(Nichts) Neues vom unternehmerischen Selbst

Buchcover

Eine Gegenrede (Kurzversion)

Einführendes

Wie geht es uns denn so in der heutigen Bundesrepublik, lautet die von Martin Dornes gestellte Frage, und die Antwort heißt: danke, ganz gut! Warum auch nicht?! ´Good – better – best – bested´, wie schon Edward Albee wusste. Dass nebenan und um die Ecke man zu anderen Ergebnissen kommt, wen kümmert´s? Nicht der Rede wert, da empirisch nicht haltbar.

Etwas zugespitzt ließe sich die alte Einsicht wiederholen, dass mit dem Kopf im Eisschrank und den Füßen im Ofen eine angenehme Durchschnittstemperatur herrscht – was besagt, dass mit statistischen Durchschnittswerten nicht nur wenig über den Einzelfall gesagt werden kann, sondern oft ebenso wenig über die Menge an Fällen. Etwas verkürzend ist dies natürlich, und Statistiken (und deren vorsichtige Interpretationen) haben durchaus ihre Berechtigung; doch muss vor raschen – und auch scheinbar weniger raschen – Aussagen auf deren Grundlage dringend gewarnt werden. Man dachte ja, mit dem Beginn des neuen Jahrtausends seien die Torheiten der datensüchtigen Vergangenheit endgültig überwunden, doch weit gefehlt. Denn so oder so ähnlich wird immer wieder einmal von durchaus seriös auftretenden Personen argumentiert – egal worum es geht. Da werden Zahlen und Daten jede Menge herangezogen, und es wird suggeriert, dass dies Fakten seien, die sich geradezu von selbst interpretieren.

Kaum etwas ist so komplex und schwer zu verstehen wie menschliches Verhalten. Es existieren jedoch durchaus Verstehens- und Erklärungsansätze, die – so komplex sie auch sind – vieles an unverständlich erscheinenden Phänomenen einer Taxonomie zuführen können. So z.B. existieren Strukturen, in denen wir uns bewegen, die – hier etwas verkürzt dargestellt – mit dem Konzept sogenannter objektiver Gewaltstrukturen erfassbar sein können. Objektive Gewalt “resides in the contours of the background which generates […] outbursts and consists of the often catastrophic consequences of the smooth functioning of our economic and political systems” (Schmid, 2011). Versteht man Schmids Verb „generate“ als „herstellen, bilden“ und nicht so sehr als „erzeugen“ im Sinne monokausaler Verursachungs-Zuschreibung, kommt man dem Kern objektiver Verhältnisse schon nahe. Die darin enthaltene potentielle Fragmentierung des Menschen ist jedoch mit statistischen Werten kaum oder nur rudimentär erfassbar. Dennoch wird nicht selten anhand von Zahlen erklärt, wie die Sachlage ist. Im Großen und Ganzen macht Dornes dies in seinem neuen Band; und würde nicht sehr viel Pseudo-Kritik zum derzeitigen bundesrepublikanischen Kapitalismus umhergeistern, man müsste ihm sein Unterfangen ganz grundsätzlich übel nehmen. Eine Kritik der Kritik ist also durchaus statthaft – doch nicht so.

Grundlegendes

Dass uns sowohl aktuelle als auch überdauernde bio-psycho-soziale Gegebenheiten (der Streit mit dem Nachbarn, die große Liebe, die Langzeitarbeitslosigkeit, das neue Auto, aber auch die einfache Tatsache, dass wir bspw. im Jahr 2017 in Deutschland leben und nicht auf Borneo oder vor fünfhundert Jahren) psychisch beeinflussen, ist selbstverständlich. Es macht einen Unterschied, wann, wo und wie wir sind, und dies mit-determiniert Depression und andere psychische Störungen. Vielleicht nicht wegen, sondern trotz eines entfesselten Kapitalismus heutiger Prägung, in dem munter jeder Legitimationsdruck für was auch immer in Luft aufgelöst wird, ist in der Bundesrepublik nicht mehr manifeste depressive Symptomatik zu verzeichnen als zuvor. Dies würde ihn nicht besser, aber einen bedeutenden Unterschied im Verständnis mancher vorgelegter Daten machen. Womöglich ist die Zersplitterung des Menschen in der Postmoderne nämlich sehr real: die tödliche Wirklichkeit der durch politischen Willen erzeugten objektiven Verhältnisse (vgl. Vester, 1993) könnte sich in dem, was Richard Sennett Korrosion (Sennett, 1998) nennt, niederschlagen. Und Depression können wir da gar nicht gebrauchen; stattdessen kann jede noch so symptomwertige Idiotie zum Lebensstil erhoben werden. Selbst wenn Charakterstruktur beständig wäre: die Korrosion derer könnte es eben auch sein. So wie beim Öffnen eines kommerziellen email-Providers am Bildschirm Werbebotschaften haften bleiben und nachwirken können, könnte sie an der Zersetzung unserer Psychen arbeiten. Insbesondere in Bezug auf die zunehmende Virtualität der Gesellschaft, in der Bildschirme Nähe suggerieren und Kategorien von Subjekt-Objekt-Differenzierung auflösen (Fuchs, 2014), ist dies sehr ernst zu nehmen. Letztens hat Eisenberg eindrücklich auf das destruktive Potential dieser gesellschaftlichen Entwicklung hingewiesen (Eisenberg, 2015).

Kulturelles

Die kulturelle Verfasstheit des Psychischen wird allzu häufig geschickt pariert, ignoriert und geleugnet. Kulturelle Verfasstheit meint auch nicht Handy ja/Handy nein, sondern Formung und/oder Verformung des Psychischen im Sinne von pathologischer Tendenz. Das Nicht-offensichtliche in psychischen Bereitschaften zu sehen (Bräutigam, 1990) sollte für Fachleute eine Selbstverständlichkeit sein. Aber man kann es durchaus auch konkret angehen: dann greift Dornes´ Diagnostik ebenso kurz; vor allem aber scheint es ihn nicht zu stören, wenn der Arm bis zur Schulter im Mülleimer nach Leergut sucht. Solange die Person, der der Arm gehört, nicht depressiv oder anderweitig klinisch gestört ist, erscheint er in Dornes´ Auswertungen nicht. Zudem folgt Dornes einer Logik, die nicht nur den leiblichen Aspekt des Psychischen (Fuchs, 2007) übersehen lässt, sondern auch den, dass kein Gehirn ohne Leib denkt und kein Leib ohne Umweltbedingungen ist, in denen er existiert (Fuchs, 2008).

Hochinteressant nebenbei auch manche Vorstellungen, in denen ohne Unterscheidung vergangenen Zeiten pauschale Einschätzungen zuteil werden. So wird von weiblichem Entsetzen bei Entdeckung der Menstruation oder von unsteuerbarer Erregung beim Durchblättern eines Miederwäsche-Katalogs in der Nachkriegszeit gesprochen. Der zivilisierte Mensch – gerade auf dem Fahrrad unterwegs zum nächsten Veggie-Laden – ist eigentlich gestern erst erfunden worden. Gern wird mit der Möglichkeit der Fehlerkorrektur argumentiert, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, in denen man nach einmal getroffener Entscheidung an Arbeitsplatz, Ehemann oder Sportverein gebunden war – das ist jetzt alles vorbei, wie schön. Genau dieses Denken ist antiquiert in einer Zeit, in der massive Umwälzungen bereits allerlei Verwerfungen gebracht haben – und täglich bringen. Wenig bedacht wird dabei, auch von Dornes, dass der Anspruch, möglichst wenige Fehler zu machen, damit rapide sinken dürfte, was angesichts der Komplexität heutiger Gesellschaften und ihrer Probleme als hoch problematisch gelten muss. Das übrigens wird Billy Joel mit seinem Etikett ´Zeitalter der Inkompetenz´ gemeint haben.

Wenn Dornes einmal im-, einmal explizit, die heutige Demokratie als Lösung für alles und jedes preist, unterliegt er zudem glatt der Verwechslung von Demokratie mit Marktwirtschaft. Nicht einmal eine Legitimationskrise (Ptak, 2009) findet bei ihm statt. Colin Crouch wird erwähnt, aber rasch verworfen. Alain Badiou hingegen beschreibt die derzeitige Wählerdemokratie als „nur insofern repräsentativ, als sie zuerst konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus ist, der heute in ´Marktwirtschaft´ umbenannt ist. Das ist ihre prinzipielle Korruption“ (Badiou, 2008, S. 97). Das derzeitige Unbehagen an vielem Beanstandungswürdigem, das z.B. in allerlei Medien-Initiativen ihren Niederschlag findet, hat in ihrer privatisierten Form oft etwas von Pseudo-Partizipation, in ihrer politisiert-verstaatlichten Form mitunter etwas Totalitäres an sich. Die unterliegende dogmatische Marktgläubigkeit samt Exkommunikation derer, die diese nicht teilen, hat Josef Berghold bereits anhand des Falles Chile beschrieben (Berghold, 2009), die emotionale Verelendung inbegriffen.

Unbewusstes

Dass Terrorismus und Konsumerismus zusammen hängen könnten, darauf will Dornes gar nicht erst kommen. Talcott Parsons hat in seiner ´oversocialized conception of man´, die Dornes (S. 64ff.) mal eben für falsch erklärt, interessante Schlaglichter gesetzt, in der mittels ich-psychologischer Identifikation mit dem Aggressor und deren Transformierung in die totale Leistungsgesellschaft als Ausgangspunkt bemerkenswerte psychische Mechanismen beschrieben werden. Manches mag Parsons vielleicht nicht exakt getroffen haben, aber präödipale, frühe Verinnerlichungen (die nicht unbedingt mit Liebesentzug durch die Mutter verbunden sein müssen), sind nichts Unbekanntes. Und schon bei Kleist sehen wir ein fühlendes Individuum im Konflikt mit der gesellschaftlichen Ordnung (Parzinger, 2011, S. 171), das ganz unterschiedlich konzeptualisiert werden kann. Gewiss will das Kleinkind nicht einfach das, was auch die Mutter will; ein komplexer dialektischer Prozess ist hier am Werk, von dem nicht abschließend als geklärt gelten kann, was genau stattfindet. Selbstredend findet aber keineswegs irgendeine bruchlose Verinnerlichung statt, sondern Kompromissbildungen in dialektischem Prozess von Aneignung und Widerstand. Da die Verhältnisse ohnehin schon nicht unbrüchig sein können (vgl. Egloff, 2015b), ist jedoch eine ´oversocialized conception of man´ in Zusammenhang mit der frühen Mutter nicht wirklich nötig. Es muss als ganz und gar ungeklärt gelten, ob übergreifende gesellschaftliche Bewegungen die symbolische Ordnung in nur noch einer dem anomischen Urvater geschuldeten fragmentierten Form existieren lassen, die, kleinianisch gesprochen, in der paranoid-schizoiden Position auch bösen Mutter-Introjekten geschuldet sein könnte, oder ob wir es im Sinne früher mütterlicher, guter Beziehungserfahrungen mit einer progressiven Bewegung hin zu Freiheit und Selbstbestimmtheit zu tun haben (Egloff, 2015b, S. 324-325). Erst innerhalb solch einer Fragestellung wären Dornes´ Selbstermächtigungsvorschläge, die keineswegs so eindeutig und unvoreingenommen auftreten, wie sie in seinem Text daherkommen, prüfbar.

Folgen wir Freud in seiner Beobachtung über die anfängliche Hilflosigkeit des Säuglings, der Urvertrauen aufbauen muss, so werden wir einer immensen Aufgabe gewahr. Ganz schlicht weitergedacht, dürfte schon an dieser Stelle der Beginn der Ideologie zu verorten sein. So wie Urvertrauen enttäuscht wird und werden muss, muss es dennoch aufrecht erhalten werden; dieser Konflikt – nachrangig, ob nun als Konflikt oder Strukturmangel konzipiert – als anthropologische Grundkonstante gedacht, begründet den Beginn des potentiell ´falschen´ Bewusstseins, dessen projektive Kraft sowohl zu Anpassung als auch zu Widerstand führt. Daher macht es wenig Sinn, dies   in Abrede zu stellen, auch wenn aus einer pragmatischen Haltung heraus eine interventionistische Perspektive hilfreich sein mag. Ein schmaler Grat zwischen Hoffnung (durch Selbstwirksamkeit) und Enttäuschung (über die Desillusionierung des grandiosen Selbst) ist therapeutisch ohnehin zu gehen.

Politisches

Aus interventionistischer Perspektive wäre hier viel früher anzusetzen; prä- und perinatale Zusammenhänge und ´neurodevelopmental outcome´ sind zahlreich beschrieben worden (vgl. Roth, 2016; vgl. Egloff u. Djordjevic, 2016), ´new social deprivation´ als Vorbedingung und Ergebnis von Depravationsprozessen (Egloff u. Djordjevic, 2016) weist hin auf Psychopathologie im gesellschaftlichen Gefüge, sodass von ´new morbidity´ in einem neuen Sinnzusammenhang gesprochen werden müsste. Deutlich mehr vorzeitige Geburten scheinen Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklung zu sein. Paul Virilio spricht nicht ohne Grund von ´Rasendem Stillstand´ (Rosa, 2005), in dem die Entzeitlichung der Subjektwerdung Programm ist – auch das nicht neu, es darf aber Gültigkeit beanspruchen. Die beschleunigte Gesellschaft produziert schon auf Ebene des Zeitgefühls vermehrt depressive Subjekte (Mensen, 2014). Dies kann subklinisch, also unauffällig sein. Es muss eben nicht ein klassisches Konzept von Depression herangezogen werden – auch nicht als Beziehungskonzept im engeren Sinn –, sondern ein Konzept narzisstischer Transformation als  gesellschaftlicher Modus von „Überlebensstrategie“, wie Mensen formuliert, „- wer sich selbst nicht übermäßig wichtig nimmt und inszeniert, geht im marktbestimmten Geschäft unter -, die als ´Abfallprodukt´ oftmals eine narzisstische Depression zur Folge hat“ (Mensen, 2014, S. 119.) Dies ist in Therapie-Praxen gut bekannt, aber schwer zu operationalisieren bzw. sichtbar zu machen (vgl. Egloff, 2012b). Darum geht es, wenn Depravation aus Deprivation entsteht, und umgekehrt. Stattdessen erklärt Dornes Aktivität, Initiative und Beweglichkeit zu einer Art urwüchsigem Privileg der Mittel- und Oberschichten, ohne deren materielle Voraussetzungen zu bedenken – die glatte Psychologisierung des Sozialen. Um es sich nochmals auf der Zunge zergehen zu lassen: er meint, mit jener Aktivität, Initiative und Beweglichkeit habe das sogenannte Prekariat Schwierigkeiten (S. 120ff.) und macht Anleihen bei der von ihm so monierten Form der Sozialreportage mittels der altbekannten Sensations-Beispiele aus dem ´Spiegel´, die es natürlich gibt, die aber mit dem Begriff des Prekariats alles andere als deckungsgleich sind – dies vielleicht der schwerwiegendste Fehler in seinem Band, dessen Verwechslung folgenreich.

Modenas operationalisierter Begriff von Proletariat (Modena, 1984), der schlicht aber zutreffend dieses als von Lohnarbeit abhängige Personen definiert, zeigt auf, wie Reifikation und Kommodifikation zunächst einmal als Grundpfeiler kapitalistischer Verkehrsformen gelten dürfen, die auch die menschlichen Beziehungsformen grundlegend durchdringen (Egloff, 2015b). Doch es ist noch schlimmer gekommen: nicht nur in Deutschland ist das Proletariat durch die vielleicht infamere Variante des Prekariats abgelöst worden (eine sehr gelungene und zutreffende Darstellung der nicht nur als Malaise zu bezeichnenden Situation ewiger Praktikantinnen und Praktikanten sowie der Tendenz zu in ´Frauenberufen´ – auch akademischen – sinkenden Einkommen im Rahmen des ´gendered capitalism´ bei Feiereisen, 2011); der operational definierte Begriff von Proletariat, angewendet auf das Prekariat (empirisch in der, wie Dornes meint, kaum anzutreffenden Auflösung der Mittelschicht nachweisbar) aufersteht mittels der von Gerhard Schröder und Tony Blair mit-initiierten Erfindung der system-immanenten ´working poor´ in Europa. Heimgesucht von Unsicherheit, von Unplanbarkeit, von niedrigsten Renten usw., geht es beim Prekariat gar nicht mehr um ´klassische´ Entfremdung, sondern zunehmend um nackte Existenzsicherung: ein Kellner muss heute zumal ´nice´ sein, sonst verliert er den Job. Im Industriekapitalismus konnte er im Grunde weiterarbeiten; heute ist er zusätzlich prekarisiert (Groys u. Hegemann 2016). Die Prekariatsvariante bedeutet geradezu einen massiven gesellschaftlicher Rückschritt. Wohl ist es nicht nur so, dass „people retreat from responsibilty, either escape or somatize“ (Siltala, 2009, S. 128), sondern andersherum ist in der Praxis gut nachvollziehbar und seit langem bekannt, wie Symptomatiken gerade nicht in Erscheinung treten, wenn die materiellen Bedingungen gut sind. Denn abgesehen davon, dass die von Dornes geschilderten polymorphen Symptomatiken nicht nur in sogenannten sozial schwachen Milieus auftauchen, wird ebenso nicht nur in sozial stärkeren Schichten Symptomatik bspw. mittels Kompensationskäufen, aber gern auch mit ´dezentem´ Alkokolkonsum, in Schach gehalten. Beispiele in unterschiedlichsten Konstellationen gibt es hierzu jede Menge (Egloff, 2013; Egloff u. Djordjevic, 2015; Salfeld-Nebgen et al., 2016; Uhlendorf et al., 2016), und das Team um Gerisch, King und Rosa hat verschiedene Varianten untersucht und Optimierungsbestrebungen im Kontext von Beschleunigung, Flexibilisierung und Ökonomisierung beleuchtet und aufgezeigt, wie Dynamiken ineinandergreifen, auch ohne dass diese nur ´früh´ ablaufen. ´Spät´ ist eben auch möglich. Ähnliches gilt für die Arbeitsverhältnisse: andere Sichtweisen sind durchaus vorhanden (Parpart, 2016). Diese tauchen epidemiologisch eben nicht oder in anderer Form auf – ganz abgesehen davon, dass konstruktivistische Systemtherapeuten, von denen es nicht wenige gibt, bspw. überhaupt keine Diagnosen stellen. Die Dunkelziffer dürfte erheblich sein. All zu wichtig erscheint Dornes dagegen, dass Geldtransfers an sozial Schwache nichts bewirken würden. Dass Bill Clintons Berater James Gilligan zu anderen Ergebnissen kommt, nämlich dass ´reducing societal inequalities most effective against violence´ ist (Gilligan, 2000), wird Dornes gewiss bestreiten.

Künstlerisches

Es liegt nicht lange zurück, dass Don DeLillo mit „Cosmopolis“ auf Verwerfungen hingewiesen hat, die die Mesalliance von Konsumkapitalismus, Virtualisierung und Psychopathologie mit sich bringt. Die Weltliteratur ist voll davon. Thomas Pynchon hat in ”The Crying of Lot 49” bereits 1966 Depravationsprozesse dargestellt, die system-immanent wirken – selbstredend mit aus naturwissenschaftlich-empirischer Sicht fragwürdiger Analogien, doch das liegt in den Gegenständen begründet. “The Crying of Lot 49 presupposes that the Puritan, middle-class, commercial, capitalistic, industrial, technological process is subject both to thermodynamic entropy, which creates waste, and communication entropy, which creates silence. The by-product of this process is a third kind of entropy, human, which leads to an army of outcasts, of derelicts and failures […]. This army of men and women operates as a counterforce to the commercial processes that have ravaged the land as they have moved silently west through history” (Lehan, 1995, S. 40). Die ´counterforce´ ist jedoch größtenteils aus der Mode, und Dornes findet dies berechtigt – und aus empirischer Sicht nun auch nicht einmal nötig. Schauen wir auf andere künstlerische Arbeiten:

Die Inszenierungen von Frank Castorf oder Christoph Marthaler (vgl. Egloff, 2012a), die Arbeiten von René Pollesch, oder Christoph Schlingensiefs „Rosebud“ (2002), Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ (2004), aber auch Lucy Prebbles „Enron“ (2009), oder letztens Philipp Löhle, dessen Theatertext „Du (Normen)“ exemplarisch auf die Banalität von Nutzenmaximierung als zweiter Natur der neoliberalen Persönlichkeit verweist, arbeiten genau jenes durch, was in den Daten nicht ohne weiteres erscheint.  Daher seien sie jenen Interessenten, die mehr verstehen wollen, neben einer etwaigen Dornes-Lektüre anempfohlen. Denkt man etwa an Peter Weiss´ „Marat/Sade“ in Volker Löschs Hamburger Inszenierung von 2008, so lässt sich zudem sagen: vorsätzliches Vergröbern muss nicht schlecht sein, um Sachverhalte zu verdeutlichen. In Anlehnung an eine Besprechung Löschs (Pilz, 2008) gilt für Dornes: seine Interpretationen sind oft ein bisschen richtig, obwohl vereinfachend, aber weder komplex noch vereinfachend genug, dass es wirklich die wunden Punkte der Gesellschaft träfe.

Und auch „Die 120 Tage von Sodom“ in Johann Kresniks wie auch immer zu bewertenden Volksbühnen-Inszenierung von 2015 könnte hilfreich bei der Horizont-Erweiterung sein. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dass die schöne Warenwelt mit Verhinderung von Symbolisierung zu tun haben könnte (vgl. Seidler, 2002; Layton, 2014) und diese, wenn schon nicht monokausal bedingt, dann aber fördert, dürfte viel mit Kommodifizierung und Reifizierung zu tun haben, gerade im Übermaß des entgrenzten Konsum-Kapitalismus. Daher kann nur gelten, es nicht bis zur vollständigen Kommodifizierung des Subjekts zu treiben (Egloff 2015a). Thematiken wie der Umschlag von Gemeinschaft in Gesellschaft oder von symbolischer Ordnung und Über-Ich-Bildung (Egloff 2015b, S.317ff.) sind geeignet zu bearbeiten, wie gesellschaftliche Verhältnisse und individuelles Verhalten sowohl Identität als auch Nicht-Identität bergen (Egloff, 2015b, S. 318; vgl. Ottomeyer, 2014). Sozialisationsprozesse bergen viele solcher Aspekte, die warenproduzierende Gesellschaft vor allem aber das Versprechen, durch fetischistische Transaktionen vollständig zu werden. Dieses ist uneinlösbar, da nie genügend Objekte vorhanden (Decker, 2016). Dass sich hier psychische Phänomene bilden müssen, liegt auf der Hand bzw. ist schon in den Begrifflichkeiten enthalten. Und, nein: Psychisches nimmt keine Rücksicht auf Gegenstandsbereiche. Alles andere wäre rationalistisch.

Überforderndes

Dass Überforderung schon im Subjektanspruch der Moderne an sich stecken könnte, die Verwirklichen und Bewältigen-wollen einfordert, mag sein. Dieser allerdings scheint heute immer mehr einer Steigerungslogik unterworfen, in der Humankapital nun gar aus Individualität und Differenz gebildet werden soll (Klinger, 2015). Dornes´ Affinitätsbehauptung der Psychoanalyse als Methode zur Ich-Stärkung hinsichtlich gesellschaftlicher Anforderungen ist nicht nur überzogen, sondern stößt nur allzu munter ins Horn unrealistischer Befähigungsphantasien. Es gehe ihm nicht um eine Individualisierung von sozialen Problemen, erklärt er, weil es eine gesellschaftliche Aufgabe bleibe, Selbstermächtigung der Menschen voran zu treiben, diese nur eben anders ausgestaltet werden müsse. Letztlich heißt das aber nichts anderes als Gesellschaftsgestaltung entlang ökonomischer Kriterien. Damit ist Dornes voll drin im aktivierenden Sozialstaatsmantra (vgl. Butterwegge, Lösch & Ptak, 2007) und spielt zudem eben doch der brandgefährlichen Therapeutisierung sozialer Problematiken in die Hände – man kann es nicht oft genug wiederholen. „Zugleich wird es möglich, soziale Verwerfungen und ´Verlierer´ auf unterschiedliche Resilienzausstattungen zurückzuführen und damit zu individualisieren und zu naturalisieren“ (Graefe, 2016, S. 47). In Dornes´  Ermächtigungsvorstellungen des Subjekts spricht er von Steuerungsfähigkeit und ähnlich gut operationalisierbaren Begrifflichkeiten, die, ob in Psycho- und Sozialtherapie oder Arbeitsamt-Kurs, vermittels Sprache sogenannte frühe Strukturdefizite ausgleichen anzutreten haben. Ersetzt man seine Begriffe durch sprachphilosophische oder (post-)strukturalistische, fällt sein Empowerment-Konzept jedoch wie ein Kartenhaus zusammen – was übrig bleibt, sind Machtverhältnisse, Virtualisierung, Globalisierung. Daher wäre es zielführend gewesen – wenn man schon große Fragen angeht –, die zu untersuchenden Phänomene auch in ihren ´Differenzkonstruktionen´ zu betrachten, diese also nicht nur und ausschließlich unter (neo-)psychoanalytischen Gesichtspunkten zu untersuchen, sondern bspw. auch unter strukturellen oder semiotischen. Dass dies nicht nur möglich, sondern fruchtbar und vervollständigend sein kann, zeigen semiotisch fundierte Ansätze auf anderen, doch nicht fernen Gebieten (vgl. Egloff, 2016). Sonst nämlich könnte es sein, dass der Schritt vom äußeren Tatbestand zur inneren Bedeutung zu nichts anderem führt als zu Pseudo-Verstehen, in dem innere Motive als Ausweis für politisches Handeln herangezogen werden, diese sich aber als trügerische Maske, ja Narrativ von Lüge, erweisen können (Žižek, 2015, S. 16). Doch all dies scheint jenseits von Dornes´ angebahntem neoliberalen Empowerment-Konzept zu liegen. Rasch wird von Sensibilisierung der Öffentlichkeit gesprochen, wenn in manchen Bereichen der Begriff Fetischisierung zutreffender wäre (Binkley, 2008). Max Webers ´stahlhartes Gehäuse´ der Moderne mag durchaus aufgeweicht worden sein, aber jetzt ist Postmoderne angesagt. In eben dieser will Dornes Selbstermächtigung feilbieten, so wie mittlerweile Kochbücher erscheinen, die günstiges Nachkriegsessen für Hartz IV-Empfänger anpreisen. Nach seiner Logik könnte man dieses gleich amtlich ausgeben: einfaches, aber gesundes Essen. Intrinsische Motivationen zu ermöglichen – die Betonung liegt auf dem Verb ´ermöglichen´ – sollte stattdessen oberstes Gebot sein (Holm-Hadulla, 2009), so wie extrinsische Motivationsfaktoren zu minimieren.

Abschließendes

Auch für Hartgesottene gilt somit: kaufen, lesen, Abstand nehmen. Denn was Dornes anzustreben scheint, ist die Verwirklichung seines prototypischen Menschenbildes einer Kapitalismus-krisenfesten Persönlichkeit, die korrelieren dürfte mit dem vom Dortmunder Amerikanisten und Ars-Legendi-Preisträger von 2010 Walter Grünzweig erschrocken beklagten Minimalhorizont aktueller Studienanfängerjahrgänge. Doch Korrelationen sind eben nur Korrelationen. Alles sehr fraglich, gewiss. Weniger fraglich jedoch ist, was die Sozialwissenschaftlerin Stefanie Graefe festhält: „Die krisenfeste Persönlichkeit hat (idealerweise) keinen Bedarf, das System zu verändern; sie verändert sich selbst – und dies permanent. Sie ist konsumkompetent, beratungsoffen und ressourcenorientiert; steigenden und schwankenden Produktivitätserwartungen von Unternehmen und Gesellschaft kann sie nachkommen, ohne ihre eigene Gesundheit nachhaltig zu gefährden. Politisch im herkömmlichen Sinne ist sie hingegen nicht: Im Zeichen von Resilienz wird Gesellschaft als unveränderliche Randbedingung der eigenen ebenso komplexen wie stets gefährdeten Lebensgestaltung verstanden, nicht aber als Gegenstand kollektiver Veränderung“ (Graefe, 2016, S. 47).

 

Literaturhinweise und Langversion unter:

https://www.researchgate.net/profile/Goetz_Egloff/publications

 

Sexuelle Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie

Buchcover
Buchcover

Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017
Die Neuerscheinung des vom niederländisch-amerikanischen Pharmakologen Berend Olivier herausgegebenen Bandes „Sexual Dysfunction“ soll Anlass zu einem kurz gefassten Überblick über sexuelle Funktionsstörungen bei Männern geben, bevor auf den Stand der wissenschaftlichen Forschung in jenem Band eingegangen wird. Denn auf dem Markt der Potenzstörungen ist viel los, und es gibt Fragen über Fragen.

Nicht nur bei Erektionsstörungen oder vorzeitiger Ejakulation, die die Hauptprobleme der sog. Potenzstörungen bei Männern darstellen, sondern auch zur allgemeinen sexuellen Leistungssteigerung werden derzeit einige Wirkstoffe angeboten. Als Alternative zu den viel genutzten PDE-5-Hemmern wie Viagra® befinden sich auch naturähnliche Wirkstoffe auf dem Markt, über deren Nutzen-Profil jedoch wenig bekannt ist. In jedem Fall, und insbesondere zur bloßen Leistungssteigerung, gilt es bei jeder Dosierung nicht zu übertreiben und vorher ganz offen den Arzt des Vertrauens zu befragen.

Bei einer Erektion entspannt sich über die Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) die glatte Muskulatur im Schwellkörper des Penis, sodass Blut in den Schwellkörper einströmen kann. Das Enzym Phosphodiesterase-5 (PDE-5) hingegen baut zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP) ab, was das Abklingen der Erektion einleitet. PDE-5-Hemmer verhindern diesen Abbau, sodass der sexuelle Akt ausgeführt werden kann, solange ein sexueller Reiz besteht. Die Wirkungsdauer beträgt, je nach Wirkstoff und Dosierung, zwischen 4 bis 36 Stunden. Bereits seit einigen Jahren gilt die sogenannte bedarfsorientierte Medikation als First-Line-Therapie (1). Bislang machte dies allerdings Sex nach Plan erforderlich und schränkte die Spontaneität somit erheblich ein. Die Einführung der sogenannten Low-dose-Intervention mit einer niedrigen, aber regelmäßigen Dosierung über einen hinreichenden Zeitraum macht unter bestimmten Voraussetzungen spontanen Sex auch bei erektiler Funktionseinschränkung möglich (2). Bei gleichzeitiger Einnahme von α-Rezeptoren-Blockern, Nitraten und ähnlichen Substanzgruppen besteht aber nach wie vor Kontraindikation.

Als Alternative zu PDE-5-Hemmern bieten sich nun naturähnliche Wirkstoffe an, deren Nutzen zumeist teils schwach, teils umstritten ist. Immer wieder, und daher kann sich ein Versuch lohnen, wird aber von individueller Wirksamkeit berichtet.

Ein kurzer Überblick dazu:
Phentolamin: Nutzen schwach bis umstritten (3)
L-Arginin: schwach bis umstritten (3)
roter Ginseng: schwach bis umstritten (3)
Yohimbin: wirksam bei leichten und psychosomatischen Erektionsstörungen; der seit nun etwa 100 Jahren angewendete α2-Antagonist Yohimbin wird als einigermaßen wirksam eingestuft; ist man also tendenziell gestresst, kann man dies probieren

Pflanzliche Alternativen können sein:
Agnus castus und Acidum picrinicum: als Viragil® zur psychophysischen Therapie bei männlichen Erschöpfungszuständen, da insgesamt abzielend auf Wiederherstellung des Sympathicus-Parasympathicus-Gleichgewichts
Rutin: steigert die Kapillarresistenz; eigentlich gegen Venenerkrankungen; gelegentlich wurde von verbesserter Erektionsfähigkeit berichtet; z.B. Tornix®

Was gibt es noch?
Durex Intensiv-Gel: als Stimulationsgel für Frauen gedacht, wird es auch als potenzsteigerndes Mittel von Männern verwendet; die darin enthaltene Aminosäure L-Arginin erscheint im Gel wirksamer als angenommen, fördert die NO-Bildung und wird auch bei unerfülltem Kinderwunsch und zur Verbesserung der Spermienqualität empfohlen
Taurumin: ein Nahrungsergänzungsmittel, über dessen Wirkung fast nichts bekannt ist; das darin enthaltene L-Arginin wirkt nur in Hochdosierung
Pro Man Boost: hier gilt gleiches wie für Taurumin
L-Citrulin: das dem L-Arginin verwandte L-Citrulin, das den Vorteil hat, vor Ankunft am Zielort nicht so stark abgebaut zu werden wie L-Arginin weist nach einer italienischen Studie gute Wirksamkeit bei leichten Erektionsstörungen nach (4); die Wirkung ist mit PDE-5-Hemmern zwar nicht vergleichbar, wird aber immer wieder einmal als gut beurteilt; nur bei relativ leichter erektiler Dysfunktion ist L-Citrulin zu empfehlen, zumal unklar ist, ob die Wirkung eher physiologisch oder psychologisch ist

Das von den Gynäkologen Daniel Stein und Nancy Bruemmer entwickelte ExtenZe galt kurze Zeit als vielversprechend; es enthält den Östrogen-/Testosteron-Vorläufer DHEA, der im Anti-Aging-Bereich eingesetzt wird. Rasch jedoch wurde von unbekannten Gefahren und dem Verdacht krebserregend zu sein berichtet (5).

Ein etwas anders gelagertes Problem stellt die Ejaculatio praecox (vorzeitiger Höhepunkt) dar. Hier gibt es verhaltenstherapeutischen Techniken, die erlernbar sind und mit denen die Verzögerung des Höhepunkts erreicht werden kann. Sowohl in Einzel- als auch Paartherapien können zudem Strategien herausgearbeitet werden, mit denen die Neigung zur vorzeitigen Ejakulation abgebaut werden kann. Dies nimmt Zeit und Mühe in Anspruch, kann allerdings anhaltende Erfolge bringen. Außerdem können auch körperliche Faktoren Auswirkungen auf die Dauer des Akts haben. Unbeschnittene Männer sollten eine Untersuchung auf ein Frenulum breve (verkürztes Vorhautbändchen) vornehmen lassen, da dies oft unbemerkt zur vorzeitigen Ejakulation beitragen kann (6). Es gilt also einige Faktoren zu berücksichtigen, bevor man einen medikamentösen Einsatz startet. Dass dieser lohnenswert sein kann, wie mit Dapoxetin, das als Priligy® noch nicht lang auf dem Markt ist, wird immer wieder bestätigt. Dieses Medikament beeinflusst den Serotoninspiegel, der auf die Ejakulationszeit wirkt (7).

Dem vorzeitigen Höhepunkt kann also mit Dapoxetin beizukommen sein; bei vorhandener Indikation kann für Männer mit erektiler Dysfunktion eine kurzzeitige regelmäßige Niedrigmedikation mit einem PDE-5-Hemmer wie Tadalafil in Betracht gezogen werden. In jedem Fall muss eine gründliche Anamnese erfolgen, und fast jede Medikation sollte von körperlichem Training oder Stressbewältigungsstrategien flankiert werden, was bei erektiler Dysfunktion auch hinsichtlich der häufig assoziierten Hypertonie hilfreich ist (8).

Einen der drei Kernthemenbereiche in Berend Oliviers Neuerscheinung „Sexual Dysfunction“ stellt dann auch die männliche erektile Dysfunktion in ihrer Assoziierung mit eben jenen kardiovaskulären Beeinträchtigungen dar, die sich oft als stressrelevante Faktoren wiederfinden. Lebensalter und hohe Medikamenteneinnahme gelten hier als besonders relevant; werden Herz-Kreislauf-Parameter jedoch medikamentös gut eingestellt, verbessert sich meist auch die erektile Dysfunktion. Diese und weitere Zusammenhänge werden beleuchtet, wie der Band insgesamt derzeitige Forschungsergebnisse zu sexuellen Funktionsstörungen mit dem Schwerpunkt auf Störungen bei Männern vorlegt. Zwei weitere Kernthemenbereiche stellen Hypogonadismus, ebenso wichtig für sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, sowie psychiatrisch-psychosomatische Aspekte sexueller Funktionsstörungen bei Männern und Frauen dar. Beim ersten Thema steht vor allem die Individualisierung der Therapie im Vordergrund, bei letzterem die Wechselbeziehungen zwischen sexueller Dysfunktion, Depression und Pharmakologie. Die Erforschung der Zusammenhänge im psychiatrisch-psychosomatischen Bereich steht bei den sexuellen Funktionsstörungen noch am Anfang, gleichzeitig kündigt sich mittels der translationalen Medizin, die die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung direkt in klinische Anwendung überführt, Vielversprechendes an. Beispielsweise ist in der Praxis die Gabe von Dapoxetin bei Ejaculatio praecox sehr oft hilfreich, aber nicht unproblematisch. Zu diesem und assoziierten Bereichen erfolgen eine Zusammenfassung von Studienergebnissen sowie kulturspezifische Überlegungen zu Erektion und Potenz.

Der Markt der wissenschaftlichen Neuerscheinungen zum Thema ist um eine Veröffentlichung reicher: Berend Oliviers konziser englischsprachiger Band „Sexual Dysfunction“ liefert ausführliche Übersichten über den Stand der Forschung. Wenn das Werk auch in erster Linie auf Mediziner und verwandte Berufe abzielt, macht es dessen Ergebnisse auch dem wissenschaftlich gebildeten Laien zugänglich. Zudem zeigt sich, wie groß der weitere Forschungsbedarf ist.

Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017

Literaturverweise:

  • Stadler, T.C., Stief, C.G., Becker, A.J. (2011). Medikamentöse Therapie der Erektilen Dysfunktion – Aktueller Stand und Ausblick. In: Sexuologie, 18, 1, 57-63.
  • Egloff, G. (2012). Potenz und Psyche – PDE-5-Hemmer als Low-dose-Dauermedikation? In: Arzt, Zahnarzt & Naturheilverfahren, 1, 12-13.
  • Leiber, C. (2008). Jenseits der PDE-5-Hemmer. In: Uro-News, 10, 24-25.
  • Cormio, L., deSiati, M., Lorusso, F. et al. (2011). Oral L-Citruline Supplementation improves Erection Hardness in Men with Mild Erectile Dysfunction. In: Urology, 77, 1, 119-122.
  • Stein, D., Engebretsen, K., Bruemmer, N., Frasure, B. (2008/2010). A Medically Designed Synergistic Combination of Pro-Hormones and Pro-Sexual Nutrients and their Influence on Male Sexual Desire and Potency: Preliminary Results. In: Journal of the American Association of Integrative Medicine, 4 (2010), 2-24.
  • Gallo, L., Perdonà, S., Gallo, A. (2010). The Role of Short Frenulum and the Effects of Frenulectomy on Premature Ejaculation. In: J Sexual Medicine, 7, 3, 1269-1276.
  • Berlin Chemie (2014). Priligy® Newsletter 2 „Männerwissen“, spaeterkommen.de
  • Gossmann, J. (2008). Hypertonie und Sexualität. In: Lenz, T. (ed.). Hypertonie in Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer, 406-407.

 

 

 

 

Schluss mit dem Wirtschaftsfeudalismus…

 

hhwoman-2016-
Cover

Sahra Wagenknecht, neu entdeckt. Ein Kommentar

Nach „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011, was nach der Finanzkrise 2008 eine der überzeugenderen Schriften aus dem politischen Feld darstellt, ist 2016 mit „Reichtum ohne Gier – wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ ein neues Buch von Sahra Wagenknecht bei Campus erschienen.

Zentral, und dies bemerkt auch das Stadtmagazin HAMBURG WOMAN ganz richtig, sind die darin benannten wirtschaftsfeudalen Strukturen und Mechanismen, die ermöglichen, was Wagenknecht  „leistungslose Spitzeneinkommen“ nennt – dies in Anbetracht von deutscher Kinderarmut und dem, was die Soziologie als Anomie bezeichnet. Hier ist keine schmallippige Spaßverderberhaltung am Werk, sondern eine brisante Gegenwartsdiagnostik, die in den letzten Jahren bereits vielfach seriös erarbeitet wurde. Es handelt sich hier auch nicht um moralische Kategorien, in denen Gier und Neid verhandelt werden, sondern um Zugänge zu gesellschaftswirksamen politischen Setzungen, die von Menschen erzeugt werden und nicht vom Himmel fallen.

Ja, Ludwig Erhard als zentrale Figur in Wagenknechts Verständnis bringt ihr regelmäßig den Vorwurf eines „Zurück in die 70er?“ ein, das total veraltet sei und auch nicht hip und überhaupt. Worum es aber geht, ist nichts weniger als die Rückeroberung des Wirtschaftlichen durch das Politische. Nur all zu bereitwillig haben sich Wagenknechts Kritiker daran gewöhnt, die Wirtschaftssphäre nicht etwa als treibende Kraft, sondern als Primat, das dem Politischen vorausgeht, zu akzeptieren. Nach Hannah Arendt hieße dies, wenn dem so ist, ist das Politische nicht einmal mehr politisch. Die Idee von einer Deutschland-AG konnte wohl nur auf dem Boden einer Schröder-Ära gedeihen, dessen Geschäftsführer wohl jenes fehlte, was Nietzsche „Pathos der Distanz“ nannte, dessen Mangel nur all zu oft mit dem überhöhten Begehr einhergeht, den qualitativen Eliten, möglichst samt Oberschicht-Biographie, anzugehören. Wagenknecht hingegen hat das nicht nötig und erteilt derlei Sperenzien eine souveräne Absage, und das mit stringent volkswirtschaftlicher Argumentation, die dennoch den Menschen darin nicht vergisst. Dazu bedarf es keiner Sentimentalität, sondern Nüchternheit.

Cover
Cover

Charmant und locker formuliert HAMBURG WOMAN also, wie Wagenknechts Deutschland aussehen soll. Das Stadtmagazin, dessen Cover übrigens Nadja Atwal ziert (die nicht nur aus Hamburger Polizeikreisen einiges zu berichten weiß, sondern mehr von den USA versteht als manch jahrelanger Korrespondent), trifft Wagenknechts entscheidende Ideen und Analysen und rückt sie in jenes verdiente Licht, das nicht links noch rechts, dafür an den Schnittstellen von Vernunft und Leidenschaft anzusiedeln ist. Vielleicht ist es nun Zeit für eine Querfront der politischen Klugheit… Daher darf gelten: ein Hoch auf politische Querdenkerinnen – und auf gelungene Stadtmagazine!

Aktuelle Entwicklungen der Psychopathologie

Buchcover
Buchcover

Internationale wissenschaftliche Neuerscheinung
Den wissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Konzepten in der Psychopathologie präsentiert der neue im New Yorker Wissenschaftsverlag Nova Science erschienene Band „Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, herausgegeben von Jeremy Williams. Der Band vereinigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, mit Schwerpunkten auf klinischer Persönlichkeitsforschung und Gewaltentstehung. In acht Kapiteln werden Daten und Überlegungen vorgelegt und zukünftige Forschungsperspektiven ausgewiesen.

Nicole Schluep und Junaid Hassim untersuchen im ersten Kapitel „Prognosis in Context“ Prognoseperspektiven im Hinblick auf psychische Störungen. Dabei werden sowohl Faktoren zur Prognosestellung vorgestellt als auch kritisches Denken bei der klinischen Einschätzung in den Blick genommen. Es zeigen sich Notwendigkeiten von Kontextualisierungen, d.h. von Perspektivenrelativierungen, die schwierig, weil individuell anpassungsbedürftig sind, zumal soziale und persönliche Mechanismen psychisches Erleben in einem kulturellen Gefüge definieren. Die Prognosestellung, wie die Autoren es formulieren, variiert notwendigerweise mit der Tatsache, auf welcher Seite des Zaunes sich die Konzeption von Psychopathologie befindet.

Nicole Schluep ist Dozentin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria und niedergelassen in privater Praxis.
Junaid Hassim ist klinischer Psychologe, Heilpraktiker und wissenschaftlicher  Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria.

Im zweiten Beitrag des Bandes „Pathological Personality Traits: The Darker Aspects of Personality“ widmen sich Gillian McCabe, Jennifer Vrabel und Virgil Zeigler-Hill jenen psychischen Anteilen, die im psychopathologischen Konzept der ´Dark Personality´ ihren Eingang gefunden haben. Mittels kategorialer und dimensionaler Zugänge werden hier Persönlichkeitsmerkmale diskutiert. Interessant ist, dass es eine Rückkehr zur alten psychoanalytischen Einsicht geben könnte, dass Persönlichkeitsmerkmale sich stets auf einem Kontinuum konstituieren, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren ging.

Gillian A. McCabe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Jennifer K. Vrabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Virgil Zeigler-Hill, Persönlichkeitsforscher mit den Schwerpunkten Selbstwert, Narzissmus und interpersonelle Beziehungen, Associate Professor am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan

Eine weitere Perspektive auf die „Dark Personality“ eröffnet András Láng in seinem Beitrag „Early Maladaptive Schema Domains and The Dark Triad: Core Beliefs Show What is Common and What is Distinct in Dark Personalities“. Jene Verhaltensmuster, deren sogenannte Eigenschaften Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus die ´Dunkle Triade´ begründen, werden auf ihre kognitiven Konstrukte hin untersucht. In seiner Studie arbeitet der Autor klinische und subklinische Merkmale heraus. Es lassen sich verschiedene Folgerungen ableiten, von denen die Hypothese frühkindlicher kognitiver Fehlanpassungen eine wesentliche ist.

András Láng, Assistant Professor an der Universität Pécs in Ungarn im Fachbereich klinische und Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsforschung

Das vierte Kapitel des Bandes behandelt das Thema Vermeidung. Santiago Barajas, Luis Garra und Marisa García-Pérez stellen in “Avoidance: Implications for Psychopathology and Advances in Research” das Phänomen der Vermeidung im psychopathologischen Kontext derer Vorzüge und Nachteile vor und verweisen auf die Bedeutung der Funktionalität von Vermeidungsvorgängen für Diagnostik und Behandlung sowie auf Zusammenhänge mit Angststörungen und Depressionen. Ihr Studienüberblick fächert Vermeidungsvorgänge in Subtypen auf, die in grundlegend verhaltensbezogene, kognitive und erfahrungsgenerierte unterteilt werden. Daraus ergeben sich Optionen für Einschätzung und Behandlung. Wichtig erscheint dabei, dass gleichermaßen Verhalten, Denken und Fühlen angesprochen werden sollten.

Santiago Barajas, klinische Forschung, Universitätsklinik Guadalajara, Spanien
Luis Garra, Psychologe an der Universität Castilla-La Mancha
Marisa García-Pérez, Ärztin für Anästhesie, Schmerztherapie, Universitätsklinik Valencia

Das Forscherteam um Giulio Cesare Zavattini an der medizinisch-psychologischen Fakultät der Sapienza Universität Rom behandelt in ihrem Beitrag “The Intergenerational Impact of Trauma: Individual, Family and Community Implications”, dem fünften Kapitel, die Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg, eine Thematik, die in den letzten Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt hat. Ihre Übersichtsarbeit führt Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt schweres Trauma zusammen und referiert individuelle psychische Funktionen ebenso wie familiendynamische und soziodynamische Manifestationen der Weitergabe. Es zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass Trauma-Aspekte transgenerational wirksam werden. In der Zusammenschau zeigt sich ebenso die erhebliche Bedeutung der Thematik, die lange Zeit vielfach unterschätzt wurde.

Giulio Cesare Zavattini ist Psychoanalytiker und leitet die Sektion dynamische und klinische Psychologie an der Sapienza Universität Rom
Antonio Gnazzo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sapienza Universität Rom
Mojgan Khademi, niedergelassene Psychoanalytikerin und Associate Professor an der Alliant International University, Alhambra, Calif.
Viviana Guerriero, Psychologin, Sapienza Universität Rom
Julie Manoogian, niedergelassene Psychotherapeutin in San Diego, Calif., affil., Alliant International University, San Diego
Ani Kalayjian, Kulturwissenschaftlerin an der Columbia University New York
Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin

Das sechste Kapitel fokussiert “On Pre- and Postnatal Mental Health Intervention Concepts” und trifft eine Bestandsaufnahme von Ansätzen früher Interventionen bei Mutter und Kind im vor- und nachgeburtlichen Bereich. Existierende Programme werden vorgestellt und der Forschungsstand beleuchtet. Vor dem Hintergrund einer materialistischen Sozialisationstheorie werden die Grundlagen um Einflüsse zu Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltentstehung erweitert; ebenso wird die  psychosomatische Bedeutung pränataler Prägungen im intrauterinen Lebensraum  einbezogen.

Götz Egloff, nach psychoanalytischer und psychotherapeutischer Ausbildung in Heidelberg, Mannheim und Düsseldorf niedergelassen in Mannheim
Dragana Djordjevic, nach Tätigkeit als Ärztin im Kreißsaal Gastwissenschaftlerin an der Universität Heidelberg und Stipendiatin für den Aufbau psychosozialer Behandlungskonzepte für Neugeborene im jugoslawischen Raum, Oberärztin an der Universitätsklinik Niš. Forschung zur Psychosomatik der Herzfrequenzvariabilität

Robert Emes Beitrag “Advances in the Study of Male Psychopathy” bildet das siebte Kapitel. Die nach wie vor männliche Domäne der Psychopathie, einem Konzept, das auch als Soziopathie beschrieben wird und aufs Engste mit dem Phänomen Gewalt verknüpft ist, rekapituliert der Autor hinsichtlich der ihr unterliegenden Forschung. Eme weist auf Entwicklungspotentiale und -grenzen von Persönlichkeit hin und verbindet Ergebnisse und Erfahrungen mit neurowissenschaftlicher Forschung. In seinem Beitrag werden    entwicklungspsychologische Fragestellungen neu aufgeworfen; und es zeigt sich auch, dass selbst Programme, die frühzeitig einwirken, im Bereich Delinquenz bislang wenig erfolgreich waren.

Robert Eme forscht zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom in den Grenzgebieten Neurowissenschaften, Pädiatrie und Endokrinologie. Als Professor an der Argosy University in Schaumburg, Illinois, betreibt er langjährig Forschung zu Delinquenz

Last but not least, “Biofeedback – an Evidence-based Approach to the Management of Two Major Health Diseases: Obesity and Perinatal Mood Disorders” behandelt als achtes und letztes Kapitel des Bandes ein effektives, doch bislang wenig beachtetes Verfahren zur Beeinflussung von Übergewicht und Essstörungen sowie der postpartalen Depression. In ihrer Vorstellung des Verfahrens weisen Gaia deCampora, Luciano Giromini und Richard Gevirtz auf die Bedeutsamkeit der Regulierung des Autonomen Nervensystems bei psychischen und psychosomatischen Störungen hin. Die insbesondere in der Postpartum-Phase auftretenden Stimmungsstörungen können frühzeitig beeinflusst werden, so wie auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Steigerung der Flexibilität mittels Selbst-Regulation möglich und wünschenswert ist. Biofeedback, richtig eingesetzt, kann eine wertvolle Intervention sein, gerade wenn weitergehende Maßnahmen nicht passend sind.

Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin
Luciano Giromini, Dozent an der Universität Turin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alliant International University, San Diego, Calif.
Richard Gevirtz, Alliant International University, San Diego, Calif., Forschung zur Herzfrequenzvariabilität

Der englischsprachige Band zeichnet sich durch eine ausgewogene Auswahl von Forschungsansätzen und -perspektiven aus. Sowohl Studien als auch theoretische Grundlagen werden vorgestellt. Die am Band beteiligten Wissenschaftler geben mit ihren Beiträgen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen der Psychopathologie als Untersuchungsgegenstand und als Konzeption. Möglichkeiten und Grenzen werden dabei deutlich, ebenso wie die Erkenntnisbemühungen an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften.

„Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, Jeremy Williams (ed.). Nova Science, New York. 225 pages, $ 160

 

Eine andere Einsamkeit – Hochsensibilität als Romanthema

von Maren Schönfeld

(c) Kadera Verlag
(c) Kadera Verlag

Während ich das Gefühl habe, dass unsere Welt immer lauter wird, immer voller mit Informationen und Nachrichten, stolpere ich über ein Buch, dessen Thema das genaue Gegenteil ist: Die Stille. Nicht die Stille in der Natur oder in der Nacht, sondern die Stille als ein Grundbedürfnis des Menschen. Es ist kein kontemplatives Sachbuch mit Anleitung zur Meditation, sondern ein Roman aus dem Hier und Jetzt, über eine Frau, die schon in ihrer Kindheit an dem Zuviel ihres Umfelds leidet. Als ihre Schwester geboren wird, melden die Eltern die dreijährige Xenia im Kindergarten an. Das Kind erlebt diesen Ort als die „Große Qual“ (S. 13), dessen Lärmmischung aus Geschirrgeklapper, Geschmatze, Geschrei und als Krönung der immer wieder erklingenden „Vogelhochzeit“ kaum auszuhalten ist. Ihre Versuche, sich innerhalb dieser Struktur zurückzuziehen, in Ecken zu verschwinden und allein zu spielen, scheitern an dem Eingewöhnungsprogramm der Erzieher. Xenia fühlt sich verkehrt, und dieses Gefühl soll ihr prägendes werden. Denn es wird nicht besser. Continue reading „Eine andere Einsamkeit – Hochsensibilität als Romanthema“

se Weisswörst änd se Brezl, Bäibie*

von Maren Schönfeld

Buchcover
Buchcover

Nach 30 Jahren hochdeutscher Dichtung, in der er sich vor allem durch eine sehr eigenwillige Art des Enjambements einen Namen machte, hat Anton G. Leitner nun seinen ersten Gedichtband in bairischer Mundart vorgelegt. Neben Fitzgerald Kusz mit Gedichten in fränkischer Mundart, häufig in der jährlich erscheinenden Zeitschrift DAS GEDICHT aus dem Anton G. Leitner Verlag vertreten, kenne ich eher plattdeutsch-hochdeutsche Bücher, was sicherlich an meinem nördlich gelegenen Wohnort liegt. Hat Kusz mir schon immer viel Freude bereitet, habe ich an Schnablgwax diebisches Vergnügen. Gar nicht so einfach für eine Hamburger Deern, das bairische Kauderwelsch auseinander zu tüdeln! Im Zuge dieser Bemühungen fange ich also an, laut zu lesen. Laut lesen, das ist ohnehin sehr gut bei Gedichten, und die mundartlichen Versionen laden förmlich dazu ein. Zwar gibt es auch Aufnahmen des Autors, jetzt sogar als Hörbuch, aber Spaß bringt es doch, es selbst zu versuchen. Oft kann man durch lautes Lesen hinter die Bedeutung der wirklich schräg aussehenden Wörter mit vielen Doppelmitlauten kommen. Schaut man dann auf die hochdeutsche Übersetzung, merkt man schnell, dass hier nicht einfach eine Handreichung zum Verständnis vorliegt, sondern dass Leitner auch in der hochdeutschen Variante seine satirische Komponente zu halten vermag. So wird aus „seina Oidn“ seine „Angetraute“ („Da Mezzgamoasda mediddiad“, S. 22/23) und „Gscheid Continue reading „se Weisswörst änd se Brezl, Bäibie*“

Cherchez la femme d´Orient… 

BuchcoverWeiblichkeit, Verschleierung, Bilderverbot – ganze Themenkomplexe eröffnen sich bei der Lektüre der herausragenden Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Skwirblies, die in der Reihe Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft im Tectum Verlag erschienen ist. So  geht es in dieser interkulturellen und transdisziplinären Studie um Individuierung und Repräsentation, um Eros und Macht, um Sex, Gender und Identität im Spannungsfeld der Geschlechter und Kulturen. Im muslimisch-christlichen Gefüge, in dem naheste Verwandtschaften im Gefolge aufgeheizter Extremismus-Debatten glatt vergessen werden (vgl. Bertau, 2005), ein wohltuender Blick aus wissenschaftlicher Perspektive.

Schleier und Verhüllung in ihrer Verarbeitung in den performativen Künsten nach dem 11.September 2001 stehen im Blickpunkt der Arbeit. Die Chiffren, in denen der Schleier verhandelt wird, sind weit-gefächert, mehr-schichtig, rück-bezüglich, und in ihrer Komplexität nicht zu unterschätzen, sodass sich zur Lektüre von Skwirblies´
Arbeit eine weitere Beschäftigung mit Semiotik, (Post-)Strukturalismus, Psychoanalyse und Performanztheorie empfiehlt. Der Erkenntnisgewinn ist groß. Aber auch ohne zusätzliche Intensivierung macht das Buch Spaß, ein gewisses Grundwissen vorausgesetzt; und es gibt Einblicke in hochinteressante zeitgenössische Kunst-Aktionen. Die Verschleierungsdarstellungen im medial-künstlerischen Kontext so verschiedener Inszenierungen wie Princess Hijabs „Hijabizing“-Graffitis, dem Kurzfilm „Submission“ von Ayaan Ali und Theo van Gogh, den an Eve Enslers Vagina-Monologe angelehnten „Veiled Monologues” von Adelheid Roosen, und der Performance „Manta“ von Héla Fattoumi und Eric Lamoureux werden untersucht, und es wird deutlich, wie die extrakorporale Trennung der Geschlechter in der durch den Schleier symbolisierten geschlechtlichen Ordnung zum Gegenstand innerer und äußerer Auseinandersetzung wird.

Verhüllung wird hier als ´Differenzkonstruktion´ (Schneider, 2011) verhandelt, wobei einerseits das muslimische Besondere, der Schleier als Ausdruck der Sakralität des weiblichen Körpers (v.Braun, 2016), aber auch das differenzstiftende Allgemeine betrachtet werden. Der Schleier fungiert als Membran zwischen Innen und Außen, ähnlich der psychoanalytischen Auffassung des Randes als körperlich-anatomischer Grenze zwischen Innen und Außen, die die ent-scheidende Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich bildet. Analog erinnert dieser nicht nur an die in Südeuropa weiterverbreitete weibliche Praxis der Nutzung des Fächers (der gewiss nicht nur klimatische Gründe hat), sondern verweist auch auf Erkenntnisse des nur sehr selten anzutreffenden Faches der Psycho- und Soziogeographie, das mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Kasseler Forscher Peter Jüngst ihren renommiertesten Vertreter verloren hat, sowie auf die ebenso seltene Ozeanographie in ihren psychosozialen Bezügen. Fächer, Schleier, aber auch Teppiche und Vorhänge sind in manchen Kulturräumen nicht ohne Grund fester Bestandteil von In- und Exterieur; verstanden als Barrieren, die mit Offen- und Geschlossenheit zu spielen wissen (vgl. Critchley & Webster, 2014), weisen sie weit über die alltägliche Wahrnehmung derer hinaus. Eingang in die Alltagskultur haben sie ohnehin gefunden: Schuh- und Wäsche-Hersteller wissen um dieses Spiel, und wenn der größte Stoffteil eines Wäschestücks aus einem an der Vorderseite locker vernähten Stück Gaze besteht, heißt er ‚avec un voile‘ – mit Schleier.

Verbergen und enthüllen ist also das Thema, und auch das Meta-Thema der im Band vorgestellten Kunst-Aktionen. Gibt es etwas zu enthüllen? Oder sind die Inhalte in den Formen, den Ritualen, in der Praxis aufgegangen? Oder sowohl als auch? Das Wechselspiel von (Post-)Kolonialismus und kultureigenem Feminismus ist oft schillernd, selten leicht zu fassen, und Rollenzuschreibungen sowie Selbst-Erleben sind bei weitem nicht so eindeutig wie man im Westen gerne annehmen möchte.

Zum Thema lassen sich historisch etliche Querbezüge in Hoch- und Popkultur herstellen. Einer der interessantesten ist gewiss Nathaniel Hawthornes Kurzgeschichte „The Minister´s Black Veil“ von 1837, in der das christliche Konzept der Erbsünde einer tiefenpsychologisch anmutenden Kritik unterzogen wird. Die Gemeinde muss sehen lernen; sie erblickt Eigenes im Anderen, was die Projektion als Maßnahme zur Abwehr der eigenen Unzulänglichkeit deutlich werden lässt. Und auch Pauline Réages 1954 erschienene „Geschichte der O“, diese einflussreiche Fabel von Unfreiheit und Sadomasochismus, sowie „Emmanuelle“ von Emmanuelle Arsan (1959) und „Neuneinhalb Wochen“ von Elizabeth McNeill aus dem Jahr 1978 geben erzählerische Einblicke in die westliche Spätmoderne, in der Verschleierungen in der einen oder anderen Form auftauchen. Interessant ebenso, dass auch diese Werke alle von Rollen, Sex und Beziehung handeln, während zur Jahrtausendwende BDSM rasch in den anomischen Alltag einwandert (Illouz, 2013). Im westlich-postmodernen Kontext kann dies bedeuten: “The paradox of sexual liberation is that when everything is possible, nothing is possible. When we are liberated from all those dreary old bourgeois repressive constraints, we are suddenly disoriented and unable to act. The hidden consequence of sexual freedom is impotence. (…) But the truth is, it is only repression that keeps desire alive” (Critchley & Webster, 2014).

Von der Gesellschaftsdiagnose zum Subjekt und wieder zurück; dies sind die potentiellen Stationen der behandelten Stoffe ganz allgemein – ähnlich der Sozialwissenschaftlerin Reyhan Şahin, die mittels ihres Alter Ego als Lady Bitch Ray auf die ´pussisi delik´ als östlich-westlich-postmoderne Inszenierung zugreift – und des dichten Bandes von Skwirblies im Besonderen. Skwirblies bezieht  auch die ‚embodied science‘ mit ein, die Semiotik nicht losgelöst, sondern in den realen Körpern konzipiert – die dringend notwendige Erweiterung eines sonst körperlosen Diskurses. Wo liegt die Lust? Die libidinöse Aufladung? An den Rändern, würde wohl auch Lacan sagen und wiederum auf das Zwischen von Innen und Außen verweisen. Und wo liegen Macht und Gewalt? Das Ich und der Andere gehen immer eine soziale Beziehung ein, der Gewalt vorgängig sein könnte – nimmt man an, dass die Möglichkeitsbedingung der Herausbildung des Ich gegenüber dem Anderen bereits Gewalt darstellt (vgl. Boelderl, 2001). Erst die spätere Ausgestaltung dessen, was folgt, kann Milderungen schaffen.

„Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“, spekulierte Nietzsche (vgl. Schulte, 2000). Die Annäherung derer in Skwirblies´ Arbeit verweist auf die Darstellung der Vulva, der weiblichen Scham, die verschleiert wird, weil dahinter das Nichts lauere – wie es die orthodoxe Psychoanalyse sieht –, im Gegensatz zum männlichen Genital, das sichtbar sei. Das ist der eigentliche biologische Skandal, aus dem dann ein sozialer wird – aber womöglich nicht werden muss? Oder doch in der psychischen Tiefenschicht bleibt? Ähnlich zitiert Skwirblies auch Joan Rivière,  die mit ihrer Theorie der weiblichen Maskerade vor vielen Jahrzehnten ein gewisses Aufsehen erregte. Ist dahinter nichts, oder doch etwas?! Dies ist und bleibt die Frage, die nun auch Männern gestellt werden darf. Deren Unentscheidbarkeit muss zu praktischen Konsequenzen führen. Der tiefere Sinn von Gleichstellung und Genderdebatte, auch aus psychoanalytischer Sicht, ist die Chancengleichheit, und nicht die etwaige Verleugnung biologischer Gegebenheiten. Nur: nicht alles was sich biologisch gebärdet, ist biologisch. Erst an dieser Stelle beginnt die Debatte. Man muss nicht Camille Paglia sein; doch eine rein konstruktivistische Anthropologie ohne Essentialismus, sprich Biologie, ist und bleibt schwierig. Dies ist aber nicht der Autorin entgegenzuhalten, die eine in sich hoch konsistente Arbeit vorlegt, sondern der Ausklammerung von Körper, Leib, Begehren in Teilen von Semiotik und Strukturalismus, die Paglia wohl der jüdisch-christlichen Überbewertung von Sprache zu Ungunsten des Körperlichen zuschreiben würde. Dafür greift Skwirblies auch die Phämonenologie des Körperlichen auf, die Maurice Merleau-Ponty bereits zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausarbeitete, und die erhebliche Anknüpfungspunkte bietet.

Festzuhalten bleibt: Der Band von Skwirblies vollbringt glänzend den Balance-Akt zwischen Theorie und Praxis. Die exzellente Auswahl an szenischen Texten bzw. Aktionen und deren Bearbeitung lassen nicht zu wünschen übrig und bieten reichlich Diskussionsstoff. Und auf relativ knappem Umfang solch einen hohen inhaltlichen Ausschöpfungsgrad zu erreichen ist ungewöhnlich. Der Band ist, obschon komplexer Thematik, relativ leicht lesbar und denen zu empfehlen, die hinter die Oberflächen schauen möchten, um Verborgenes oder eben weitere Oberflächen – hinter, vor, oder auf den Oberflächen – zu entdecken.

 

Literaturhinweise:

Bertau, Karl (2005). Schrift – Macht – Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlich-muslimischen Mittelalters. Hg. Sonja Glauch. Berlin/New York: Walter deGruyter.

Boelderl, Artur R. (2001). Der Andere als ´social alter´. Die Ethik der Psychohistorie im Blick auf das Gewaltproblem. In: Kurth, W. & Rheinheimer, M. (Hg.). Gruppenfantasien und Gewalt. Jahrbuch für psychohistorische Forschung 1. Heidelberg: Mattes, S. 37-46.

Braun, Christina von (2016). Die symbolische Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches – Säkularisierung und Post-Sexualität. In: Sexuologie, Jg. 23, 1-2, S. 39-47.

Critchley, Simon & Webster, Jamieson (2014). Reproductive Wrongs. In: Playboy (US), May 2014, A-Z Special Edition, p. R.

Illouz, Eva (2013). Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und ´Shades of Grey´. Berlin: Suhrkamp.

Schneider, Irene (2011). Der Islam und die Frauen. München: C.H. Beck, S. 234-239.

Schulte, Günter (2000). „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“ (Nietzsche). Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Was ist Wahrheit?“, Universität Köln, 12.4.2000.

 

Wo der Atlantik auf Europa trifft – „Die“ Fotoausstellung im Internationalen Maritimen Museum in der Hafencity – Kaispeicher B

von Uta Buhr

Hafenmole bei stuermischer See in Tapia de Casariego, harbour-mole at stormy sea in Tapia de Casariego
Hafenmole bei stuermischer See in Tapia de Casariego, harbour-mole at stormy sea in Tapia de Casariego

Wer den beeindruckenden Bildband „Europas Atlantikküste“ der beiden bekannten Fotografen Michael Pasdzior und Peter Haefcke auf sich hat wirken lassen, sollte sich die Ausstellung in der Hafencity nicht entgehen lassen. Das denkmalgeschützte rote Backsteingebäude mit seinen zahlreichen Exponaten zu 3000 Jahren Schifffahrtsgeschichte ist genau der richtige Ort für diese einzigartige Sonderausstellung. Eine Kunstexpertin sprach begeistert von „Bildern, die Wellen schlagen.“

Zwei befreundete, an der „Waterkant“ aufgewachsene und vom Meer faszinierte Fotografen haben das Projekt der europäischen Atlantikküste entwickelt und in einem mehrjährigen Zeitraum gemeinsam bereist. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop großartiger Ansichten der verschiedenen Länder an den Gestaden des Atlantiks. Continue reading „Wo der Atlantik auf Europa trifft – „Die“ Fotoausstellung im Internationalen Maritimen Museum in der Hafencity – Kaispeicher B“

Balancieren lernen mit einem Buch?

von Maren Schönfeld

Buchcover
Buchcover

Das ist meine erste Frage, nachdem ich den Buchtitel gelesen habe. Aber mir wird schnell klar: Das ist gar kein Buch! Jedenfalls keins, das man einmal durchliest und ins Regal stellt. Nicht mal eins, das man gemütlich bei Tee und Keksen, mehr oder weniger konzentriert, nach Belieben konsumiert. Nein: Das Buch fordert mich heraus. Schon auf Seite 18 lädt es mich ein, im Wohnzimmer zu balancieren, und auf Seite 21 finde ich mich schreibend wieder! Ich merke bald: Diese Seiten können mein Leben verändern, mit diesem Buch kann ich etwas, kann ich mich verändern. Und zwar nicht im Sinne viel gepriesener Selbstoptimierung zur Erzielung höherer Leistungen – wäre vielleicht auch als Nebenfaktor möglich –, sondern um in meine Balance zu kommen.

Aber der Reihe nach: Alexandra Bischoff stellt in diesem kurzweiligen, verständlichen und eloquent geschriebenen Buch Elemente aus Continue reading „Balancieren lernen mit einem Buch?“

Aschenputtel reloaded: Das Mittwochszimmer

Coverbild
Coverbild

von Maren Schönfeld

Zwei Mädchen kommen in der Silvesternacht 1954/1955 zur Welt, und nur der Name Cornelia eint sie. Ansonsten gehören sie in verschiedene Welten, was zu der Zeit noch enorm schwerwiegt. Die eine Cornelia wird in eine „anständige“ Familie geboren, ein hässliches Kind. Die andere, still und niedlich, ist als uneheliches Kind des Fräulein Hertz, wie die ledige Mutter im Krankenhaus angesprochen wird, eine „Schande“. Schon in den ersten Lebenstagen der Cornelias bekommen Leser*innen einen Eindruck der damaligen Verhältnisse, und bis Seite 20 hofft man mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass dieses Aschenputtel doch noch irgendwie das große Los ziehen wird – auch wenn sie dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hat. Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Wende ist nur der leibliche Vater, den Fräulein Hertz beim Fasching traf und der „das Gesicht eines Prinzen aus tausendundeiner Nacht“ (S. 21) hatte, was Continue reading „Aschenputtel reloaded: Das Mittwochszimmer“

Zugänge zur Männerseele

Selbsterfahrung MannAndreas Schick, langjähriger Heidelberger Präventionsforscher und Männertherapeut, hat ein überfälliges Buch vorgelegt, das Theorie und Praxis des therapeutischen Umgangs mit der männlichen Psyche schlüssig miteinander verbindet. Ebenso leicht zugänglich wie undogmatisch angelegt, nutzt der Autor die Stärken von C.G. Jungs Archetypenlehre eindrucksvoll, um zu den lebensweltlichen Belangen heutiger Männer vorzudringen und diese therapeutisch-beraterisch zu handhaben. Diese Belange werden in ihren Schattierungen und entlang ihrer Schnittpunkte durch Fallvignetten illustriert, sodass die Verbildlichungen, die auf diese Weise gelingen, als eindrucksvolle Hintergrundfolie für die Arbeit mit Männern im Einzel- und Gruppensetting dienen können. Die an W. Mauckners initiatisch-phänomenologischem Konzept orientierte Männer-Arbeit strebt dabei sowohl eine geschärfte Wahrnehmung als auch die Rückbesinnung auf männliche Ressourcen an, die, weitab von chauvinistischen Klischees liegend, im Alltag verloren zu gehen drohen. Daher ist Schicks knappes, doch dichtes Werk hochinteressant und zeigt, dass überdauernde Konzeptionen jenseits des akademischen Mainstreams Geltung beanspruchen können, ohne esoterisch sein zu müssen. Der Autor versteht es, immer die männliche Lebenswelt im Blick zu haben und sich nicht in Theorie zu verlieren, diese im Gegenteil jederzeit nutzbar zu machen, so weit dies ein Buch überhaupt im Gegensatz zu in-vivo-Erfahrungen bieten kann. Um genau diese in der Männer-Arbeit zu ermöglichen, empfiehlt sich dieses Buch Männern und Frauen in unterschiedlichsten Arbeitsfeldern.

Allein mit der seltenen Krankheit EDS

Cover
Cover

von Maren Schönfeld

Karina Sturm legt mit diesem Erfahrungsbericht mit Tagebucheinschüben eines der ersten, wenn nicht gar das erste deutschsprachige Buch aus Betroffenensicht über das Ehlers-Danlos-Syndrom, Halswirbelsäuleninstabilität und die damit verbundenen Probleme vor. Sie schildert ihre schier endlosen Versuche, auf klassischem Wege und schließlich auch unter Einsatz ihrer eigenen Ersparnisse zu einer Diagnose und anschließenden Therapie zu kommen. Dieser Weg des Resignierens und immer wieder Aufstehens führt sie schließlich bis in die USA. Kaum zu glauben, dass die Autorin erst Ende Zwanzig ist und bereits vier Jahre ihres jungen Lebens in den Kampf investiert hat, und zwar nicht nur für sich allein. Sie hat sich vielmehr zum Ziel gesetzt, nicht nachzulassen, bis ihre seltene Krankheit sehr viel bekannter wird, und „zwar so lange bis in Continue reading „Allein mit der seltenen Krankheit EDS“

Kaleidoskop mit Morgenstern

von Maren Schönfeld
Foto: Katharina Jaglewicz

Kaleidoskop-Akteure
B. Bolduan, B. Cleve, B. Halenta, V. Maaßen, M. Bühler, Stella’s Morgenstern (v.l.n.r.)

Wer bei Bad Segeberg an Karl May denkt, hat die Buchhandlung „Wortwerke“ noch nicht kennengelernt. Es ist viel mehr als eine Buchhandlung, denn das Gesamtkonzept aus der Gastronomie „Blattwerk“, die mit selbstgemachten Kuchen und kleinen Speisen sowie einem breiten Teesortiment aufwartet, dem Bücherzimmer mit „Schmökerexemplaren“ und Sesseln vor den Regalen, den Ausstellungsflächen für Bilder und Kunsthandwerk ist eigentlich schon für sich ein Kaleidoskop. Entsprechend früh erscheinen die Gäste vor der für den Abend angesetzten Veranstaltung, um sich auf den prächtigen Sofas und Holzstühlen vor dem Ofen niederzulassen und Tee mit Continue reading „Kaleidoskop mit Morgenstern“

Achtsamkeit und Ganzheit

von Maren Schönfeld

Buchcover
Buchcover

Weihnachten und Hektik? Nö. Schauen Sie doch mal nach diesem schönen Haiku-Buch …

Eine Gruppe Kraniche bewegt sich auf dem in Grautönen gestalteten Buchdeckel. Sie sind wohl mit Tusche gezeichnet, filigrane Vögel, die als erstes meine Aufmerksamkeit fangen und mich veranlassen, das kleinformatige, quadratische Hardcover in die Hand zu nehmen und hineinzuschauen. Pro Seite erwarten mich höchstens zwei Haiku. Die Leerräume erlauben Konzentration auf einen einzelnen Text. Susanne Leiste-Bruhn hat Haiku geschrieben, die eine ruhige, medidative und melancholische Stimmung erzeugen. Die nach Jahrenszeiten angeordneten Haiku können Begleiter durch ein Jahr sein, kleine Zufluchten in ein beschwichtigendes Innehalten, Continue reading „Achtsamkeit und Ganzheit“

Vom prallen Leben – Alltagsgedichte mit Amelie Fechner und Hilke Billerbeck (Gitarre)

A. Fechner u. H. Billerbeck,  Foto: Maren Schönfeld

Donnerstagabend um halb acht in Blankenese. Die Straßen sind ziemlich leer, was möglicherweise an dem wichtigen Fußballspiel des HSV liegt. Dennoch finden sich rund 40 Menschen in der Buchhandlung Kortes ein, um die Lesung von Amelie Fechner aus ihrem Buch „Alltagsgedichte – Das pralle Leben“ zu hören. Lyrik ist noch immer nicht so tot wie sie geredet wird. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe, die Buchhandlung hat die Bestuhlung offen genug hingestellt, dass man hindurchgehen und die Bücherregale betrachten kann. Trotzdem sind die beiden behaglichen Räume gut gefüllt. Ich sitze mit gemischten Gefühlen hier. Mein Rezensionsexemplar kam wegen des Poststreiks Continue reading „Vom prallen Leben – Alltagsgedichte mit Amelie Fechner und Hilke Billerbeck (Gitarre)“

Freud und Rank

 

Buchcover
Buchcover

Rezension zu E. James Lieberman, Robert Kramer: Sigmund Freud und Otto Rank. Ihre Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906-1925. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2014.

Die vielleicht engste Beziehung in der ersten Generation der Psychoanalyse bestand zwischen deren Begründer Sigmund Freud und dessen wenig beachtetem Meisterschüler Otto Rank, die immerhin 29 Jahre Altersunterschied voneinander trennte. Umso verbindender ihre lang währende gemeinsame Arbeit an den Grundfesten der Psychoanalyse, wenn im Verlauf auch Trennendes in den Vordergrund rückte, vielleicht rücken musste. Die Autoren E. James Lieberman – der auch für die großartige Biographie „Otto Rank – Leben und Werk“ (Gießen, 1997) – verantwortlich zeichnet, und Robert Kramer – langjähriger politischer Berater während der Clinton Administration – haben den ungewöhnlichen Weg einer Historiographie entlang des Briefwechsels der Protagonisten gewagt, und das Experiment ist geglückt.

Die Geburtserfahrung; die Mutterfixierung, die der Urverdrängung gleichkommt; die verlorene Mutter-Kind-Beziehung, die in der Mutter-Imago als Phantasma von Angst und Sehnsucht – eins gibt es nicht ohne das Andere – wieder auftaucht: all dies sind Grundpfeiler heutigen psychoanalytischen Verstehens, die auf Ranks Denken zurückgehen. Jene Bilder, die dem Leser dieser Zeilen beim Gedanken an das, was heute Psychotherapie genannt wird, durch den Kopf gehen, was aus unzähligen Filmen, Texten, Berichten und vielleicht aus der eigenen Erfahrung bekannt ist, wäre nicht nur ohne Freud, sondern auch ohne Rank so nicht möglich gewesen. Zumindest sähe es anders aus, fühlte sich anders an, hätte sich mit anderen Akzenten entwickelt. Rank hat entscheidende Impulse an Carl Rogers gegeben, dessen Gesprächspsychotherapie heute noch in den USA die weiteste Verbreitung hat und neben der Psychoanalyse im Liegen auf der Couch über Jahrzehnte hinweg maßgebend war. Erst postmoderne konstruktivistische Ansätze modifizierten bzw. definierten Therapie teilweise in neue Richtungen, dies zunächst mit mitunter ähnlich bahnbrechenden neuen Perspektiven, von denen viele jedoch mittlerweile wieder relativiert wurden. Wenn man so will, landete man in den letzten Jahren auf einem gemeinsamen psychodynamischen Nenner, der in der heute noch in Deutschland am weitest verbreiteten Therapieform, der sogenannten tiefenpsychologischen Psychotherapie, die ein- bis zweimal pro Woche im Sitzen stattfindet, ihren wohlbegründeten Sinn gefunden hat. Ranks vielleicht bedeutendstes Werk jedoch, das „Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ (1924) führt bis heute ein Schattendasein, zu problematisch erscheint der Gedanke an ein Real-Trauma der Geburtserfahrung. Dieser führte letztlich auch zum Bruch mit Freud.

Die Autoren Lieberman und Kramer, die bereits 1997 auf der Heidelberger Tagung „Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse“ eindrucksvoll die Person Rank und ihr Wirken vorgestellt hatten, verknüpfen 250 Briefe aus der Korrespondenz Freud-Rank mit den Persönlichkeiten, der Politik und den Wissenschaften ihrer Zeit. Sie zeichnen dabei die Entwicklung psychoanalytischen Denkens und das der zwei Protagonisten (und Antagonisten), die das Denken der westlichen (und auch von nicht unbedeutenden Teilen der östlichen) Welt maßgeblich geprägt haben, eindrucksvoll nach. „The Letters of Sigmund Freud and Otto Rank: Inside Psychoanalysis“, bei der Johns Hopkins University Press 2011 in Baltimore erschienen, wurde von Antje Becker hervorragend ins Deutsche übersetzt und dankenswerterweise vom Psychosozial-Verlag in Gießen veröffentlicht. Das Buch gibt einen hochinteressanten, lebensnahen Einblick in die Psychoanalyse und ihre Entstehungsgeschichte.

Uwe Friesel: „Zwischen allen Stühlen oder Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten?“ Das neue Buch mit Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland

Von Urs Wiefele

Uwe Friesel stellte in der Hansestadt Salzwedel sein neues Buch vor.

Zwischen allen Stühlen ist der Platz des freien Autors

Der Autor, von Journalisten umlagert bei der Vorstellung seines neuen Buches im Kulturhaus der Hansestadt Salzwedel
Der Autor, von Journalisten umlagert bei der Vorstellung seines neuen Buches im Kulturhaus der Hansestadt Salzwedel

…ist ein aufmüpfiger und selbstbewusster Titel, wenn man bedenkt dass das Wort „Essay“, vom Altfranzösischen essai abgeleitet, zur Zeit seines Erfinders
Montaigne (1533 bis 1592) vielmehr Vorsicht, Rücksicht und verdecktes Fragen meinte. Ein Essay sei ein bloßer Denkversuch, keineswegs die Behauptung einer Wahrheit, definierte Montaigne, um den Folgen der gefährlichen Dogmen der Kirche, die seinem vogelfreien Denken diametral entgegenstanden, nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Nietzsche, der 300 Jahre später am radikalsten an den Dogmen rüttelte, bewunderte in ihm einen frühen Vorgänger, ohne den modernes aufgeklärtes Denken und Schreiben gar nicht möglich sei. Continue reading „Uwe Friesel: „Zwischen allen Stühlen oder Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten?“ Das neue Buch mit Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland“

Alphabetisierung der Empfindungen

von Götz Egloff

Rezension zu Ulrich Schultz-Venrath, Lehrbuch Mentalisieren – Psychotherapien wirksam gestalten, Klett-Cotta, Stuttgart, 2013.

Das Cover
Das Cover

Ein beeindruckendes Kompendium zum Themenkomplex des Mentalisierens legt Ulrich Schultz-Venrath vor. Im theoretischen Teil zeichnet der Autor die Entwicklung des Konzepts aus der französischen psychosomatischen Schule, über das Alexithymie-Konzept, hin zur Fonagy-Gruppe nach, gewahr der verschiedenen Betonungen körper-orientierter Ansätze. Der praktische Teil bietet reichhaltige Ausarbeitungen und Beispiele nicht nur zu verschiedenen Störungsbildern, sondern in verschiedensten therapeutischen Settings. Deutlich wird immer wieder die Grundlage der psychoanalytisch-interaktionellen Methode des Göttinger Modells (Heigl/Heigl-Evers, König), die letztlich auch den Weg zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) bahnte.
Crits-Christoph, Luborsky, Gabbard fallen spontan ein, pragmatische Analytiker; allen voran Sullivan mit seiner leider weithin vergessenen, doch brillanten interpersonellen Psychoanalyse. Continue reading „Alphabetisierung der Empfindungen“