Liebesgrüße à la carte 

Seit es die Fotografie gibt, haben viele Künstler die Lust verloren, sich mit Motiven des Sports zu befassen.

Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt eine Postkarte von Ihrem letzten Fußball-; Handball-; Tennis- oder Golftrip an ihre Lieben daheim verschickt? Im Zeitalter der digitalen Medien und  Smartphones haben nicht nur wir, sondern auch viele Künstler die Lust verloren, sich mit Postkarten zu befassen. Maler und Zeichner um die Jahrhundertwende waren da inspirierter und kreativer. Sie machten Postkarten zu Kunstwerken. So erzielten beispielsweise Ansichtskarten mit Szenen aus der feinen Tennis- oder Golfwelt in elitären Kreisen riesige Auflagen. In der großen Zeit ihrer Herstellung (zwischen 1900 und 1914) wurde zum Teil soviel Aufwand an Drucktechnik und Handarbeit in jede einzelne Postkarte gelegt, das alles, was danach kam, „billig“ erscheint.

Postkarten im Sean Arnolds Sporting Antiques Museum

Die kostbarsten Postkarten-Raritäten als Spiegel der damaligen Zeit kann man, wenn nicht gerade in England wieder mal Lockdown ist, in Sean Arnolds Sporting Antiques Museum in London Notting Hill besichtigen und kaufen. Das Privileg, von dem deutschsprechenden Iren Arnold durch sein Golfmuseum geführt zu werden, genießt der Kunstliebhaber ehrfurchtsvoll. In einem alten viktorianischen Haus in der Artesian Road no.1 (London W25DL) wacht der 78-jährige Arnold über wahre Schätze antiker Sportkunst. Für Liebhaber sportlicher Antiquitäten aus den Gründerjahren bis hin zur Jahrhundertwende ist sein Name fast so klangvoll wie „Sotheby’s“ in der Bond Street oder „Christie’s“ in der Kings Street.

Der Deutsch-Ire sammelt seit 40 Jahren Sportantiquitäten, kauft und verkauft alles, was mit Fußball, Golf, Polo, Kricket und Tennis zu tun hat. Im Haus seines Onkels fand der ehemalige Highfidelity-Experte seine erste rund 100 Jahre alte Golfsammlung: „Nichts Hochkarätiges, aber toll.“ Der Onkel schenkte dem Neffen die kostbaren Stücke – der Beginn einer Obsession.

Ölgemälde, Stiche, Lithographien, Radierungen, Zeichnungen, Keramiken, Silber, Lederköcher, Münzen, Bälle, Spiele, Schmuck und Fotos geben einen Überblick über die Anfänge von Polo, Tennis, Golf und Fußball. Das Privileg, von Sean Arnold (nur nach telefonischer Vereinbarung (Tel.:+ 44 207 221 2267; Mob.07712 005017 ) durch dieses Golf-Museum geführt zu werden, genießt jeder Antiquitätenliebhaber ehrfurchtsvoll. Man bewundert andächtig eine mit Golfbällen aus Diamantsplittern besetzte Brosche und kniet prüfend vor einem alten Golfköcher – das gute Stück von 1925 soll 300 Pfund kosten. Es ist schon faszinierend, wie viel „Sport aus der Zeit“ man bei Sean Arnold – auch zu Schnäppchenpreisen  in seinem Shop in 23 High St. Aldershot GU11 in – findet.

Die Postkarte galt als schnellstes Kontaktmittel

In einem alten Bildband von der Hobby-Engländerin Helen Exley „Faszination Golf“ findet man die schönsten Postkarten der Jahrhundertwende zusammengefasst (ISBN ‎ 3897135809); Schläger und Arm flott in die Höhe geschwungen, das Kleid schicklich bodenlang, und unbequem figurbetont, die Beinstellung graziös dargeboten – so  (und anders) posierten die Nostalgie-Proetten mit oder ohne ihren Galan im Golfdress für die Maler. Kaum mehr vorstellbar, aber es war so: Als das Telefon noch nicht im Schwange war, galt die Postkarte als schnellstes Kontaktmittel. Zustellung häufig am Tage der Absendung. Der Postbote der Jahrhundertwende bekam oft Einblick in die Intimsphäre.

Dabei war es bis Mitte des 19.Jahrhunderts noch undenkbar, versiegelte Mitteilungen, die man Kurieren, Boten oder der Post für viel Geld anvertraute, den Blicken Unbefugter offenzulegen. Eine Änderung wurde erst möglich, als immer mehr Menschen Lesen und Schreiben gelernt hatten, der Postversand billiger und somit auch mehr Briefe geschrieben und verschickt werden konnten.

Am 1. März 1872 führte die Postverwaltung des Norddeutschen Bundes erstmals eine „Korrespondenzkarte“ für Mitteilungen ein. Format 10,8 x 16,3 cm. Bildpostkarten kamen um 1875 auf. Beliebte Motive waren „sinnbildliche“ Darstellungen, die mit der schriftlichen Nachricht  meistens übereinstimmen sollten: Verliebtes, Niedliches, Satirisches, Sportliches. Aber auch Glück, Glaube, Hoffnung und Trauer wurden von Postkartensammlern „versandfähig“ dargestellt.

Um die Jahrhundertwende kam es in Mode, auf den bunten Sportmotiv-Karten nicht nur Grüße in gestochener Schreibschrift zu versenden. In feinen Kreisen traf man seine Golf-Verabredungen postalisch kurz in Stenographie. Damit wurde Unbefugten das Lesen erschwert, der Platz optimal für noch intimere Nachrichten genutzt – zum Beispiel die Aufforderung zu einen „Flight a deux“. Oder: Die Botschaft skurril verpackt – Postkartenmotive mit schwarzem Humor waren unter Gentlemen-Golfern durchaus in Mode. Die Auflagenhöhe der „Liebesgrüße à la carte“ überschritt Anfang des 20.Jahrhunderts die Millionenhöhe. Der Absatz der gemalten Köstlichkeiten war um so besser gesichert, als diese keineswegs nur verschickt sondern auch leidenschaftlich gesammelt wurden – eine gute Wertanlage. Bereits 1897 beschäftigten sich mehr als ein Dutzend hervorragender lithografischer Anstalten ausschließlich mit der Herstellung von Bildpostkarten.

e-mail:seanarnoldantiques@hotmail.co.uk
Shop: 23 High St. Aldershot GU11; 1BH, Vereinigtes Königreich

 

 

 

Die Frau, die König Ludwig I. die Krone kostete

Joseph Karl Stieler_-Lola Montez (gemeinfrei)

Vor 200 Jahren kam die „bayerische Pompadour“ zur Welt, die nicht aus Spanien kam, sondern aus Irland und eigentlich Elizabeth Rosanna Gilbert hieß

Lola Montez wird als „bayerische Pompadour“ bezeichnet. Dabei hat die Tänzerin auch gewisse Ähnlichkeit mit Mata Hari. Bei beiden war die Herkunft nicht so exotisch, wie sie behaupteten, sondern eher verwirrend. Bei beiden war der Tanz eher erotisch als künstlerisch. Beide hatten in ihren besten Jahren den Körper und die Ausstrahlung, die Männer um den Finger zu wickeln. Und beiden war ein Altern in Würde missgönnt.

Lola Montez kam ebenso wenig aus Spanien wie Mata Hari aus Indonesien. Vielmehr kam auch sie aus der nördlichen Hälfte Europas. Wie „Mata Hari“ war auch „Lola Montez“ ein Künstlername. Als Elizabeth Rosanna Gilbert kam die Tochter eines schottischen Offiziers und einer irischen Landadeligen vor 200 Jahren, am 17. Februar 1821, im nordwestirischen Grange zur Welt. Früh wurde sie Halbwaise. Nachdem die Familie 1822 nach Kalkutta umgezogen war, starb ihr Vater an der Cholera. Unterschiedliche Ersatzväter taten sich schwer mit ihr und schließlich landete sie in einem Internat. Nach der Schulausbildung sollte sie mit 16 Jahren eine Vernunftehe mit einem Richter eingehen. Um dem zu entgehen, brannte sie mit dem englischen Offizier Thomas James nach Irland durch. Dort heirateten die beiden und gingen dann nach Indien. Nach drei Jahren trennte sich das Paar allerdings wieder. Montez kehrte nach Europa zurück und nahm in London Schauspiel- und Tanzunterricht.

Nun gab sich die gebürtige Irin ihr spanisches Image. Sie ließ sich von einem spanischen Tanzlehrer unterrichten, lernte die spanische Sprache und spanische Tänze und beendete ihre Ausbildung mit einem Spanienaufenthalt. 1843 kam sie als die vorgebliche spanische Tänzerin aus Sevilla Maria de los Dolores Porrys y Montez oder kurz Lola Montez nach London zurück. Dabei kam ihr schließlich das Spanienfai­ble entgegen, das die 1847 erschienene Novelle „Carmen“ des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée auslöste.

Das Debüt in London verlief zwar erfolgreich, aber ihre wahre Identität wurde entdeckt und sie sah sich gezwungen zu fliehen. Es begann eine Flucht durch Europa voller Skandale. In Thüringen hatte sie eine Affäre mit dem Fürsten Reuß zu Lobenstein und Ebersdorf. In Berlin tanzte sie vor dem preußischen König und dem russischen Zaren. In Warschau löste sie Tumulte aus, indem sie sich mit den polnischen Separatisten solidarisierte. Franz Liszt begleitete sie nach Paris. Auch in der Seine-Metropole erregte sie Aufsehen. Dort kostete sie den Redakteur der dortigen Zeitung „Le Press“ Alexandre Dujarier das Leben, der in einem Duell erschossen wurde, das er um ihretwillen gefordert hatte.

Umtriebige Tänzerin

Nach dieser Affäre verließ Lola Montez 1845 Paris und landete schließlich 1846 in München. Da der Intendant der dortigen Hofbühne sie hatte abblitzen lassen, versuchte sie es am 7. Oktober direkt beim König. Angesichts ihres prallen Mieders soll dieser gefragt haben: „Natur oder Kunst?“ Statt zu antworten, soll sie mit einem Brieföffner ihr Mieder aufgeschnitten und damit dem dreieinhalb Jahrzehnte Älteren die Möglichkeit geboten haben, sich selbst ein Bild zu machen.

Das mag ein Gerücht sein. Fakt ist, dass Ludwig I. auf Lola Montez ähnlich begeistert reagierte wie sein Enkel und späterer Nachfolger Ludwig II. auf Richard Wagner, nur etwas weniger platonisch. Er ließ sie nicht nur in München auftreten, sondern beschenkte sie großzügig. Dazu gehörte ein Palais in München ebenso wie 158.084 Gulden. Das war mehr Geld als der Bau der Feldherrenhalle kostete.

Doch nicht nur mit materiellen Gütern, auch mit einem erblichen Adelstitel wollte Ludwig seine Geliebte versehen. Dafür bemühte er sich um die bayerische Staatsangehörigkeit für sie, das sogenannte Indigenat. Obwohl sie durch das von ihm erhaltene Palais Grundeigentümerin in München geworden war, verweigerte die Gemeinde jedoch die Gewährung des Heimatrechtes. Nun wollte Ludwig Lola Montez dieses Recht per Dekret verleihen. Dafür brauchte er aber die Zustimmung des Staatsrates, die dieser verweigerte. Das Ergebnis war eine Regierungskrise. An die Stelle des Ministeriums des ultramontanen, sprich erzkatholischen Staatsministers Karl von Abel, den Ludwig in besseren Tagen seinen „ersten Staatsmann“ genannt hatte, trat ein liberales sogenanntes Kabinett der Morgenröte, das sich weder der Einbürgerung noch der Erhebung von Lola Montez zur Gräfin von Landsfeld am 25. August 1847 in den Weg stellte.

Sicherlich spielten bei der Ablehnung Lola Montez’ Neid und Standesdünkel eine Rolle. Allerdings wusste sie auch zu provozieren. Bewusst verstieß sie gegen Konventionen. In Hosen zog sie Zigarren rauchend mit einer Reitpeitsche bewaffnet in Begleitung einer Dogge und einer Leibgarde durch die Haupt- und Residenzstadt. Die Leibgarde stellten Studenten des Corps Alemannia. Dabei handelte es sich um eine Abspaltung des Corps Palatia München. Die Spaltung der Münchner Studentenschaft zwischen den sogenannten Lolamannen vom Corps Alemannia und den anderen Corps führte schließlich zu Handgreiflichkeiten. Ludwig reagierte darauf, indem er am 9. Februar 1848 die Universität schloss und die Studenten Münchens verwies. Das Ergebnis waren bereits am folgenden Tag Proteste der Studenten, denen sich andere anschlossen, und Unruhen in der Stadt. Ludwig hatte den Bogen überspannt – und gab nun nach. Er öffnete die Universität wieder und ließ Lola Montez fallen – zumindest offiziell.

Per Kutsche trat Lola Montez am 11. Februar 1848 die Flucht Richtung Schweiz an. Sie blieb jedoch in Verbindung mit Ludwig. Im Folgemonat kam sie heimlich mit seinem Wissen nach München zurück. Das wurde jedoch publik, und unter dem Druck von Unruhen sah sich der König gezwungen, seine Liebe durch die Polizei verfolgen zu lassen. „Da war’s mir unausstehlich, länger auf dem Thron zu sein“, erklärte Ludwig am 20. März 1848 und dankte zugunsten seines Ältesten ab.

München blieb eine Episode

Nach ihrer rund eineinhalbjährigen Episode in München setzte Lola Montez ihre Wanderschaft als Tänzerin fort. Anfänglich konnte sie sich weiterhin der finanziellen Unterstützung Ludwigs erfreuen. Das änderte sich allerdings, als das Verhältnis abkühlte, weil Ludwig von Lola Montez’ Verhältnis mit dem Hochstapler Auguste Papon erfuhr. Gänzlich brach ihr bayerischer Gönner die Beziehung zu ihr ab, nachdem er davon erfahren hatte, dass sie nach ihrer Rückkehr nach London im Jahre 1849 den jungen britischen Offizier George Trafford Heald geheiratet hatte. Die Ehe kostete sie nicht nur die noch verbliebene Unterstützung Ludwigs, sondern brachte ihr auch den Vorwurf der Bigamie ein, da Thomas James noch lebte. Sie begab sich auf die Flucht. George Trafford Heald nahm sie mit.

Nach dem Scheitern ihrer Beziehung mit George Trafford Heald wechselte Lola Montez 1852 den Kontinent. In den USA spielte sie sich selbst in der Theaterrevue „Lola Montez in Bavaria“. Bis zum Frühjahr 1853 tourte sie an der Ostküste einschließlich Auftritten am Broadway. Im Mai des Jahres wechselte sie an die Westküste nach San Francisco. Im Juli 1853 heiratete sie den irischstämmigen amerikanischen Journalisten Patrick Hull, der allerdings noch im selben Jahr verstarb. Im August ließ sie sich in der kalifornischen Goldgräberstadt Grass Valley nieder.

1855/56 tourte sie durch Australien. In Victoria trat sie ebenso auf wie in der Goldgräberstadt Castlemaine, wo sie mit einer Vorstellung das Theatre Royal eröffnete. 1856 machte sie eine wenig beachtete Europatournee, von der sie im Folgejahr nach New York zurückkehrte. Das Tanzen fiel ihr zunehmend schwerer, und so verlegte sie sich auf das Vortragen und Verfassen von Texten. Ihre Bücher „The Arts of Beauty“ und „Anecdotes of Love“ entstanden.

Unter dem Einfluss des protestantischen Journalisten Charles Chauncey Burr entwickelte sich Lola Montez zur bekennenden Methodistin und engagierte sich für sogenannte gefallene Mädchen. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, hatte Ludwig sie doch zur Gräfin gemacht „wegen der vielen, den Armen Bayerns erzeigten Wohltaten“.

1860 erlitt sie einen Schlaganfall. Möglicherweise kam Syphilis hinzu. Nach einem Leben auf der Überholspur war die einst betörende Blüte früh gewelkt. Mit nicht einmal 40 Jahren starb Lola Montez am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung.

 

Dieser Artikel erschien bereits in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

Nostalgisch – Paternoster in der Hansestadt

In Hamburg gibt es noch zwölf Paternoster, die öffentlich zugänglich sind. Fotomontage: L. Hoffmann

„Zu zweit dürfen Sie den aber nicht benutzen“, sagt der zuständige Wachmann, als ein Paar in den Paternoster einsteigt. „Ich bin mit den Dingern aufgewachsen“, ruft ihm der Mann zu und schwebt mit seiner Begleitung nach oben.
`Benutzung nur für Eingewiesene´ steht auf dem Schild neben dem Paternoster im Hamburger Bezirksamt Eimsbüttel. Und dies ist durchaus ernst gemeint. Eine offizielle Anordnung von ganz oben, die es unter der Rubrik „Der reale Irrsinn“ sogar in die Fernsehsendung Extra3 schaffte.
Der erste Umlaufaufzug der Welt wurde 1876 in England entwickelt und im General Post Office in London zum Transport von Paketen eingesetzt. Später diente er auch der Personenbeförderung.
In Hamburg wurde der erste Paternoster 1886 im neu errichteten Dovenhof eingeweiht. Er blieb nicht der einzige. In den hafennahen Gebieten der Hansestadt entstanden in den Jahren darauf zahlreiche Geschäfts- und Kontorhäuser, die mit Umlaufaufzügen ausgestattet wurden.
Von den rund 30 noch erhaltenen Paternosteraufzügen in Hamburg sind heute nur zwölf öffentlich zugänglich. Zu finden sind diese unter anderem im Paulsenhaus am Neuen Wall, in der Finanzbehörde am Gänsemarkt und – wie bereits erwähnt – im Bezirksamt Eimsbüttel.
Mit dem historischen Umlaufaufzug können Sie endlos rauf und runter fahren. Aber denken Sie daran: Niemals zu zweit in eine Kabine steigen und Ihr Fahrrad bitte vor der Tür stehen lassen. Und wenn dann ein Wachmann auf Sie zukommt, seien Sie freundlich: Er möchte Sie lediglich vor der waghalsigen Fahrt mit dem Paternoster ordnungsgemäß einweisen. Ganz so, wie es der Vorschrift entspricht.

 

Willkommen zurück: Die Viermastbark PEKING

Der Viermaster PEKING vor der Elbphilharmonie

„Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn,
to my hoodah, to my hoodah!
De Masten so scheef as den Schipper sien Been.
to my hoodah, hooda, ho!
Blow, boys, blow for Californio …“

So schallte es von den Planken der CAP SAN DIEGO herüber und über Elbe und Hafen. An den Ufern, an Kaimauern, an der Überseebrücke drängten sich viele Tausend Schaulustige.

Was war los an diesem Nachmittag des 7. September 2020?

Der Großsegler im Fontänenvorhang

Na, das war doch nicht zu übersehen! Zwei Schlepper bugsierten einen Großsegler in den Hamburger Hafen. Nicht irgendein Segelschiff. Es war die PEKING. Der Stolz von einstmals neun Flying P-Linern der Reederei F. Laeisz. Nach ihrer Reise um die halbe Welt ist die PEKING nach 88 Jahren zurück nach Hamburg gekommen. Dorthin, wo sie 1911 auf der Werft Blohm + Voss vom Stapel gelaufen war.

Dazwischen liegt bewegende Seegeschichte: 1914 wurde der Frachtensegler in Chile an die Kette gelegt. 1918 kam er nach London. Dann, 1921 nach Italien und wurde schließlich 1923 von Laeisz wieder erworben, um auf der Hamburg – Chile – Route hauptsächlich Salpeter zu befördern. Salpeter, der der Stadt mit dem Reeder wirtschaftlichen Aufschwung bereitete.

Gebührender Empfang

Also Grund genug, den Veermaster, die einst so bedeutende und seinerzeit schnellste Bark PEKING gebührend zu empfangen!Barkassen, Jachten, ein Pulk von Traditionsschiffen, wie die SCHAARHÖRN oder TOLKIN und viele andere mehr, begleiteten die Attraktion in den Hafen. Auf der MS HAMBURG waren wir dabei. Und an den Ufern  staunten die Enthusiasten. Mathias Kahl, Vorsitzender des Vereins „Freunde der Viermastbark PEKING e. V.“ hatte die Begleitfahrt organisiert und mit anderen Hamburgern für das Tall Ship gekämpft. Es lag nämlich rund 20 Jahre als Museumsschiff in New York am East River, gleich neben der Brooklyn Bridge, wo es wegen Geldmangel allmählich verfiel. Nach langjährigen und zähen Verhandlungen wurde die PEKING vor der Verschrottung gerettet, dann per Dockschiff 2017 zur Peters Werft verbracht, wo sie in  Wewelsfleth an der Stör von Grund auf liebevoll und detailgetreu restauriert wurde. Ein finanzieller und technischer Kraftakt, der drei Jahre dauerte.

Gemälde von Angelika Kahl

„Hat ‚nen Haufen Geld gekostet“, meinte Kapitän i. R., Heinz Hinrichsen, „aber, verdammt noch mal, der Aufwand hat sich gelohnt. Die PEKING wird ein weiteres Wahrzeichen der Hansestadt!“
Mathias Kahl blickte versonnen hinüber zum Viermaster: „Es ist ein großes emotionales Gefühl, das Schiff wieder in Hamburg zu haben!“ Für ihn ist die Rückkehr besonders eindrucksvoll, weil sein Vater Ende der 1920er Jahre auf der PEKING zur See fuhr.

Kap Hoorn – Ruhe vor dem Sturm

Laut dröhnten die Typhone, Schiffshupen, zum Empfang. Löschschiffe schossen Wasserfontänen in den Himmel. Die Sonne lugte jetzt aus Haufenwolken – und durch Regenbogen und Wasservorhängen schob sich die PEKING ihrem Liegeplatz entgegen. Nicht nur Wasserratten, Teernacken und Salzbuckel wurden da von ganz starken Gefühlen übermannt. Nun mal ehrlich, mir ging es auch so. Vierunddreißig mal hatte der Großsegler Kap Hoorn umrundet. Wie es unten vor der Südspitze Südamerikas zu geht, kann nur jemand beurteilen, der „Kap Hoorn rund“ jäh gemacht hat. Ich hatte das „Vergnügen“ 1997 auf dem Dreimast-Vollschiff  KHERSONES die Hoorn zu umrunden – ein bleibendes Erlebnis!

„Tscha,“ sagte der alte Kaptain und schob die Mütze aus der Stirn, „dieser P-Liner war schon was Besonderes: Unter vollem Zeug brachte er es auf 17 Knoten, also 31 Kilometer pro Stunde, damit war er schneller als die damaligen Dampfschiffe von denen sich keines um die Hoorn wagte. Die Länge der PEKING über alles beträgt 115 Meter, die Breite 14,40 Meter, ihr Tiefgang ist 7,24 Meter. Sie besaß 34 Segel mit einer Fläche von 4100 Quadratmetern. Die Masthöhe über Kiel bringt 62 Meter. Vier Kilometer stehendes Gut, das sind die Stahlseile, befinden sich auf dem Schiff. Die Baukosten betrugen 680 000 Goldmark, umgerechnet wären das 3,8 Millionen Euro. Und befahren wurde der Großsegler mit 31 Mann und 43 Offiziersanwärtern.“

„Und wie ging’s mit der PEKING in den 1930er Jahren weiter?“ wollte ich wissen.

„Sie wurde 1932 nach England verkauft, wo sie mit dem Namen ARETHUSA als stationäres Schulschiff für Kadetten vor Anker ging. 1997 verhökerte man sie, wieder als PEKING an die USA. Wo sie dann in New York regelrecht vergammelte. – Kein Wunder, die Amis hatten keine Beziehung zu dem Schiff. Nie hatte die PEKING den Hafen angelaufen.“

Nun zogen wir im mords Geschwader am Michel vorbei und stießen vor die Elphie, deren Fassade in der Sonne wie geputztes Silber glänzte.

„Von den einst neun Flying P-Linern gibt’s nur noch vier“, erklärte Hinrichsen,“ die PASSAT als Museumsschiff in Travemünde, die POMMERN auf Aland in Finnland, und die PADUA. Mit dem Namen KRUZENSHTERN pflügt die PADUA noch als einzige unter Segeln den blauen Acker. Und zwar als russisches Schulschiff.“

„Die PAMIR ist ja im Orkan 1957 in einem Hurrikan, der südwestlich der Azoren tobte, gesunken,“ ergänzte ich.

„Genau. – Und die PEKING wird nun in den Hansahafen, an den Bremer Kai verholt. Besucher können sie ab Sommer 2021 besichtigen. Ihren endgültigen Liegeplatz im Hafenbecken des Kleinen Grasbrook bekommt sie erst später, wo sie dann auch der „Stiftung Historische Museen Hamburg (SHMH) offiziell übergeben wird.“

„Wird die Bark jemals wieder in See stechen?“

„Nee, nee, das ist vorbei. Zwar fehlen ihr nur die Segel und die Gordinge. Schon könnte sie auf Fahrt gehen. Doch der Aufwand wäre immens, die Sicherheitsbestimmungen extrem hoch und irre teuer. Schade, aber so ist das man mit all den ollen, schönen Pötten!“

Die PEKING wurde gerade weiter in Richtung Hansahafen geschleppt, nur noch ihre gewaltig hohen Masten waren zu sehen. Die Begrüßungshörner verstummten, Wasserfontänen erloschen und vom Capstan Shanty „De Hamborger Veermaster“ war nichts mehr zu hören. Durchdrungen von melancholischen Gefühlen aus der Zeit der großen Windjammer verließen wir unser Begleitschiff MS HAMBURG in der Gewissheit, Hamburg hat sie wieder, die PEKING.

Dreizehn Kilometer Poesie

Foto: Martin Lowsky

Eine Wanderung auf dem Klaus-Groth-Weg
Spätestens seit dem Gottesdienst zur Beerdigung von Helmut Schmidt ist nicht nur Hamburgern der Name Klaus Groth geläufig. Hatte doch Schmidt selbst verfügt, man möge die Vertonung von Groths plattdeutschem Gedicht „Min Jehann“ im Michel singen.

Groths bekanntestes Gedicht ist jedoch wohl die kurze Ballade von „Lütt Matten de Has“, in der der böse Fuchs den gutgläubigen Hasen verspeist. Weitgehend unbekannt jedoch ist Groths Prosawerk „Min Jungsparadies“, in dem er Kindheits- und Jugenderinnerungen aus dem kleinen Dithmarscher Ort Tellingstedt beschreibt. Nach wie vor berühren diese Aufzeichnungen vom Glück und Leid des Erwachsenwerdens den Leser und lassen ihn an eigene Erfahrungen zurückdenken.

Groth ist in jungen Jahren häufig vom Elternhaus in Heide zu Fuß nach Tellingstedt gewandert, um dort Onkel und Tante zu besuchen und jugendliche Freiheit zu genießen.

Tellingsted weer wit nog, dat man nich jüs mit sin Botterbrot inne Hand sik hineten kunn doch weert ok nich so wit, dat nich en Jung mit sin egen Been un Handstock, as de Tellingsteder sän, dar hin harrn much, wenn´t ok en Reis weer vun enige Stunn.

Diesen mittlerweile gut ausgeschilderten Klaus-Groth-Wanderweg kann man nun selbst nachgehen, auf den Spuren des großen Dithmarscher Dichters. An einigen Tagen im Jahr wird eine geführte Wanderung angeboten. So auch am 28. Juli 2020. Einheimische, Touristen, drei zugereiste Hamburger und ein Hund fanden sich am Startpunkt in Süderholm ein. Es herrschte allerbestes Wanderwetter, Sonne und Wind, weißblauer Himmel (wie bei uns zuhause, merkte ein bayrisches Ehepaar an).

Nach einer kurzen Einführung in die Biografie Groths und der beruhigenden Auskunft, dass es nicht darum gehe, möglichst schnell möglichst viel Strecke zu machen, sondern den Zweiklang von Landschaft und Poesie zu genießen, ging es los.

Der Weg führt durch Wald, Moore und Wiesen und bietet immer wieder weite Ausblicke in die unaufgeregte Dithmarscher Landschaft. Gerade für großstadtgeplagte Hamburger eine Erholung für die Seele. Der ortskundige Führer machte während der gut dreistündigen Wanderung immer wieder auf landschaftliche und historische Besonderheiten aufmerksam und rezitierte Texte von Groth. So bekamen die Teilnehmer das Gefühl, ganz dicht auf den Spuren eines Dichters zu wandeln.

Am Endpunkt, in Tellingstedt, wurde eingekehrt. Döner, Pizza und Eis brachten die müden Wanderer, zwei ausgezeichnete Würstchen den Hund wieder in Form. Und an allen Tischen fiel der Satz: Nächstes Jahr bin ich wieder mit dabei.

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Eine hochdeutsche Übersetzung vom „Jungsparadies“ erscheint demnächst  im elbaol verlag hamburg.

Auskunft über die nächste geführte Wanderung im September erteilt die Touristinformation Heide

Am Anfang stand ein Football-Spiel

Foto: JeppeSmedNielsen auf Pixabay

Bei einem Football-Spiel im Herbst des Jahres 1891 lernten sich der vor 150 Jahren, am 23. Januar 1870, in Lockport, New York, geborene William G. Morgan und der gut acht Jahre ältere James Naismith kennen.

Naismith, damals Assistenztrainer der Football-Mannschaft der International YMCA Training School, dem heutigen Springfield College, schlug dem großen, starken, sportlichen damals 21-jährigen Sohn eines Bootsbauers vor, von der Mount Hermon School in Northfield an die ebenfalls in Massachusetts beheimatete sportpädagogische Ausbildungsstätte der Young Men’s Christian Association (YMCA), in Deutschland besser bekannt als Christlicher Verein Junger Menschen (CVJM), zu wechseln. Morgan folgte dem Rat 1892 und lernte dort das von Naismith 1891 erfundene Basketball intensiv kennen.

Nach seiner Ausbildung arbeitete Morgan ab 1894 als Physical Director für den YMCA. In Holyoke im Hampden County, Massachusetts, hatte er es mit relativ vielen weniger robusten, unsportlicheren oder schon etwas älteren Menschen zu tun und suchte nach einer sanften Alternative zu Naismiths Basketball für diese Klientel. Er selber formulierte es wie folgt: „Basketball schien für jüngere Männer geeignet, aber es gab das Bedürfnis nach etwas für die älteren, das nicht so rau und anstrengend war. Ich dachte an Tennis, aber da brauchte man Schläger, Bälle, ein Netz und weitere Ausrüstung.“ Morgan mischte Tennis und Basketball mit American Handball, Badminton, Federfußball und Faustball. Heraus kam Volleyball.

Im Gegensatz zum Tennis kommt dieser Sport nicht nur ohne Schläger aus, sondern braucht auch vergleichsweise wenig Fläche pro Spieler. Dieses gilt insbesondere für die Urfassung, in der die Größe der beiden Mannschaften nicht festgelegt war. An die Stelle der Tennisbälle ist der spezifische Volleyball getreten, eine Neuentwicklung, die sich vom Basketball insbesondere durch ihr geringeres Gewicht unterscheidet.

Das 1895 entwickelte Spiel wurde im Folgejahr der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf einer Versammlung der sportlichen Leiter der YMCA in Springfield konnte Morgan seine Erfindung Multiplikatoren am 7. Juli 1896 präsentieren. Die Zeitschrift „Physical Education“ informierte ihrer Leser über das neue Spiel in ihrer entsprechenden Monatsausgabe.

Es begann ein Siegeszug dieses schönen Spiels um die Welt, den Morgan nur noch teilweise erlebte. Er starb am 27. Dezember 1942 in seinem Geburtsort.

Kampfplatz Stadtpark

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Im Juni waren Ritterspiele angesagt: König Artus in Mitten seiner Tafelrunde. Zumindest Prinz Eisenherz wollte jeder sein. Vorher wurde Cowboy und Indianer gespielt. Meist kämpften dann General Custer gegen Sitting Bull. Im April war „Kippel Kappel“ dran, dabei wurden regelmäßig mehrere Fensterscheiben in der Neuen Wöhr und dem Albers-Schönberg-Weg zerschlagen. Eigentlich gingen gar nicht so viele Scheiben drauf, weil die meisten Straßen Barmbeks mit Ruinen umsäumt wurden.

Ruinen waren der spannendste Spielplatz. Ein Spielplatz, den uns Eltern und Lehrer der Schule Fraenkelstraße fast täglich aufs Neue verboten haben. Natürlich hielten wir uns nicht an die Mahnung. Doch zur Not hatten wir immerhin noch den Stadtpark, um uns auszutoben. Wir, das war eine Gang von 15 „Blutsbrüdern“, was den eingeschworenen Haufen nicht hinderte, sich bisweilen auch mal untereinander ordentlich zu zoffen. Die Gang stammte aus meiner Straße, dem Albers-Schönberg-Weg, der Neuen Wöhr und „harten Jungs“ aus den Nissenhütten und Baracken um den Theodor-Rumpel-Weg.

Hamburg Barmbek und Umgebung in Trümmern (Archiv: Cropp)

Wir Jungs aus dem erhaltenen viergeschossigen Block bewunderten die Barackler. Sie waren stärker, hart im Nehmen, schneller, hatten die besten Spielideen. Wären sie nicht in unserer Gang gewesen, wir hätten  die Straßenschlacht neulich gegen die Dennerstraße glatt verloren. Addi und sein kleiner Bruder Rolf kämpften, wie die meisten Barackler, barfuß, mit Pfeil und Bogen, und Katapulten, die besser und weiter schossen als unsere. Sie luden die Schleudern gleich mit Steinen, während wir mit Erbsen schossen. Als Karl, dem Anführer der Dennerstraße, ein Auge ausgeschossen wurde, mischte sich die Polizei ein. Aber wir hatten gewonnen und zogen wie Helden durch die Gassen, respektiert und geachtet. Weder auf dem Schulhof noch auf den abendlich-dunklen Straßen trauten sich gegnerische Jungs uns anzugreifen.

In Barmbek herrschte im Juni 1951 gespenstische Ruhe. Unsere Gang suchte das Abenteuer mal wieder in den Trümmern. Dort machten die Barackler die tiefsten und geheimnisvollsten Verstecke aus … Als Georg, mein rechter Banknachbar in der 5 B, wegblieb und am nächsten Tag Paul, machten uns die Spiele in den Ruinen doch Angst. Georg und Paul waren unter den Trümmern begraben worden. Mein bester Freund Paul, mit dem ich nach der Schule am Stadtparksee Ringkämpfe austrug, weil wir das stärkste Team sein wollten, war jetzt tot! 

Ein toller Spielplatz!
Stadtpark in der Rhododendronblüte (Foto: Cropp)

Addi bestimmte, die Ritterspiele zu verlegen. Und zwar in den Stadtpark. Dorthin, wo die Rhododendren am dichtesten standen. Ich war, zwar in Hamburg geboren, erst vor einem Jahr mit meinen Eltern aus Wenzendorf vom Land in die Stadt gezogen. In unserem Dorf gab ich bei den Jungs den Ton an, und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Addi uns herumkommandierte, auch wenn er der Boss war. Alle folgten ihm. Missmutig trottete ich mit. Bewaffnet mit Schildern aus Türblättern oder breiten Dachlatten und Schwertern, spitz und scharf geschnitzte Besenstiele, im Hosenbund Holzdolche, so zogen wir die Alte Wöhr hinunter, am S-Bahnhof  Stadtpark vorbei, zum Park. Erwachsene schüttelten entgeistert die Köpfe. Was heckten die Gassenjungs Barmbeks denn da schon wieder aus?

Blick auf das Planetarium, Stadtpark Hamburg (Foto: Cropp)

An der Saalandstraße begann der Stadtpark. Unweit davon, am Wasserturm (dem heutigen Planetarium), standen die großen, dichten Rhododendren in prächtiger Blüte, weiß und rot. Vor dem Blätterwald machten wir halt, schauten uns verstohlen um. Auf ein Zeichen von Addi schlüpften wir ins Dickicht wie Füchse in den Hühnerstall. Der Rhododendrenwald umschloss uns wie ein mächtiger, schummrig-grüner Dom. Natürlich war es verboten in den Rhododendren herumzutoben. Doch wir wollten nicht toben, wir wollten als König Artus Ritter die Feinde aus Thule verjagen. Jetzt musste ich Addi Recht geben, in den Rhodos des Stadtparks konnte man Thule am besten verteidigen! Erst einmal schwärmten wir aus und erkundeten zwei geeignete Bäume. Einen als Burg Camelot für die Ritter um Artus und Prinz Eisenherz. Einen als Lager für die Feinde. Ein Rhodobaum mit oberschenkeldicken Stämmen, in tief roter Blüte, wurde die Burg König Artus. Addi ließ zwischen die Äste eine Wolldecke spannen und hockte sich auf seinen Helm, einen weißen Nachttopf, den er seinem jüngsten Bruder weggenommen hatte.

„Hoffentlich ist euer Lager bald fertig!“ rief er in meine Richtung. Ärgerlich schaute ich zu ihm rüber, wie er da unter dem Baldachin saß und sich wie ein King aufführte, sich wahrscheinlich irre mächtig fühlte. Addi hatte sich mir nichts dir nichts zu König Artus erklärt, und mich mit sieben Jungs zu den bösen Hunnen. Das brachte mich auf die Palme!

 Auf in den Kampf

„Los, lasst uns diesen Busch als Lager nehmen, dann greifen wir an und schmeißen die Ritter aus der Burg“, machte ich meinen Freunden Mut. Der Rhodostrauch war etwas schüttern, und die mitgebrachte Pappe nur notdürftig als Dach zu befestigen. Als Feldlager der Hunnen, die anzugreifen hatten, reichte es allemal. Addis Ritter, immerhin acht „Recken“, hatten leichtsinnigerweise ihre Waffen abgelegt und sich zur Beratung um Artus geschart, als wir mit wildem Geheul aus dem Gestrüpp brachen und über die Gegner herfielen. Im Kampfgetümmel versuchten wir die Ritter umzuwerfen und mit dem Schwert auf die Brust gedrückt, in Schach zu halten. Bei Vieren gelang das auch. Sie lagen auf dem Rücken, wie umgeworfene Suppenschildkröten und jammerten. Addi hatte jetzt den Pisspott auf dem Kopf, Schwert und Schild am Körper und drosch wie ein Berserker auf zwei meiner Angreifer ein. 

Wenn Rhododendren weinen

Besenstiele krachten gegeneinander und barsten. Derbe Stöße wurden mit den Schildern abgewehrt. Schläge und Stöße prasselten schmerzhaft auf Arme und Oberkörper. Addi wurde der Helm weggeschlagen. Gerade bekam er einen Hieb auf den Kopf. Wir waren mitten im Schlachtengetümmel und es machte einen mords Spaß. Rechs und links flogen Blüten und kleine Äste durch die Luft. Dicke Äste knackten, wenn einer dagegen flog. Zartere Rhodos sahen bald aus wie gerupftes Federvieh. Einige der eben noch kampfunfähig liegenden Ritter hatten sich befreien können, aufgerappelt und warfen sich brüllend und fechtend auf meine kleine Horde wilder „Hunnen“. Besenstiele knallten gegeneinander, und es klang wie das „Singende Schwert“ von Prinz Eisenherz, der drei Gegner gleichzeitig abwehrte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Burg jetzt unbewacht war. Ich rief: „Peter!“ und zeigte nach rechts. Er kapierte sofort. Wir stürmten zur Burg, unter den Baldachin. Damit war die Tafelrunde eingenommen worden. „Gewonnen!“ stießen wir aus. Addi ließ vom Gegner Werner ab, und schlug zerknirscht einige Zweige nieder. Mit unserer so plötzlichen Einnahme hatte er nicht gerechnet. Keinesfalls wollte er sich geschlagen geben. „Revanche!“ keuchte er, „ihr müsst uns noch mal angreifen.“ „Nee, Addi, jetzt sind wir die Ritter. Ihr greift an,“ widersprach ich. „Was willst du? In die Burg? Ich bleibe König Arthus, klar!“ „Du bist und bleibst `n Arschloch!“ brüllte ich zurück. In aller Ruhe legte Addi jetzt Schwert und Schild aus der Hand und kam auf mich zu, cool wie Garry Cooper in High Noon. Den Film hatten wir uns erst gestern im Gloria Palast angesehen. Hernach fühlte sich jeder wie ein als Ritter verkleideter Revolverheld.

 Kräftemessen

Addis Augen waren kleine Schlitze und kalt wie die einer Otter. „Was bin ich?“ zischte er. Er war zwar nur wenig größer als ich, aber ein erprobter Schläger, der nicht lange fackelte. Seine Position in der Gang hatte er sich erkämpfen müssen. Der Knabe kannte n’e Menge Tricks. Klar, er durfte alle Comics lesen, die da so im Umlauf waren. Schundhefte, Tarzan, Tom Prox, Akim und viele mehr, die mir meine Eltern regelmäßig wegnahmen. Sie würden verderben, hieß es. Addi war die Lektüre ein theoretisches Rüstzeug, ein „Schatz“, der mir bitter fehlte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihm mein Schwert gegen die Brust zu stechen und den Schild auf den Kopf zu dreschen. Unfair, aber wirkungsvoll. Doch dann merkte ich: an diesem Nachmittag, im grünen Blätterwald der Rhododendren des Hamburger Stadtparks ging es um mehr, als ums Kräftemessen. Da bot sich eine Chance, an die Spitze zu gelangen. Den Angeber Addi Weiß ins zweite Glied zu klopfen. Und das musste auf faire Weise geschehen. Zumal seine beiden „Leibburschen“ sich sofort auf mich stürzen würden. Ich war allein. Mein Freund Paul in den ewigen Jagdgründen, und die anderen hatten, wenn es um den Boss ging, sowieso die Hosen voll.
„Sag’ das noch mal, Würstchen!“ drohte er jetzt dicht vor mir. „Affenarsch!“
Meine Größe und Statur sind nicht gerade furchteinflößend. Allein schnelles Handeln und rasches Zuschlagen hatten dem anfangs als dämlich eingestuften Dorfjungen einen respektablen Platz im oberen Drittel in der Hierarchie der Barmbeker Straßengang verschafft. Diese Position galt es in jedem Fall zu verteidigen! Ich ballte meine Fäuste, spannte die Muskeln, zielte auf sein Kinn. Da spürte ich seinen rechten Fuß hinter meinen Beinen. Ein kurzer, harter Stoß, ich lag auf dem Boden. Als ich mich aufrappelte, spürte ich einen schmerzhaften Schlag auf der Nase. Blut tropfte auf meinen neuen Pullover. Augen tränten. Ich hangelte mich an einem Rhodostamm nach oben und bekam einen zweiten Schlag aufs rechte Auge. Damit war ich außer Gefecht.

„Die Hunnen greifen wieder an – klar! Der Wolf kann  als Verwunderter im Lager rumliegen!“ höhnte Addi triumphierend. Ich kroch in unser Feldlager und versuchte die blutende Nase zu stillen. Schon tobten zwischen Büschen und Bäumen die Verteidigungs- und Eroberungskämpfe in aller Heftigkeit. Blüten flogen umher wie Daunen aus einer aufgerissenen Bettdecke von Frau Holle.

Ordnungshüter

Plötzlich rief jemand: „Uddels!“
Im Nu war der Kampfplatz verwaist. Ein Polizist rannte Addi hinterher – ergebnislos. Dabei flog ihm der Tschako vom Schädel. Ein anderer baute sich über mir auf. „Na Bürschchen, dich nehmen wir jetzt mal mit auf die Wache!“ Werner krabbelte aus seinem Buschversteck und stellte sich zu mir. Wenigstens einer, der mir beistand.
„Ah, da haben wir ja noch einen Übeltäter!“ Im nächsten Moment wurde Werner am Kragen gepackt und festgehalten. Der Schupo, der Addi nicht fassen konnte, packte nun mich am Schlafittchen und stellte mich auf die Beine. Dass meine Nase heftig blutete, kümmerte den Polizisten nicht, lediglich, dass seine feine, dunkelblaue Uniform durch Blut verfleckt wurde, machte ihn wütend, und so zerrte er mich barsch aus den Rhododendren, die Alte Wöhr hinauf. Werner, ebenfalls im festen Polizeigriff, trabte ergeben vor mir her.

Auf der Wache gab`s n’e  ordentliche Standpauke vom Revierleiter, der schließlich auch unsere Namen und Adressen erfragte, was mir überhaupt nicht gefiel, da ich mir die Reaktion der Eltern verdammt gut ausmalen konnte. Nach einer Stunde hörten wir bekannte Stimmen. Werners und mein Vater waren, wie verabredet, eingetroffen, um uns in Empfang zu nehmen. Als wir aus dem Nebenraum, oder war es schon die Zelle? geführt wurden, lasteten böse Blicke auf uns. „Hier haben Sie Ihre Früchtchen!“ meinte der Revierleiter, „und passen Sie künftig besser auf sie auf. Die Rechnung über die zerstörten Rhododendren bekommen Sie von der Stadtparkverwaltung.“ Vater verabreichte mir eine deftige Ohrfeige. Das gefiel den Uddels, als erste erzieherische Maßnahme. Ob Werner auch eine einfing, weiß ich nicht. Er wurde gleich zum Ausgang gezerrt.

Ob die Eltern wirklich eine Rechnung von der Parkverwaltung bekommen haben und wenn, wie hoch diese ausfiel? Ich habe es auch nie erfahren. War mir auch wurscht. Schlimm war, dass ich 14 Tage Hausarrest bekam. Der einzige Trost daran war, dass mein blaues Auge kaum beachtet, abklingen konnte. Mit dem musste ich mich zwar in der Schule zeigen, Gott sei Dank aber nicht bei meiner Gang. Addi hätte mich damit mächtig aufgezogen.

 

Mit „Kampfplatz Stadtpark“ erinnert sich der Autor an seine spannende, aber bisweilen auch raue Kindheit (zehnjährig) nach dem Krieg in Barmbek, am östlichen Rand des Hamburger Stadtparks.

 

Mauer, Marsch und Mauerfall

Berlin, 21. und 22. August 1988
Die Berliner Mauer wurde gestürmt.

Ich war mit dem PKW von Hamburg aus durch die DDR nach Berlin unterwegs. Die Stimmung war düster, wie der regenverhangene Nachmittag an diesem Augusttag. Oder kam es mir nur so vor? Weil mir alles grau in grau erschien? Weil mich muffige Grenzer filzten wie einen ertappten Drogendealer: Spiegel unters Auto schoben, Sitze umklappten, den Kofferraum leerten und wieder beladen ließen. Als eine alte Bild-Zeitung, es handelte sich um Einwickelpapier, entdeckt wurde, kam es zu einem zwanzigminütigen Verhör … dann schließlich, drückte man doch einen Stempel in den Reisepass und ließ, nach Bezahlung der Einreisegebühren, passieren. Das zerknüllte Zeitungspapier wurde konfisziert. 

Vor West-Berlin stoppte mich die Vopo wegen zu schnellen Fahrens … und kassierte DM. Ich war mir keiner Schuld bewusst. In Charlottenburg wollte ich eine Schulfreundin besuchen. Sabine Seeland, die als Journalistin bei RIAS Berlin arbeitete. So ganz ohne verwandtschaftliche noch sonstige Beziehungen zum östlichen Teil Deutschland war ich gespannt, was Sabine mir an der Mauer über die Grenze zu berichten hätte. Ich gebe zu: Informationen, die längst überfällig waren! Ich übernachtete in einem gemütlichen Hotel am Kurfürstendamm. Genoss zuvor noch etwas Nachtleben im Bei Mo.

Bild von Armin Forster auf Pixabay

Pünktlich um 10 Uhr traf ich Sabine an der Holzplattform am Brandenburger Tor. Einst hatte die Westberliner Polizei die Aussichtstürme zur Beobachtung errichten lassen. Seit Jahren nun schon wurden sie von Touristen besucht, die auch mal einen Blick in den verschlossenen Teil der Stadt werfen wollten. Wir stiegen die Treppe empor und schauten über die Betonmauer. „Heute ist der 22. August,“ bemerkte Sabine, „genau vor 27 Jahren sprang eine Frau Ida Siekmann um 6.50 Uhr in den Tod. Sie war das erste Opfer der Berliner Mauer.“ „Und wie kam es dazu?“ fragte ich, der noch nie etwas von Frau Siekmann gehört hatte. Sabine: „Anderthalb Wochen zuvor hatte die DDR mit Zustimmung der Sowjetunion mit dem Bau begonnen. Die Berliner Grenzbefestigung war das letzte, offene Teilstück der 1378 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Die 58-jährige Ida Siekmann wohnte im dritten Stock eines Grenzhauses an der Bernauer Straße. Die alleinstehende Frau erkannte den Ernst der Situation als die Haustüre zum im Westen gelegenen Bürgersteig verbarrikadiert wurde. In aller Eile warf sie ein paar Habseligkeiten aus dem Fenster und sprang hinterher … schlug auf der Straße so schwer auf, dass sie auf der Fahrt ins Krankenhaus starb.“
„Schrecklich! Weiß man wie viele Menschen an der Mauer den Tod fanden?“ „Vom Bau bis jetzt sind an der DDR-Grenze rund 800 Menschen umgekommen. Allein an der Berliner Mauer sollen es 140 sein.“

Auf der Plattform drängten sich mittlerweile die Interessenten. Oder waren es nur Schaulustige? Es entstand Gedränge. Ich reckte den Hals: Sah einen breiten Grünstreifen, einen geharkten Sandanschnitt, zu Böcken aufgestellte Doppel-T-Träger. Schäferhunde kläfften, Wachsoldaten mit geschulterten Gewehren und weiter im Süden musste sich ein Wachturm befinden. 

„Unbegreiflich, wie sich ein Volk unterschiedlicher Gesellschaftssysteme so zu trennen vermag!“ Sabine meinte: „Die Schließung der Sektorengrenze sollte Flüchtlingsströme stoppen. Innerhalb von zwölf Jahren hatten fast drei Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen.“ „Was der Eiserne Vorhang verhindern soll.“ „Bis auf Ausnahmen auch verhindert hat. Schau dir das nahezu perfekte System der Trennung an: Die Betonmauer ist vier Meter hoch. Entlang der Oberkante verläuft eine 50 Zentimeter dicke Betonröhre. Die Konstruktion wurde 1965 von Armeesportlern getestet. Keinem gelang die Überwindung. Der breite Kontrollstreifen wird stets sorgfältig geglättet, damit Fußspuren sofort erkennbar sind. Und die doppelreihigen Stahlböcke sind Panzersperren. Es gibt elf unterschiedliche Hinderniszonen. Dazu gehört beispielsweise ein ‚Teppich‘ aus 14 Zentimeter langen Eisenspießen. Im DDR-Jargon ‚Spargelbeet‘, im Westen ‚Stalinrasen‘ genannt.“  

Sabine wies nach Norden und fuhr fort: “Auf dem nächsten Korridor da drüben patrouillieren Soldaten zu Fuß oder im Jeep. An vielen Abschnitten wachen zusätzlich scharf abgerichtete Hunde. Dann wurden in unterschiedlichen Höhen Stolperdrähte gespannt, die bei Berührung Leuchtpatronen auslösen. Über allem wachen schießbereite Wachsoldaten mit Ferngläsern vor den Augen, oben auf den Beobachtungstürmen. – Kann ein Käfig hermetischer abgeriegelt werden?“ 

„Was weißt du über die Fluchttunnel?“ „Davon gibt’s einige. Doch nach und nach wurden sie alle entdeckt und geschlossen. Fast 80 000 Fluchtwillige nahm der Staat bereits bei der Planung oder auf dem Weg zur Flucht fest, was Verhöre, Folter, und um die drei Jahre Zuchthaus zur Folge hat.“ „Was meist du, hat die DDR Bestand?“ fragte ich. Sabine dachte einen Moment nach und antwortete: „Nur so lange Moskau seine schützende Hand über den Vasallenstaat hält.“

Ein letzter Blick über das absurde Stück Berlin, dann stiegen wir von der Plattform. Schweigend gingen wir die Straße des 17. Juni hinunter in Richtung Tiergarten. Mich bewegten die Fragen: Wie lange lassen sich Menschen einsperren, der Freiheit berauben, ein Volk wie  lange trennen? Kann es je eine Wiedervereinigung geben? Wenn ja, wie wird sie sich gestalten? Friedlich, blutig?

Magdeburg, Ende Oktober 1989

Nur etwas über ein Jahr später: Glasnost und Perestroika hingen in der Luft. Michail Gorbatschow ließ verlauten: „Ich glaube, die Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Der Volksmund hatte daraus: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ gemacht.  Ich war gerade mit besonderen Erlebnissen aus Magdeburg zurückgekommen. Hatte mit Kombinats-Generaldirektoren und Parteifunktionären gesprochen. Ahnte man Veränderungen? Vorboten einer Zeitenwende großen Ausmaßes? 

Schon an der Grenze erlebte ich DDR-Grenzer mit menschlich-freundlichen Zügen. Durchsuchungen gab es nicht. Nach dem Einreisestempel wurde „gute Weiterfahrt“ gewünscht. Leuchteten da am Horizont Vorboten eines Wandels?

Mit neugieriger Zurückhaltung hatte mich Dr. Ing. Tensfeldt, Direktor eines VEB Planungsbüros mit der Frage empfangen, wie könne man sich eine Zusammenarbeit vorstellen? Was gäbe es  zu beachten bei einer Ausrichtung hin zum Kapitalismus? Der Parteifunktionär, vielleicht war es auch ein Stasi-Offizier, hatte gerade mal den Raum verlassen.

Ich spürte das aufrichtige Interesse, sah aber auch die ungeheuren Hindernisse für eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen. Nach stundenlangen Diskussionen über die Unterschiede zwischen Plan- und Konkurrenzwirtschaft, die nun mal in der Marktwirtschaft des Westens herrscht und vom Sozialismus als unbarmherzige Härte empfunden wird, verabredete ich mich mit dem Hauptbuchhalter Josef Klein am späten Nachmittag im Magdeburger Dom zu einer Kundgebung. Ich spürte Kleins Drang zur Freiheit. Er fühlte sich wie auf einem sinkenden Schiff. Sprach frei über die hoffnungslose Wirtschaftslage der DDR. Die total überalterte Industrie, maroden Verhältnisse wohin man schaute. Klein war Parteimitglied mit besten Verbindungen zur politischen Führung. Kannte er womöglich das Schürer-Gutachten, das Egon Krenz unter strengster Geheimhaltung anfertigen ließ und am 30. Oktober 1989 dem Politbüro vorgelegt hatte? Darin wurde bereits auf die Überschuldung und der faktischen Zahlungsunfähigkeit des Staates hingewiesen.

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Im Dom herrschte drangvolle Enge. Immer mehr Menschen quollen ins Kirchenschiff. Alte, Junge, Frauen, Männer, Greise und Kinder. Mütter versuchten Babys in Kinderwagen hineinzuschieben. Am Altar hielt ein Pfarrer eine flammende Rede über die Fackeln der Freiheit, die es galt endlich zu entzünden, um sie als Banner vorweg zu tragen. Endlich sei die Stunde der Selbstbestimmung gekommen.

Rechts und links bauten sich Volkspolizisten auf, die die Massenansammlung kritisch beobachteten. Wieviel Stasiagenten in Zivil mochten sich unter die Menge gemischt haben? Mir wurde verdammt mulmig. Was war da im Entstehen? Wann und wie glitt der friedliche Protest ab in chaotischen Tumult mit Verletzten und Schlimmeres? Hauptbuchhalter Klein an meiner Seite blieb gelassen und meinte: „In Leipzig hatte es schon mehrere Montagsdemonstrationen und -märsche gegeben. Bisher verliefen alle friedlich.“

Draußen war es dunkel geworden. Wie ein Weckruf verhallten die Worte des Geistlichen. Auf irgendeine Veranlassung hin wandte sich die Menge um, strebte aus dem Dom und bildete eine lange, dichte Menschenschlange, die sich gemächlichen Schrittes in die Danzstraße begab, dann in die Otto-von-Guericke-Straße schwenkte. Immer eskortiert von bewaffneten Vopos. Nach und nach wurden Kerzen entzündet, die den Friedensmarsch in ein flimmerndes Lichtermeer tauchte. 

Zu meiner Linken schritt Peter Neufert, Bauhandwerker einer Brigade, und erzählte, dass er als Siebenjähriger erleben musste, wie sein Vater morgens um fünf Uhr von acht Mann der Staatssicherheit aus dem Bett gerissen und verhaftet wurde.
„Vater war Kulturredakteur. Schrieb Kritiken über Theater- und Musikereignisse in Magdeburg und Umgebung. Auf der Suche nach Beweismaterial wurde unsere Zwei-Zimmer-Wohnung total auf den Kopf gestellt. Gefunden wurde nichts. Vier Monate lang wussten Mutter und ich nicht, wo sich Vater befand. Schließlich kam es zum Prozess. Vater wurde zu drei Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. In der Untersuchungshaft war er zuvor misshandelt und gefoltert worden. Mutter bekam schließlich heraus: Ein Kollege der Volksstimme hatte unter Eid geschworen, Vater hätte mit seiner Familie Republikflucht geplant, außerdem parteifeindliche Flugblätter verteilt. Dreiste Lügen! In Wirklichkeit neidete der Journalist Vaters Position bei der Zeitung. Entlassen wurde Vater als gebrochener Mann, der nie mehr Fuß fasste. Dass mitanzusehen zu müssen, war besonders schlimm für mich.“

Im Umzug entstand auf einmal Unruhe. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, die Initiatoren des Marsches strebten zum Verlagshaus der Volksstimme und beabsichtigten den Chefredakteur aus dem Fenster zu werfen. Augenblicklich wurde die Polizeieskorte massiver und von Mannschaftswagen verstärkt. Tatsächlich versammelte sich der Zug eine knappe Stunde später vor einem hohen Gebäude, das von unserer Vorhut gestürmt wurde. Aus einem Fenster des dritten Stockwerks flog nicht der Chefredakteur, sondern Aktenbündel. Der Zeitungsmann hatte rechtzeitig Feierabend gemacht.

Unter Zurufen und Klatschen wurden noch ein paar Gegenstände herabgeworfen … es grenzte an ein Wunder, dass die Polizei nicht eingeschritten war. Wie durch eine geheime Absprache löste sich die Versammlung allmählich auf. Sonderbar zufrieden zogen die Bürger Magdeburgs friedlich ihrer Wege.

Berlin, 9. November 1989

Für sehr viele Menschen, wie auch für mich war dieser Donnerstag ein ganz außergewöhnlicher Tag. Der Firmenvorstand hatte die Geschäftsführer der Tochtergesellschaften zu einer mehrtägigen Konferenz ins Hotel Palace in West-Berlin geladen. Zwischen Sitzungsende und dem gemeinsamen Abendessen wurde eine längere Pause eingelegt. Um etwas frische Luft zu schnappen, spazierte ich in Richtung Reichstag. Schon nach den ersten Minuten bot sich mir eine merkwürdige Stimmung.

Ich erlebte Berlin irgendwie anders als sonst. Sehr viel mehr Menschen waren unterwegs. Und es war, als befand ich mich in einem Sog, der in Richtung Osten zog. Alle Fenster waren geöffnet worden, Menschen winkten, manche jubelten. Ich vernahm Lautsprecherdurchsagen, verstand jedoch nichts. Dennoch spürte ich, da musste etwas ganz Unglaubliches geschehen sein. Fahrbahnen, Bürgersteige quollen über von tanzenden Menschenmassen, die mir jetzt auch entgegenströmten. Dann war ich an der Mauer … und sogar auf der Mauer! Wie ich da hinaufgekommen bin – ich weiß es nicht. Wohl über die Rücken einer Personentraube. Oben fielen sich wildfremde Menschen in die Arme klatschten, sangen und jubilierten. Die Euphorie war unbeschreiblich, grenzenlos. Der Mauerfall, ein Großereignis, unfassbar! Politbüro-Sprecher Günther Schabowski hatte um 18.53 Uhr in einer TV-Ansprache gesagt: „ … Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. Mit diesen Worten zur neuen DDR-Reiseregelung hatte er unfreiwillig das Ende der deutschen Teilung verkündet.

Irgendwann in den Morgenstunden kehrte ich, immer noch aufgewühlt, in mein Hotel zurück. Die Konferenz wurde abgebrochen und vertagt. Wer wollte, konnte noch einen Tag auf Firmenkosten in Berlin weilen und sich um DDR-Bürger kümmern, die inzwischen scharenweise in den Westen gekommen waren. Mit mehreren Kollegen blieb ich. Wir freuten uns mit den Menschen, teilten ihren Enthusiasmus, luden sie ein ins Kranzler, ins KaDeWe und sonst wohin. Jubel, Freudentaumel, Begeisterung hatten mich nicht nur angesteckt, sondern wundersam beseelt und bleiben im Herzen als ewig schöne Erinnerung.

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Wie konnte ich ahnen, dass mich ein Jahr später die Treuhand mit der Frage konfrontierte, ob ich mir zutraue ehemalige Kombinate zu sanieren. Wer kann eine solche Herausforderung ablehnen? So geschah es, dass ich fast drei Jahre in Magdeburg, Halle und Ost-Berlin Firmen auf den rauen Konkurrenzkampf vorbereitete. Eine ungeheuer tiefe Erfahrung, geprägt von Euphorie, Schmerz, Glück, Enttäuschung und Dankbarkeit, die ich nicht missen möchte.

 

 

Die dritte Halbzeit war blutig

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Fußballspiel als Vorspiel zum Krieg – Massenimmigration führte vor 51 Jahren zum sogenannten Fußball- oder 100-Stunden-Krieg

 

Der sogenannte Fußballkrieg wird auch „100-Stunden-Krieg“ genannt, da die Kampfhandlungen nur rund 100 Stunden, nämlich vom 14. bis zum 18. Juli 1969, dauerten. Im Verhältnis zur Kürze ist die Zahl der Opfer mit 2100 Toten und 6000 Verwundeten hoch. Andere Quellen sprechen sogar von 6000 Toten, 15000 Verletzten und 50000 Ausgebombten.

Ungeachtet seiner Bezeichnung liegt die Ursache für den Fußballkrieg zwischen El Salvador und Honduras nicht in der schönsten Nebensache der Welt, sondern in einer Massenwanderung von 300000 Armutsflüchtlingen von El Salvador nach Honduras, die im Zielland der Migration nicht als kulturelle Bereicherung betrachtet wurde.

Mehr noch als heute war vor fünf Jahrzehnten das mittelamerikanische El Salvador ungleich stärker besiedelt als dessen Nachbarstaat Honduras. Während in El Salvador rund 2,5 Millionen Menschen auf rund 21000 Quadratkilometern lebten, teilten sich in Honduras nur 1,9 Millionen Einwohner etwa 112000 Quadratkilometer. Zu diesem Ungleichgewicht kam eine Großgrundbesitzer-freundliche Politik des salvadorianischen Präsidenten General Fidel Sánchez Hernández. Das Ergebnis war eine Massenmigration von 300000 Armutsflüchtlingen von El Salvador nach Honduras.

Dampf aus dem Kessel

Über diese war die Regierung in San Salvador nicht unglücklich, nahm sie im eigenen Land doch Dampf aus dem Kessel. Dafür sorgte sie für sozialen Unmut in Honduras. Dort plante die Regierung eine Agrarreform, die zu einem Interessensausgleich zwischen den Großgrundbesitzern und den Kleinbauern des Landes auf Kosten der Einwanderer führen sollte. Am 30. April 1969 forderte Honduras’ Regierung die Immigranten auf, innerhalb der nächsten 30 Tage in ihre Heimat zurückzukehren. Ab Mitte des Jahres verschaffte die paramilitärische Gruppe „Macha Brava“ dieser Aufforderung der Regierung Nachdruck mit Angriffen auf die Einwanderer.

In dieser angespannten Lage kam der Fußball ins Spiel. Bei den Qualifikationsspielen zur Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexiko trafen vor 50 Jahren El Salvador und Honduras im Halbfinale aufeinander. Entsprechend dem Reglement gab es ein Hin- und ein Rückspiel sowie im Falle eines anschließenden Patts ein entscheidendes drittes Spiel in einem dritten Land.

Das erste Spiel fand am 8. Juni 1969 in Honduras statt. Die Gastgeber gewannen mit 1:0. Wie emotional aufgeladen das Duell war, zeigt die Tatsache, dass sich eine 18-jährige Generalstochter aus El Salvador nach der Niederlage der Mannschaft ihres Landes mit der Pistole ihres Vaters erschoss. Die Fans in Honduras hatten in der Nacht vor dem Spiel vor dem Hotel der Gäste aus El Salvador gelärmt, sodass zumindest in El Salvador sich die Interpretation breitmachte, Übermüdung der eigenen Mannschaft sei für deren Niederlage verantwortlich gewesen.

Eine Woche später kam es in El Salvador im doppelten Sinne zur Revanche. Nun ließen die Fußballanhänger aus El Salvador die Gäste aus Honduras kaum schlafen, und in der Tat gewann diesmal El Salvador, und zwar mit 3:0. Da die Tordifferenz laut Reglement keine Rolle spielte, herrschte also ein Patt und ein Spiel in einem dritten Land muss­te die Entscheidung bringen. Am 26. Juni 1969 traten die beiden Mannschaften in Mexiko-Stadt an, und zwar im Aztekenstadion, in dem im Folgejahr das berühmte, legendäre „Jahrhundertspiel“ Bundesrepublik gegen Italien stattfand. Wie beim Jahrhundertspiel herrschte auch beim Spiel El Salvador gegen Honduras nach der regulären Spielzeit Gleichstand. Der Fußballkrimi ging in die Verlängerung. Die Entscheidung brachte schließlich das 3:2 des Salvadorianers Mauricio „Pipo“ Rodríguez in der 101. Minute. El Salvador war im Finale der Qualifikation, Honduras ausgeschieden.

Wie schon nach dem zweiten kam es auch nach diesem dritten Spiel zu schweren Ausschreitungen und Auseinandersetzungen zwischen den Fans der Kontrahenten. Menschen verloren dabei ihr Leben.

Völkermord und Folter

In der Folge verschlechterte sich der ohnehin schon schwierige Stand der salvadorianischen Einwanderer in Honduras. Die Regierung in San Salvador reagierte hierauf scharf. Einerseits gehörte es zu ihren Aufgaben, auch die Interessen von Bürgern im Ausland zu vertreten. Andererseits hatte sie kein Interesse daran, dass sich durch die Rückwanderung eigener Armutsflüchtlinge im großen Stil die soziale Lage im eigenen Land verschärfte. In El Salvador wurden dem Nachbarn im Zusammenhang mit der Behandlung der emigrierten Landsleute Völkermord, Folter, Kastrationen und Vergewaltigungen vorgeworfen. Zwei Tage nach dem Spiel wurden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen.

Am 14. Juli 1969 überfiel El Salvador Honduras. Ohne vorherige Kriegserklärung ließ Sánchez Hernández den Flughafen von Honduras’ Hauptstadt Tegucigalpa durch alte Weltkriegsmaschinen und Cessnas bombardieren. Honduras schlug zurück. Die Luftstreitkräfte der beiden Entwick­lungsländer waren von alten Weltkriegsmaschinen geprägt, und so kam es in diesem Krieg noch einmal zu Luftkämpfen zwischen Propellermaschinen, den letzten im längst angebrochenen Zeitalter des Düsenflugs.

Dem Luftschlag folgte zu Lande ein Vorrücken salvadorianischer Truppen. Diesem Vormarsch hatte Honduras kaum etwas entgegenzusetzen. Nachdem die Sal­va­do­ria­ner etwa 70 Kilometer tief ins Feindesland einmarschiert waren, forderten die Vereinten Nationen, vor allem aber die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), eine politische Lösung. Im Angesicht von Sanktionsdrohungen sah sich die salvadorianische Seite gezwungen, ihren Vormarsch abzubrechen und die Kampfhandlungen einzustellen. El Salvador wurde von der OAS als Aggressor eingestuft und aufgefordert, seine Truppen hinter die Grenze zurück­ziehen. Am 29. Juli stimmte die salvadorianische Regierung nolens volens zu. Am 4. August verließen die letzten Invasoren Honduras.

Seine Kernforderung, ein Bleiberecht seiner Migranten in Honduras, konnte San Salvador nicht durchsetzen. Honduras konnte also die Ausweisung der Einwanderer fortführen.

Handfeste wirtschaftliche Nachteile

Nicht nur, dass der militärisch erfolgreiche Aggressor sein Kriegsziel verfehlte, der Krieg brachte ihm abgesehen von den Kriegsopfern auch noch handfeste wirtschaftliche Nachteile. Honduras behinderte fortan den Export seines Nachbarn über eigenes Gebiet und zog sich aus dem Zentralamerikanischen gemeinsamen Markt (MCCA) zurück, was diesen vorläufig bedeutungslos machte. Das traf El Salvador nicht unerheblich. Zum einen ist dieser Staat relativ klein, dicht besiedelt und stark industrialisiert, was zu einer entsprechenden Abhängigkeit von grenzüberschreitendem Handel führt. Zum anderen liegt Honduras nicht nur zwischen El Salvador und dem Atlantik, sondern auch zwischen El Salvador und den MCCA-Partnerstaaten Nicaragua und Costa Rica.

Mehr noch als diese Handelshemmnisse trug jedoch die durch den Fußballkrieg nicht gestoppte Rückführung von 300000 Armutsflüchtlingen zur Verschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in El Salvador bei, die schließlich zum elfjährigen Bürgerkrieg führte. 1980 begann dieser Bürgerkrieg. Ebenfalls 1980 wurde der Fußballkrieg mit einem Friedensvertrag endlich auch formal beendet.

Der Mann mit den goldenen Händen. Eine Hommage an Ferdinand Sauerbruch in der Charité

Operation am Brustkorb („Thorakoplastik“) 1922, Ölgemälde, Hermann Otto Hoyer, Kunstsammlung Charité, Foto: Thomas Bruns, Berlin

Die Ausstellung „Auf Messers Schneide“. die bis zum 2. Februar 2020 im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité läuft, ist ein posthumes Heimspiel für den legendären Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875 bis 1951). Denn in diesem Krankenhaus feierte der „Mann mit den goldenen Händen“ seine größten Erfolge. Die Ausstellung verzeichnet täglich bis zu dreihundert Besucher.

Beim Betreten des ersten Saales sticht der riesige Schreibtisch des Chirurgen ins Auge. Dahinter an einem Nagel hängt sein weißer Arztkittel. Die Brille mit den kreisrunden Gläsern ruht gleich nebenan in einer gläsernen Vitrine. Man könnte meinen, Sauerbruch habe gerade sein Zimmer verlassen und würde jeden Augenblick zurückkommen, um einen Patienten zu empfangen. Während wir auf ihn warten, begeben wir uns auf einen Rundgang durch sein bewegtes Leben, das in den Ausstellungsräumen bis ins kleinste Detail dokumentiert ist.

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch 1932, Max Liebermann, Öl auf Leinwand, © Hamburger Kunsthalle /bpk, Foto: Elke Walford

Sauerbruch wuchs im ostrheinischen Barmen in kleinbürgerlichen Verhältnissen als Enkel eines Schuhmachers auf. Nach dem von seiner Familie geförderten Medizinstudium und Stationen an Krankenhäusern in Erfurt und Kassel begann sein kometenhafter Aufstieg als bald weltberühmter Chirurg, der aufgrund seiner Erfolge im OP-Saal von der internationalen Presse mit Elogen überschüttet wurde. „Meister des Skalpells“, „Gigant der Chirurgie“, „Sieger über den Tod“ und „König der Chirurgen“ waren nur einige der ihm zugedachten Titel. Beim Anblick der aus dem frühen 20. Jahrhundert stammenden Gerätschaften wie Peritonalklammern, Zungenzangen und Leberhaken staunen die jüngeren Besucher. Mit so primitivem Handwerkszeug haben die Altvorderen hantiert? Der klobige OP-Tisch mit den ledernen Halteriemen lässt sie erschaudern. „Sieht ja aus wie eine Folterbank mit Fesseln“, flüstert einer. Kaum vorstellbar, dass unter diesen heute so antiquiert wirkenden Bedingungen Medizingeschichte geschrieben wurde. Weltweite Anerkennung fand Sauerbruch durch seine Operation am offenen Brustkorb, die der Maler Hermann Otto Hoyer 1932 auf einem lebensgroßen, hier ausgestellten Gemälde eindrucksvoll festhielt.

Die vielen Tondokumente, bei denen der Chirurg selbst zu Worte kommt – sei es im Hörsaal oder im Gespräch mit Kollegen – helfen, die Persönlichkeit des Menschen Sauerbruch zu verstehen. Offenbar war er mit einem rheinischen Humor gesegnet, den seine Studenten sehr schätzten. Da kommen Zweifel an dem Etikett „Halbgott in weiß“ auf, das ihm manche seiner Zeitgenossen ans Revers geheftet hatten. Es ist bekannt, dass Sauerbruch stets das Wohl seiner Patienten über alles andere stellte. Zitat: „Arzt ist nur der, der nicht an sich selbst denkt, sondern an seine Mitmenschen, der Verständnis hat für die Qual der Kranken.“ Der Eid des Hippokrates in seiner edelsten Form.

Ein Teil der Ausstellung befasst sich akribisch mit der Rolle Sauerbruchs während des Dritten Reiches. Warum hat er nicht klar Stellung gegen die Diktatur bezogen, lautet die Frage. Und stimmt es, dass er von den perfiden medizinischen Versuchen der Nazis am lebenden Menschen wusste und nichts dagegen unternahm? Fest steht, dass er an diesen Machenschaften nicht beteiligt war und nach 1945 von jeglicher Schuld freigesprochen wurde. „Sauerbruch ist beleidigt“, lautet eine Schlagzeile, als der Chirurg empört darauf hinweist, er habe auch während des Krieges seine Pflicht an seinen Patienten erfüllt. Denn selbst als Berlin lichterloh brannte und alliierte Bomben auch die Gebäude der Charité nicht verschonten, stand er Tag und Nacht im Bunker des Hospitals am OP-Tisch und operierte gewissenhaft jeden, der unter sein Skalpell kam.

Es lohnt sich, den Nachruf auf den großen Sauerbruch anzuhören, der am 2. Juli 1951 über den Äther ging. Ein mit Pathos gesprochener Kommentar, der den Dienst des Chirurgen am Menschen würdigte – ohne Wenn und Aber. De mortuis nil nisi bene.

Prothesenwand Arm- und Handprothesen 1920er – 1950er Jahre, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité Foto: Thomas Bruns, Berlin

Dieser Artikel erschien im November im „Deutschen Ärzteblatt“ und im Dezember in der Preußischen Allgemeinen Zeitung