbestimmungen heute noch reichlich Stoff für Auseinandersetzung bieten. Der sogenannte psychogenetische Ansatz der Eltern-Kind-Beziehungen von deMause zog erhebliche Perspektivenwechsel nach sich, und mit der 1974 gegründeten Zeitschrift „History of Childhood Quarterly“ begann  eine neue Epoche der Familien- und Erziehungsforschung. Der vorliegende Band schließt insofern an diese an, als dass er sich als bio-psycho-soziale Fundierung versteht.

Das erste Kapitel stellt das Projekt Cross-National Collaboration in the Study of Parenting and Child Adjustment vor, eine neun Länder umfassende Langzeitstudie zu Elternschaft und kindlicher Entwicklung unter der Leitung von Ann T. Skinner, Duke University, USA, die zahlreiche internationale Wissenschaftler begleiten. Die Zusammenhänge von Elternschaft und Kindesentwicklung in internationalem Vergleich tragen erheblich zum Verständnis des menschlichen Sozialisationsprozesses bei.

Das zweite Kapitel, Parenting in Psycho-Social Medicine: Analyzing the Basics, Applications, and Challenges, behandelt  Elternschaft und frühkindliche Sozialisation aus Sicht der psycho-sozialen Medizin, in deren Rahmen in Deutschland Interventionsprogramme entwickelt wurden, die auf Forschungsergebnisse in erster Linie aus Psychoanalyse und Säuglingsforschung zurückgehen. Diese Ansätze reichen von bindungs- und beziehungsorientierten Elternkursen über erziehungspraktische Seminare bis hin zu entwicklungspädiatrischer Intervention und zu vorgeburtlicher Selbsterfahrung für Mütter. Jenseits individueller Förderung stellt sich gleichzeitig die Frage, ob gerade in hochindustrialisierten Ländern eine stärkere Betonung kollektiver Maßnahmen nötig ist, um die schwierige gesellschaftliche Entwicklung insbesondere der letzten zwei Jahrzehnte aufzufangen.

Im dritten Kapitel, Child-Rearing Attitudes and Practices in China, erörtern Vivien Yiu, Jinsol Lee, Jung Hwa Choi und Xinyin Chen von der University of Pennsylvania, USA, die Rolle der chinesischen Kultur in Bezug auf die Prägung elterlicher Einstellungen; sie untersuchen hierbei spezifische Erziehungsziele und -praktiken wie z.B. die Ausrichtung auf Autonomie, auf akademische Ausbildung, oder auf emotionale Bildung, und deren Zusammenhänge mit der Kindesentwicklung. Da kulturelle Normen und Wertvorstellungen elterliche Erziehungsziele und -praktiken  beeinflussen, prägen sie auch die psychische Entwicklung des Kindes. Hinzu kommt, dass auch in China westliche Einflüsse sozialen Wandel ausgelöst haben, der in unterschiedlichen Subgruppen unterschiedliche Ausprägung gefunden hat.

Andreas Schick, langjähriger Präventionsforscher und Gründer des Heidelberger Präventionszentrum (HPZ), stellt im vierten Kapitel die internationalen Evaluationsergebnisse eines der am intensivsten beforschten und am häufigsten genutzten Gewaltpräventionsprogramme vor. Second Step Violence Prevention and its European Versions behandelt ´Second Step´, dessen deutsche Version ´Faustlos´ seit Jahren erfolgreich im deutschsprachigen Raum eingesetzt wird. Die Förderung pro-sozialen Verhaltens wird dabei bereits im Kindergarten systematisch ermöglicht. Ein Überblick über das bio-psycho-soziale Modell der klinischen Psychologie erweitert den Blick auf die Faktoren destruktiv- aggressiven Verhaltens. Dabei wird deutlich, wie die ganze Bandbreite von Entwicklungs- und auslösenden Faktoren zu Sozialisation beiträgt und Präventionsprogramme die Entwicklung von Gewalt eindämmen können.

Die japanischen Forscher Rie Wakimizu und Hiroshi Fujioka beleuchten im fünften Kapitel, Characteristics of Child-Rearing in Japanese Families and Findings of the Positive Parenting Program (Triple P) in Japan, den gesellschaftlichen Wandel in Japan, der sich in sinkenden Geburtenraten und immer kleiner werdenden Familien niedergeschlagen hat. So steigt bspw. die Gefahr von Kindesmissbrauch entlang des Trends zur Kernfamilie ebenso wie die Zahl diagnostizierter Depressionen. Die Verfasser der Faculty of Medicine at University of Tsukuba und der Ibaraki Prefectural University of Health Sciences, Japan, halten eine bevölkerungsorientierte Interventionspolitik, die auf gefährdete Eltern und Familien ausgerichtet ist, für dringend erforderlich und weisen auch auf die Möglichkeiten des Positive Parenting Program (Triple P) hin, einem auch in Deutschland verbreiteten Elternprogramm.

Kapitel 6 beleuchtet gesellschaftlichen Wandel aus einer etwas anderen Perspektive. Esin Kumlu zeichnet in Falling from Grace: Analyzing the Landscape of Depression in „Prozac Nation“ and „The Last Yankee“ den Prozess postmoderner Fragmentierung bei Elizabeth Wurtzel und Arthur Miller nach. Wurtzel hat mit „Prozac Nation” eine Mischung aus Autobiographie und Soziogramm vorgelegt, die thematische Anknüpfungspunkte zu Arthur Millers Drama „The Last Yankee“ aufweist. Diese liegen in der historischen Bestandsaufnahme von Gesellschaft, Geschlecht und Rolle – und damit insbesondere der Themen von Mutterschaft und Familie. Die an der Dokuz Eylül Universität in Izmir, Türkei, lehrende Verfasserin greift Depression als Schlüsselbegriff auf, der den psychologischen Grundzustand  im ausgehenden 20. Jahrhundert definiert. Depression und Wahnsinn können zumal nicht nur als Resultat gesellschaftlicher Entwicklung verstanden werden, sondern als kulturelle Konstruktion des Abseitigen, das jedoch integraler Bestandteil der postmodernen Gesellschaft ist.

Im zweihundertsten Geburtsjahr von Henry David Thoreau ist die amerikanische Idee, die eigenen Potenziale zu nutzen, aktueller denn je. Dass dies mit Problemen einhergeht, ist angesichts enormer globaler Herausforderungen gewiss deutlich. Weniger deutlich dürfte sein, dass Potenziale in unterschiedlichen Lebensbereichen liegen können. In Kapitel 7 wird daher Emancipation as an Educational Issue in the Early Republic untersucht, und zwar anhand weiblicher Autorenperspektiven über Erziehungsziele und Sozialisationsvorstellungen. Obwohl weit entfernt von postmodernen Verhältnissen heutiger Zeit, zeigten sich die gesellschaftlichen Umbrüche in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts kaum minder dramatisch. Dass emanzipatorische Ansätze zu jener Zeit eine erhebliche Rolle spielten, lässt sich den Schriften der Frühen Republik entnehmen. Dabei kam Frauen eine entscheidende Rolle zu; dies sowohl in der Verschriftlichung publikumswirksamer Themen als auch in der Neugestaltung ihres gesellschaftlichen Standpunktes.

In Kapitel 8 untersucht Johanna Schacht, Internationale Studiengemeinschaft für Prä- und Perinatale Psychologie und Medizin, den Beitrag von Otto Gross zur psychoanalytischen Theoriebildung sowie dessen wenig bekannten kulturellen Einfluss. Otto Gross, Original Sin and Psychoanalysis öffnet den Blick auf menschliche Sexualität und deren lange Geschichte der Unterdrückung, deren Opfer in erster Linie Frauen waren. Das Konzept der Erbsünde im Christentum dürfte im Rahmen der Trennung der Geschlechter mit den Themen Schuld, Scham und Schande aufs Engste verknüpft sein. Eine patriarchatskritische Lesart trägt erheblich zur Relativierung dieser Sichtweise bei, vor allem aber kann sie zu neuen Konzeptionen führen, die im 20. Jahrhundert bereits ein gutes Stück gegangen wurden, gewiss aber breiterer gesellschaftlicher Fundierung bedürfen.

Ludwig Janus erweitert im letzten Kapitel, Thoughts on Some Basic Assumptions of Psychoanalysis, die Perspektive nochmals um einige Aspekte des menschlichen Sozialisationsprozesses. Betrachtet man die psychoanalytische Theoriebildung und die Bindungs- und Säuglingsforschung in Zusammenschau mit Erkenntnissen der pränatalen Psychologie und der Psycho-Neuroendokrinologie, lässt sich konstatieren, dass manche Aspekte der menschlichen Entwicklung unterschätzt wurden. Die Historizität, also die Epochenbedingtheit mancher Konzeptionen fällt auf. Das Verfallsdatum wissenschaftlicher Erkenntnisse wird in Wissenschaft und Gesellschaft wenig diskutiert – was Konsequenzen auch auf die Vorstellungen von Familie, Sozialisation und Erziehung hat. Das Kapitel beleuchtet diese Dynamik und zeigt somit mögliche zukünftige Denkrichtungen auf.

In der Zusammenschau aktueller und historischer Perspektiven zeigt sich die Palette der Praktiken, Vorstellungen und kulturellen Unterschiede als maßgebliche Faktoren menschlichen Handelns. Familien- und Erziehungsforschung hat also viel zu bieten. Der in der Reihe „Family Issues of the 21st Century” erschienene Band knüpft an zahlreiche  Aspekte zur Sozialisationsforschung an und will einen weiteren Beitrag zum Verständnis menschlichen Handelns leisten. Der englischsprachige Band richtet sich sowohl an Fachleute als auch an interessierte Laien.

„Child-Rearing: Practices, Attitudes and Cultural Differences”, Götz Egloff (ed.). Nova Science, New York 2017. 242 pages, $ 95

 

„Here lies Jeremy Troy“ by Jack Sharkey – the New Play at the English Theatre of Hamburg

By Uta Buhr
Photos: Stefan Kock

Darling, I’ll be back in a couple of hours to prepare our dinner

What to do on a grey November evening in Hamburg? You can either have an early night in bed, prepare yourself a nice hot cup of tea or – much better – buy a ticket for the English Theatre of Hamburg und rejoice in the farce “Here lies Jeremy Troy”, written by Jack Sharkey as early as 1965. Although this hilarious comedy is an “old hat”, so to speak, it has not lost any of its charm since it premiered on Broadway some fifty years ago. What do you think when you hear or read the title “Here lies Jeremy Troy?” In fact, English is a tricky language, since to lie has to meanings. You may either lie on your sofa or lie to your wife or boss. The latter meaning is to be dishonest to somebody. The spectator will soon find out which meaning applies to Jeremy Troy, the “hero” of this play.

Hi daddy, I’m in real good company

We meet Jeremy and Kathryn Troy – a well-heeled couple (James Walmsley and Debbie Radcliffe in top form) – in their cosy apartment in West Rutherford, New Jersey, just a few miles away from New York City. Jeremy, a lawyer who is up for a partnership, has invited his big boss for dinner tonight. Kathryn leaves the house to do her shoppings and Jeremy is left alone with his ideas how to convince his boss to make him a partner in his law firm. The setting seems so be perfect until an old school chum of Jeremy’s turns up out of the blue. Charles “Charly” Bickle (funny as usual Stephen Chance), a notorious sponger, turns up at the Troy’s doorstep and blackmails Jeremy into putting him up this night. Charly discovers that Jeremy’s law degree is a fraud. Charly is getting his way – and what a cheek – even hires a “model” by phoning an agency in the city. Tina Winslow (sweet and naïve Isobel Wood) is a real eye-catcher in her canary-yellow outfit revealing pretty long legs. When Kathryn unexpectedly comes home, she is shocked to see this young woman in her home whom she suspects to be Jeremy’s lover. She leaves the apartment “for good” as she shouts and disappears. Poor Jeremy is in real trouble. Who on earth is going to cook the dinner and entertain his boss Sven Ivorsen? Jeremy has a brilliant idea. Why not make attractive Tina with her charming Southern drawl his wife for this night’s reception? Tina consents, and the party can start. Sven Ivorsen (Alan Booty at any time good for waves of laughter), a powerful man with a loud voice, turns up dressed formally in a tuxedo and is deeply impressed by Jeremy’s charming replacement spouse. Even Tina’s inedible food does not spoil the dinner party. The four of them – Jeremy, Tina, Charly and boss Ivorsen – are in high spirits drinking wine and making jokes just to the moment when Kathryn appears on the scene. Jeremy as an experienced liar presents his real wife to Ivorsen as Ingeborg, Princess of Rumania, although Ivorsen has his doubts that this is a genuine Romanian name. The chaos created by the host and his classmate Charly culminates in Jeremy’s confession that he never passed his exam as a lawyer at any university. He admits that he wanted to impress his beloved Kathryn by presenting a title that he never deserved. Kathryn forgives her husband on the spot. But what about the reaction of boss Sven Ivorsen when learning the truth about his partner-to-be Jeremy Troy? Dear spectator, come and enjoy this wonderful screwball comedy that will give you an answer to this             question. After all, Sven Ivorsen, a cunning lawyer himself, has the last word: “Honesty is the best policy”, he preaches to the audience who thanks the performers with a long lasting applause.

Good Lord, what a terrible mess!

Although “Here lies Jeremy Troy” was already written in 1965 and premiered the same year on Broadway, it has not lost its relevance to the presence. In our daily life we meet people – not least in politics – who are masters of glossing over their true situation, including their curriculum vitae. Mostly without any consequences. “Orbis terrarum vult decipi”, the wise Romans already knew human nature all too well. Nothing has changed yet. We repeat this dictum in good English: Halas, the world will be deceived.

The American author Jack Sharkey who was born in Chicago in 1931 and died 1992, began his career as a writer at the early age of ten years. He wrote altogether 83 plays – mostly comedies, but also thrillers such as “Murder House” – and became one of America’s foremost playwrights. “Here lies Jeremy Troy” was his hit number one which proved an applauding success on Broadway. One of his critics wrote enthusiastically “A hilarious farce, sexy but nice, a comedy with witty dialogue. One just can’t help laughing throughout the play.” And another one added: “Jack Sharkey has a hit on his hand.”

Final performance of “Here lies Jeremy Troy” on February 2, 2019

Tickets under phone number 040 – 227 80 89, online booking under www.englishtheatre.de 

Next premiere: “Beauty of the Father” bv Nino Cruz, on February 14, 2019

Premiere am English Theatre: „Here lies Jeremy Troy“ von Jack Sharkey

Von Uta Buhr
Fotos: Stefan Kock

Liebling, ich bin rechtzeitig zurück zu unserem Dinner

Wenn der Winter naht, die Tage kürzer werden und graue Nebel über der Alster wabern, ist es Zeit für eine Komödie auf der Bühne des Theaters an der Mundsburg. In diesem Jahr hat Direktor Bob Rumpf aus einem reichen Angebot ein besonders witziges, temporeiches Konservationsstück ausgewählt, das man durchaus mit den früher am Broadway und in Hollywood so beliebten Screwball Comedies vergleichen kann. Dabei spielt es keine Rolle, dass der amerikanische Erfolgsautor Jack Sharkey dieses Lustspiel bereits im Jahre 1965 schrieb. Denn jene im Stück aufgespießten menschlichen Schwächen wie Eifersucht, Betrug und Verrat sowie alle daraus resultierenden Irrungen und Wirrungen sind heute so aktuell wie eh und je.

Jack Sharkey, geboren 1931 in Chicago und gestorben 1992, begann seine schriftstellerische Karriere bereits im zarten Alter von zehn Jahren und brachte es im Laufe seines Lebens auf 83 Theaterstücke, darunter auch Mystery Plays und Thriller. Früh übt sich, wer ein Meister der Sprache werden will. Mit dem etwas verwirrenden Titel des hier besprochenen Stückes „Here lies Jeremy Troy“ legt Sharkey den ersten Fallstrick. Denn ins Deutsche übersetzt kann dies sowohl „Hier liegt Jeremy Troy“ als auch „Hier lügt Jeremy Troy“ heißen. Wer gut aufpasst, findet schnell heraus, um welche semantische Variante es sich hier handelt.

Hallo Paps, ich bin in echt cooler Gesellschaft

Das Stück beginnt etwas behäbig in einer schicken, im Stil der sechziger Jahre eingerichteten Wohnung in New Jersey im Weichbild New Yorks. Das Ehepaar Jeremy und Kathryn Troy erwartet Jeremys Boss Sven Ivorsen zum Abendessen. Dieser will Jeremy, das beste Pferd im Stall seiner New Yorker Anwaltskanzlei, bei dieser Gelegenheit anbieten, sein Teilhaber zu werden. Soweit so gut. Oder? Alles wäre perfekt, wenn die Sache nicht einen klitzekleinen Schönheitsfehler hätte. Jeremy hat nie ein juristisches Staatsexamen abgelegt, was ihn zum Anwalt qualifiziert. In dürren Worten: Er hat seine Umgebung jahrelang belogen. Also „hier lügt Jeremy Troy.“ Damit ist die Bedeutung des Titels klar. Auch Ehefrau Kathryn, die Jeremy mit seinem Titel beeindrucken wollte, ahnt nichts von seinem Betrug. Aber die Nemesis, die griechische Göttin der Rache und der ausgleichenden Gerechtigkeit, naht in der Person des alten Freundes Charles „Charly“ Bickle (skurril Stephen Chance). Dieser Schnorrer aus alten Studententagen. der sich mit allen denkbaren Tricks über Wasser hält, versucht sich wenig erfolgreich als Kunstmaler und ist darauf aus, sich bei den Troys einzunisten. Als Druckmittel dient ihm sein Wissen um Jeremys Lüge bezüglich seines juristischen Universitätsabschlusses. Damit sind alle Voraussetzungen für eine turbulente Komödie mit einer endlosen Reihe von Missverständnissen und Verwechslungen geschaffen, zumal Charly auch noch die Chuzpe besitzt, sich durch eine Modelagentur eine junge attraktive Dame ins Haus der Troys zu bestellen. Tina Winslow, das „Model“ mit den endlos langen Beinen, betritt in einem kanariengelben figurbetonten Kleid die Szene. Dass sie in dem singenden Tonfall der Südstaatler parliert, macht sie für die anwesenden Herren umso reizvoller. Wenig begeistert zeigt sich allerdings Ehefrau Kathryn, die empört das Haus verlässt, weil sie Tina (Isobel Wood zum Anbeißen hübsch und zauberhaft naiv) für die Geliebte ihres Mannes hält. Was tun, wenn die Hausfrau den Boss des Ehemanns nicht empfangen kann? Dem gewieften Jeremy fällt gleich die Lösung ein. Tina muss einspringen und die Aufgaben Kathryns für diesen Abend übernehmen. Über ihre eher begrenzten Kochkünste sehen alle Beteiligten, einschließlich Boss Sven Ivorsen, gern hinweg. Zwischenruf: Alan Booty als schwergewichtiger Anwalt im Smoking, der mit seinem homerischen Lachen die Gesellschaft aufmischt, ist einfach herrlich! Aber weiter im Text. Als Kathryn Troy (Debbie Radcliffe sehr professionell als Sturm und Wetter erprobte Ehefrau) mitten in die gemütliche Dinnerrunde platzt, die hier auch noch gegenüber Ivorsen als Ingeborg, Prinzessin von Rumänien gehandelt wird und dabei gute Miene zum bösen Spiel macht, wird es eng für Jeremy. Da hat er sich mit seinem „bestman“ Charly doch in der Tat ein trojanisches Pferd ins Haus geholt, aus dessen Bauch die schöne Tina entstiegen ist. Aha, der Autor wollte wohl mit dem Nachnamen Troy – zu deutsch Troja – sein Publikum noch zusätzlich auf’s Glatteis führen. Nun helfen alle Lügen nicht mehr. Jeremy muss beichten. Verzeiht ihm Kathryn, sieht Boss Ivorsen ihm den Betrug nach und macht ihn trotzdem zum Partner? Hier muss die Rezensentin wieder das Publikum bitten, dies selbst herauszufinden. Denn der Schluss eines Stückes – ob Komödie oder Thriller – darf nicht verraten werden. Nur soviel: Es wird noch richtig turbulent, als Jeremy Troy (James Walmsley in Hochform) sich unter dem Druck der Verhältnisse als Hochstapler outet. Das Schlusswort von Sven Ivorsen wollen wir dem geneigten Publikum nicht vorenthalten. „Ehrlich währt am längsten“, spricht der selbst mit allen Wassern gewaschene Staranwalt. Und damit ist alles gesagt.

Gütiger Gott, welch ein Chaos!

Noch ein paar Takte zum Autor Jack Sharkey: Obwohl dieser außerordentlich talentierte Schreiber eine schier endlose Reihe von erfolgreichen Stücken – u.a. „Take a Number, Darling“, „The Murder Room“ und „Rich is Better” verfasst hat, steht wenig über ihn im Internet. Wahrscheinlich ist es der gleichlautende Name, den er mit dem US-Boxweltmeister 1932/33 im Schwergewicht teilt. Jener Sportler litauischer Herkunft nimmt noch heute viel Raum im world-wide-web ein. Boxer schlägt Literaten. Allerdings hier nur im übertragenen Sinne.

„Here lies Jeremy Troy“ läuft bis einschließlich 2. Februar 2019

Tickets unter der Telefonnummer 040 – 227 70 89 oder online unter www.english-theatre.de

Nächste Premiere: „Beauty of the Father“ , Schauspiel von Nino Cruz, am 14. Februar 2019

Klezmerklänge und Falafel  – Bummel durch Budapests altes jüdisches Viertel

Dieser Artikel erschien in der
August-Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes.

Große Synagoge, Foto ArvidO, PixabayEs mag etwas abgeschmackt klingen. Aber die Elisabethstadt, Budapests altes jüdisches Viertel, ist wieder auferstanden aus Ruinen. Wie Phönix aus der Asche. Es beginnt gleich hinter der Großen Synagoge am Kleinen Ring.

Alteingesessene freuen sich, dass dieser ehemals herunter gekommene Stadtteil  sich inzwischen zu einem In- und Ausgehviertel gemausert hat, in dem es bis in die frühen Morgenstunden brummt. Alte baufällige Häuser wurden entkernt, restauriert, verputzt und strahlen jetzt in neuem Glanz. Restaurants, in der eine exzellente Koscher-Küche zelebriert wird, eine Vielzahl an Cafés, Geschäften und schicken Boutiquen prägen das Gesicht des Viertels und legen Zeugnis ab vom Wiedererwachen jüdischer Kultur in Budapest. „Den Grundstein legten unsere Vorfahren im 19. Jahrhundert, als sie als sie sich auf der Pester Seite außerhalb der einstigen Stadtmauer ansiedelten“, erklärt eine junge Stadtführerin namens Esther während eines Rundgangs durch das lebhafte, aus allen Nähten platzende Viertel.

Schon aus der Ferne grüßt die imposante Pester Synagoge in der Dohány utca.

Dieser von 1854-59 im  maurisch-byzantinischen Stil ausgeführte Bau geht auf die Pläne des österreichischen Architekten Ludwig Förster zurück und gilt als größter jüdischer Tempel Europas. Das angeschlossene jüdische Museum mit seinen zahlreichen religiösen Kultobjekten ist ein Muss für jeden Besucher. Das gleiche gilt für den Raoul-Wallenberg-Gedenkpark  in der Wesselényi utca mit dem „Baum des Lebens“, der den vielen dem Naziterror zum Opfer gefallenen Menschen ein würdiges Denkmal setzt.

Nach diesem Ausflug in die dunkle Vergangenheit heißt es auf zur „grünen Lunge“ der Elisabethstadt, wie die kleine parkähnliche Anlage rund um den Klauzál ter im Volksmund gern genannt wird. An diesem sonnigen Mittag tummeln sich hier die Anwohner. Unter die Hausfrauen, die sich nach ihren Einkäufen in der nahen Markthalle zu einem kurzen Plausch treffen, mischen sich Schuljungen, manche mit der Kippa auf dem Kopf. Pralles jüdisches Leben mitten in der Donau-Metropole!

Die „Ruinenkneipen“ sind eine Besonderheit im  Schtetl. Junge Leute, oftmals Künstler, schufen in leer stehenden Gebäuden eine alternative Kulturszene. Cafés und Galerien schossen Anfang dieses Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden und mischen bis heute das alte Viertel gründlich auf. Da viele der Häuser einen geräumigen Innenhof besitzen, wurden hier auch lauschige Biergärten angelegt, die sich bei Einheimischen und Touristen großer Beliebtheit erfreuen.

Kosher und Klezmer ergänzen sich auf das Allerbeste. Wie wäre es mit einem Schlenker in die grundsanierten Passagen zwischen Dob utca und Király utca? In diesen einst etwas schmuddeligen Hinterhöfen haben sich zahlreiche Kneipen und Restaurants angesiedelt. Letzere  servieren eine Auswahl  an koscheren Köstlichkeiten wie gefillte Fisch, Lammwürstchen mit Harissa und knusperiges Falafel. Während aus einer benachbarten Kneipe helle Klarinettentöne der schwermütigen Klezmer-Musik herüberwehen, fühlt man sich in eine längst vergangene Epoche versetzt. Das nach dem Krieg verschollene  jüdische Erbe ist an seinen Ursprungsort zurück gekehrt. Shalom.

 

War die Novemberrevolution eine Revolution?

Dieser Artikel ist in der Preußischen Allgemeinen Zeitung
Nr. 38 vom 21.09.2018 erschienen.

von Maren Schönfeld 

Sonderausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte zu den Ereignissen vor 100 Jahren

Blick in die Ausstellung Revolution Hamburg 1918_19, Foto SHMH (7)

In der betont föderalistisch strukturierten Bundesrepublik Deutschland nehmen sich diverse Landesmuseen der Novemberrevolution vor 100 Jahren an. Das gilt auch für das Museum für Hamburgische Geschichte. Das Besondere an dieser Ausstellung ist, dass die Frage aufgeworfen wird, ob die Novemberrevolution überhaupt eine Revolution war. „Revolution! Revolution? Hamburg 1918–1919“ lautet denn auch der Titel der Sonderausstellung, die noch bis zum 25. Februar im Museum am Holstenwall zu sehen ist.

Ein Flur führt zur schweren Glastür, hinter der sich die Ausstellung befindet. An den Flurwänden stimmen auf der linken Seite Repliken zeitgenössischer Plakate und auf der rechten 20 chro­nologisch geordnete Extrablätter des „Hamburger Fremdenblatts“ und der „Neuen Hamburger Zeitung“ aus den Wochen vor der Novemberrevolution auf die Thematik ein.

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„Death Knell“ by James Cawood – the New Play at the English Theatre of Hamburg

By Uta Buhr
Photos: Stefan Kock

Don’t move, or I’ll shoot you!

Dear reader, have you ever spent a few days and nights in the Scottish highlands? If so, you will certainly remember the fascinating view of high mountains and numerous lochs that form the landscape of that country in the northern part of Britain. Just buy a ticket for the latest play at the English Theatre of Hamburg for a thrilling “déjà vu” that will send chills down your spine. Are you ready for the story told by James Cawood who loves the austere charm of the highlands that inspires him to write ingenious plays of murder and intrigue. Just remember “Stone Cold Murder”, also written by James Cawood and premiered at the TET in September 2013. Here we go.

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„Death Knell“ – das neue Stück am English Theatre of Hamburg ist eine europäische Premiere

Von Uta Buhr
Fotos: Stefan Kock

Der Titel des neuen Thrillers des britischen Autors James Cawood ist Programm. Wem läuft bei „Death Knell“ – zu deutsch Totenglocke – nicht ein kalter Schauer über den Rücken. Ein Effekt, der durchaus beabsichtigt ist.

Nicht bewegen oder ich schieße!

Das Stück auf der Mundsburger Bühne beginnt so, wie man sich ein Schauermärchen in den schottischen Highlands vorstellt. Eine bedrohliche Atmosphäre liegt über dem stilvollen Intérieur einer alten Jagdhütte inmitten wogender Baumkronen. Donner rollen, Blitze zucken, und die Vorhänge an den französischen Fenstern blähen sich im Sturm. Über diesem Szenario wabert eine düstere dissonante Musik, die nichts Gutes verheißt. Der bröckelnde Charme dieses Hauses weitab jeglicher Zivilisation aber ist genau das, was Henry Roth gesucht und schließlich gefunden hat. Dieser eitle Zyniker mittleren Alters (glänzend dargestellt von Charlie Buckland) schrieb einst erfolgreiche Thriller für das Theater und war ein gefragter Autor im Londoner Westend. Doch wann feierte er eigentlich seinen letzten großen Triumph vor einem begeisterten Publikum?

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Kunst im Norden: NordArt 2018

Text: Witka Kova
Fotos: Dr. László Kova

„Wo befindet sich Büdelsdorf? Was wird dort jährlich veranstaltet?“, fragen viele, die mit Kunst, bzw. internationaler Kunst wenig zu tun haben.

Plakat NordArt 2018

Büdelsdorf befindet sich im Raum Rendsburg in Schleswig-Holstein, wo seit 1999 in den Sommermonaten eine internationale Ausstellung für zeitgenössische Kunst immer wieder unter anderer Konzeption veranstaltet wird. Die Bildpräsentation gewährt jedes Jahr ein besonderes Ambiente. Gemalte Bilder, Fotografien, Videos, Skulpturen und Installationen werden von mehr als 200 Künstlern aus aller Welt gezeigt. Diese Kunstwerke werden z.T. in der alten, historischen Eisengießerei Carlshütte (22.000 qm) zur Schau gestellt, z.T. im Freien im 80.000 qm großen Skulpturenpark. Ein Rundgang in den gegebenen Kulissen kann mehrere Stunden füllen: Es ist eine unterhaltsame und lehrreiche Weltreise durch die Kunst von heute.

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Hundstage

von Uta Buhr

Foto: Pixabay

Es ist bruttig heiß, und das schon seit Monaten. So verwöhnt von der Sonne waren wir doch noch nie – oder zumindest ziemlich selten. Wo sonst über ständigen Regen und niedrige Temperaturen geschimpft wurde, wird jetzt über die lähmende Hitze gemeckert. Ja, es ist wirklich heiß an diesen Tagen unter dem Canis Major, dem Sternbild des Großen Hundes. Und erfrischende Regenfälle und angenehme Kühle sind in naher Zukunft nicht zu erwarten.

Erinnern wir uns doch einmal an unsere Schultage im Hochsommer. Bei 28 Grad Celsius war Hitzefrei angesagt. Zeigte das Thermometer lediglich schlappe 27 Grad, wurde von dem Mutigsten der Klasse kräftig auf dasselbe gehaucht und dem Lehrkörper triumphierend aufs Pult gelegt. Aber der brave Mann oder die brave Frau – je nachdem, wer gerade die Klassenaufsicht führte – ließ sich nicht täuschen, schlug das Thermometer herunter und verkündete kühl den wahren Wärmegrad. Pech gehabt. Da musste bei hohen Temperaturen weiter gelernt und geschwitzt werden. Denn Klimaanlagen waren noch Zukunftsmusik. Continue reading „Hundstage“

Vergessene Schätze heben: Meisterkurs in Husum

von Maren Schönfeld (Text und Fotos)

Ulf Bästlein und Hedayet Djeddikar

Am 23. Juli begann der 18. Meisterkurs für Liedgestaltung mit einem Eröffnungskonzert im Schloss vor Husum. Feride Büyükdenktas (Mezzosopran) und Ulf Bästlein (Bassbariton) sangen Lieder von Johannes Brahms, Gustav Jenner, Anton Bruckner und Martin Plüddemann, begleitet von den Pianisten Charles Spencer und Hedayet Djeddikar. Susanne Bienwald erzählte vom Netzwerken im 19. Jahrhundert.

Wie hieß er gleich? Plüddemann? Kennen Sie nicht? Keine Angst – die rund 80 Gäste des Konzerts hatten diesen Namen auch noch nicht gehört. Ganz im Gegensatz zu Ulf Bästlein, dem gebürtigen Husumer, in Graz lebend. Er hat sich den unbekannten, vergessenen Komponisten der Liedkunst verschrieben, und sein derzeitiges Projekt heißt Gustav Jenner. Bästlein möchte Jenners Kompositionen mit Konzerten und einer CD zu neuer Aufmerksamkeit verhelfen und teilte bereits in seiner Eröffnungsrede mit, dass er sein Preisgeld aus dem Hans-Momsen-Preis, den er dieses Jahr erhält, komplett in dieses Projekt investieren wird.

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Lyrischer Spaziergang an den Gestaden der Elbe

von Uta Buhr

(c) Wiesenburg Verlag

Dieses kleine Buch – es umfasst knapp 80 Seiten – hebt sich wohltuend von so manchem Werk ab, das sich wortreich mit den Befindlichkeiten Hamburgs beschäftigt und allzu oft dieselben Sujets in den Mittelpunkt stellt. Mit „Töne, metallen, trägt der Fluss“ hat Maren Schönfeld einen Band vorgelegt, der Lyrik und Prosa rund um Geschichten und Geschicke der Hansestadt elegant mit einander verbindet.

Postkartenromantik ist nicht die Sache der Autorin. Sie richtet ihr Augenmerk nicht auf die allseits bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern leuchtet völlig andere Aspekte aus. Und dies in der ihr eigenen klaren Sprache. Das Gedicht „Heute Nacht“ ist ein besonders schönes Beispiel ihres schnörkellosen Stils: „Durch die Zahnlücken / der Stadt pfeift / Sturm heute Nacht // das Lied der verlorenen / Gedanken, die wir suchen“ Dem Stadtteil Ottensen – im Volksmund „Mottenburg“, in welchem Maren Schönfeld seit Langem wohnt, widmet sie vier Strophen, in welchen sie den Wandel eines ehemaligen Industriestandortes  mit rauchenden  Schornsteinen und rußigen  Häuserfassaden in einen sogenannten „In“-Stadtteil beschreibt. Hier im ehemaligen Quartier der armen Glasbläser, deren Lungen durch ihr aufreibendes Metier irreparable Schäden erlitten, die der Volksmund sarkastisch „Motten“ nannte, leben heute vornehmlich Künstler und arrivierte junge Leute, die gern ihren Latte Macchiato in einem der vielen Cafés und Bistros genießen. Sie wissen nichts von dem Elend, in welchem die Altvorderen dieses Quartiers einst ihr Leben fristeten. Continue reading „Lyrischer Spaziergang an den Gestaden der Elbe“

Mutter der »Wurzelkinder«

Die Kinderbuchautorin und -illustratorin Sibylle von Olfers

von Dr. Manuel Ruoff

Buchcover
(c) Esslinger Verlag

Wenn einer Kinderbücher macht, kann es nicht schaden, wenn er pädagogisch begabt, zu bildhafter Darstellung fähig sowie phantasievoll ist, um nicht zu sagen verträumt. Für die Macherin des Jugendstil-Klassikers „Etwas von den Wurzelkindern“ traf alles drei zu. Die am 8. Mai 1881 auf Schloss Metgethen bei Königsberg geborene Sibylle von Olfers entstammte einer Schriftstellerfamilie. Zu ihren Tanten gehörte die Schriftstellerin, Illustratorin und Salonnière Marie von Olfers, die unter dem Pseudonym Maria Werner neben Gedichten und Novellen auch Kinderbücher herausgab, die sie selbst illustrierte. In den Sommermonaten besuchte Maria von Olfers die Familie ihres Bruders und hatte auf ihre Nichte dabei großen Einfluss.

Dass die Natur in Sibylle von Olfers Werk eine derart große Rolle spielt, kommt nicht von ungefähr. Ihr Vater war Naturforscher und Naturfreund und ließ mit seiner Frau die reiche Kinderschar für damalige Verhältnisse ziemlich ungezwungen von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen aufwachsen. Der Vater konnte das Gut nicht halten und mit 17 Jahren kam Sibylle zu ihrer Tante nach Berlin. Sibylle von Olfers, die ihre Naturverbundenheit auch in der Großstadt bewahrte, wurde durch ihre Tante nun noch systematischer in Zeichnen und Malen ausgebildet, als es vorher schon während der Sommerbesuche der Fall gewesen war.

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HOPE FOR CHANGES – die 7. Triennale der Photographie in Hamburg hat begonnen

Text und Fotos: Ele Runge 

Wie lange können wir noch so weitermachen wie bisher? Für Krzysztof Candrowicz, Kurator der 7. Triennale der Photographie 2018 in Hamburg, ist dies eine der zentralen Fragen, vor der die Welt heute steht. Eine Frage, die auch für das Thema der Triennale  BREAKING POINT – SEARCHING FOR CHANGE einen Antrieb bildet. Und so haben sich in dem kollaborativen Projekt, das drei Jahre lang vorbereitet wurde, 90 verschiedene Kunstorte zusammengefunden, um 25 000 fotografische Arbeiten von 320 Künstlern zu zeigen, die sich alle mit der Frage beschäftigt haben, wo Veränderungen angesetzt und in Bewegung gesetzt werden können. Die Photographie sei dabei auch eine Möglichkeit Themen zu übermitteln, die sich verbal nur schwer ausdrücken lassen, sagt Krzysztof Candrowicz.

PHOBOS EX MACHINA

In diese Kategorie gehören sicherlich die beiden polnischen Künstler Ewa Ciechanowska und Artur Urbanski, die ihre Installation PHOBOS EX MACHINA in einem der Schiffscontainer ausstellen, die rund um die Hamburger Deichtorhallen zu finden sind. Sie zeigen Videos von Bäumen, die bei Stürmen entwurzelt werden. Auf dramatische Weise heben sich in langsamem Tempo Asphalt und Erdreich, die großen Bäume fallen … auf Häuser, Autos, Menschen, die vielleicht gerade so der Gewalt entkommen können. Daneben können die Besucher anhand von Statistiken nachlesen, wie viele Menschen pro Jahr von umfallenden Bäumen verletzt oder sogar erschlagen werden. Am Stellvertreterbeispiel der ‚Bedrohung durch fallende Bäume‘ werfen die Künstler die Frage auf, wie stark wir durch die Medien manipuliert werden, indem diese bestimmte Ängste schüren und die Menschen dadurch in eine gewünschte Richtung lenken. Wie würde sich unsere Wahrnehmung ändern, so fragen die beiden Künstler, wenn Bäume, denen die Bevölkerung bislang kaum ängstlich gegenüber steht, uns künftig zunehmend als massive Gefahrenquelle präsentiert würden?

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Ungarn? Europa?

von Ferenc Horvath

Foto: Ferenc Horvath

Ungarn befindet sich geografisch gewiss in Europa.  Wenn man aber die heutige Presse hört, bekommt man irgendwie das Gefühl, als ob sich Ungarn irgendwo auf dem Mond befände und als ob die Ungarn ein wirklich seltsames, eigentlich fast außerirdisches  Volk wären. Genauso fühlen sich die Ungarn, wenn es um die Politik der EU geht. Die beiden Parteien scheinen einander nicht mehr verstehen zu können und verstanden zu werden. 

Diese Tatsache  macht das Leben für ungarisch Stämmige in Deutschland heutzutage seit einiger Zeit ganz schwer.  Sie fühlen sich ein wenig gebrandmarkt und wollen sich über das Thema lieber nicht austauschen.In diesem Fall nutzen aber nur ein ständiger Dialog, eine ständige Feinabstimmung und eine gegenseitige, aufeinander zugehende Aufklärung.

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