Sexuelle Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie

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Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017
Die Neuerscheinung des vom niederländisch-amerikanischen Pharmakologen Berend Olivier herausgegebenen Bandes „Sexual Dysfunction“ soll Anlass zu einem kurz gefassten Überblick über sexuelle Funktionsstörungen bei Männern geben, bevor auf den Stand der wissenschaftlichen Forschung in jenem Band eingegangen wird. Denn auf dem Markt der Potenzstörungen ist viel los, und es gibt Fragen über Fragen.

Nicht nur bei Erektionsstörungen oder vorzeitiger Ejakulation, die die Hauptprobleme der sog. Potenzstörungen bei Männern darstellen, sondern auch zur allgemeinen sexuellen Leistungssteigerung werden derzeit einige Wirkstoffe angeboten. Als Alternative zu den viel genutzten PDE-5-Hemmern wie Viagra® befinden sich auch naturähnliche Wirkstoffe auf dem Markt, über deren Nutzen-Profil jedoch wenig bekannt ist. In jedem Fall, und insbesondere zur bloßen Leistungssteigerung, gilt es bei jeder Dosierung nicht zu übertreiben und vorher ganz offen den Arzt des Vertrauens zu befragen.

Bei einer Erektion entspannt sich über die Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO) die glatte Muskulatur im Schwellkörper des Penis, sodass Blut in den Schwellkörper einströmen kann. Das Enzym Phosphodiesterase-5 (PDE-5) hingegen baut zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP) ab, was das Abklingen der Erektion einleitet. PDE-5-Hemmer verhindern diesen Abbau, sodass der sexuelle Akt ausgeführt werden kann, solange ein sexueller Reiz besteht. Die Wirkungsdauer beträgt, je nach Wirkstoff und Dosierung, zwischen 4 bis 36 Stunden. Bereits seit einigen Jahren gilt die sogenannte bedarfsorientierte Medikation als First-Line-Therapie (1). Bislang machte dies allerdings Sex nach Plan erforderlich und schränkte die Spontaneität somit erheblich ein. Die Einführung der sogenannten Low-dose-Intervention mit einer niedrigen, aber regelmäßigen Dosierung über einen hinreichenden Zeitraum macht unter bestimmten Voraussetzungen spontanen Sex auch bei erektiler Funktionseinschränkung möglich (2). Bei gleichzeitiger Einnahme von α-Rezeptoren-Blockern, Nitraten und ähnlichen Substanzgruppen besteht aber nach wie vor Kontraindikation.

Als Alternative zu PDE-5-Hemmern bieten sich nun naturähnliche Wirkstoffe an, deren Nutzen zumeist teils schwach, teils umstritten ist. Immer wieder, und daher kann sich ein Versuch lohnen, wird aber von individueller Wirksamkeit berichtet.

Ein kurzer Überblick dazu:
Phentolamin: Nutzen schwach bis umstritten (3)
L-Arginin: schwach bis umstritten (3)
roter Ginseng: schwach bis umstritten (3)
Yohimbin: wirksam bei leichten und psychosomatischen Erektionsstörungen; der seit nun etwa 100 Jahren angewendete α2-Antagonist Yohimbin wird als einigermaßen wirksam eingestuft; ist man also tendenziell gestresst, kann man dies probieren

Pflanzliche Alternativen können sein:
Agnus castus und Acidum picrinicum: als Viragil® zur psychophysischen Therapie bei männlichen Erschöpfungszuständen, da insgesamt abzielend auf Wiederherstellung des Sympathicus-Parasympathicus-Gleichgewichts
Rutin: steigert die Kapillarresistenz; eigentlich gegen Venenerkrankungen; gelegentlich wurde von verbesserter Erektionsfähigkeit berichtet; z.B. Tornix®

Was gibt es noch?
Durex Intensiv-Gel: als Stimulationsgel für Frauen gedacht, wird es auch als potenzsteigerndes Mittel von Männern verwendet; die darin enthaltene Aminosäure L-Arginin erscheint im Gel wirksamer als angenommen, fördert die NO-Bildung und wird auch bei unerfülltem Kinderwunsch und zur Verbesserung der Spermienqualität empfohlen
Taurumin: ein Nahrungsergänzungsmittel, über dessen Wirkung fast nichts bekannt ist; das darin enthaltene L-Arginin wirkt nur in Hochdosierung
Pro Man Boost: hier gilt gleiches wie für Taurumin
L-Citrulin: das dem L-Arginin verwandte L-Citrulin, das den Vorteil hat, vor Ankunft am Zielort nicht so stark abgebaut zu werden wie L-Arginin weist nach einer italienischen Studie gute Wirksamkeit bei leichten Erektionsstörungen nach (4); die Wirkung ist mit PDE-5-Hemmern zwar nicht vergleichbar, wird aber immer wieder einmal als gut beurteilt; nur bei relativ leichter erektiler Dysfunktion ist L-Citrulin zu empfehlen, zumal unklar ist, ob die Wirkung eher physiologisch oder psychologisch ist

Das von den Gynäkologen Daniel Stein und Nancy Bruemmer entwickelte ExtenZe galt kurze Zeit als vielversprechend; es enthält den Östrogen-/Testosteron-Vorläufer DHEA, der im Anti-Aging-Bereich eingesetzt wird. Rasch jedoch wurde von unbekannten Gefahren und dem Verdacht krebserregend zu sein berichtet (5).

Ein etwas anders gelagertes Problem stellt die Ejaculatio praecox (vorzeitiger Höhepunkt) dar. Hier gibt es verhaltenstherapeutischen Techniken, die erlernbar sind und mit denen die Verzögerung des Höhepunkts erreicht werden kann. Sowohl in Einzel- als auch Paartherapien können zudem Strategien herausgearbeitet werden, mit denen die Neigung zur vorzeitigen Ejakulation abgebaut werden kann. Dies nimmt Zeit und Mühe in Anspruch, kann allerdings anhaltende Erfolge bringen. Außerdem können auch körperliche Faktoren Auswirkungen auf die Dauer des Akts haben. Unbeschnittene Männer sollten eine Untersuchung auf ein Frenulum breve (verkürztes Vorhautbändchen) vornehmen lassen, da dies oft unbemerkt zur vorzeitigen Ejakulation beitragen kann (6). Es gilt also einige Faktoren zu berücksichtigen, bevor man einen medikamentösen Einsatz startet. Dass dieser lohnenswert sein kann, wie mit Dapoxetin, das als Priligy® noch nicht lang auf dem Markt ist, wird immer wieder bestätigt. Dieses Medikament beeinflusst den Serotoninspiegel, der auf die Ejakulationszeit wirkt (7).

Dem vorzeitigen Höhepunkt kann also mit Dapoxetin beizukommen sein; bei vorhandener Indikation kann für Männer mit erektiler Dysfunktion eine kurzzeitige regelmäßige Niedrigmedikation mit einem PDE-5-Hemmer wie Tadalafil in Betracht gezogen werden. In jedem Fall muss eine gründliche Anamnese erfolgen, und fast jede Medikation sollte von körperlichem Training oder Stressbewältigungsstrategien flankiert werden, was bei erektiler Dysfunktion auch hinsichtlich der häufig assoziierten Hypertonie hilfreich ist (8).

Einen der drei Kernthemenbereiche in Berend Oliviers Neuerscheinung „Sexual Dysfunction“ stellt dann auch die männliche erektile Dysfunktion in ihrer Assoziierung mit eben jenen kardiovaskulären Beeinträchtigungen dar, die sich oft als stressrelevante Faktoren wiederfinden. Lebensalter und hohe Medikamenteneinnahme gelten hier als besonders relevant; werden Herz-Kreislauf-Parameter jedoch medikamentös gut eingestellt, verbessert sich meist auch die erektile Dysfunktion. Diese und weitere Zusammenhänge werden beleuchtet, wie der Band insgesamt derzeitige Forschungsergebnisse zu sexuellen Funktionsstörungen mit dem Schwerpunkt auf Störungen bei Männern vorlegt. Zwei weitere Kernthemenbereiche stellen Hypogonadismus, ebenso wichtig für sexuelle Funktionsstörungen bei Männern, sowie psychiatrisch-psychosomatische Aspekte sexueller Funktionsstörungen bei Männern und Frauen dar. Beim ersten Thema steht vor allem die Individualisierung der Therapie im Vordergrund, bei letzterem die Wechselbeziehungen zwischen sexueller Dysfunktion, Depression und Pharmakologie. Die Erforschung der Zusammenhänge im psychiatrisch-psychosomatischen Bereich steht bei den sexuellen Funktionsstörungen noch am Anfang, gleichzeitig kündigt sich mittels der translationalen Medizin, die die Ergebnisse aus der Grundlagenforschung direkt in klinische Anwendung überführt, Vielversprechendes an. Beispielsweise ist in der Praxis die Gabe von Dapoxetin bei Ejaculatio praecox sehr oft hilfreich, aber nicht unproblematisch. Zu diesem und assoziierten Bereichen erfolgen eine Zusammenfassung von Studienergebnissen sowie kulturspezifische Überlegungen zu Erektion und Potenz.

Der Markt der wissenschaftlichen Neuerscheinungen zum Thema ist um eine Veröffentlichung reicher: Berend Oliviers konziser englischsprachiger Band „Sexual Dysfunction“ liefert ausführliche Übersichten über den Stand der Forschung. Wenn das Werk auch in erster Linie auf Mediziner und verwandte Berufe abzielt, macht es dessen Ergebnisse auch dem wissenschaftlich gebildeten Laien zugänglich. Zudem zeigt sich, wie groß der weitere Forschungsbedarf ist.

Berend Olivier (ed.). Sexual Dysfunction. InTech Publ., Rijeka, 2017

Literaturverweise:

  • Stadler, T.C., Stief, C.G., Becker, A.J. (2011). Medikamentöse Therapie der Erektilen Dysfunktion – Aktueller Stand und Ausblick. In: Sexuologie, 18, 1, 57-63.
  • Egloff, G. (2012). Potenz und Psyche – PDE-5-Hemmer als Low-dose-Dauermedikation? In: Arzt, Zahnarzt & Naturheilverfahren, 1, 12-13.
  • Leiber, C. (2008). Jenseits der PDE-5-Hemmer. In: Uro-News, 10, 24-25.
  • Cormio, L., deSiati, M., Lorusso, F. et al. (2011). Oral L-Citruline Supplementation improves Erection Hardness in Men with Mild Erectile Dysfunction. In: Urology, 77, 1, 119-122.
  • Stein, D., Engebretsen, K., Bruemmer, N., Frasure, B. (2008/2010). A Medically Designed Synergistic Combination of Pro-Hormones and Pro-Sexual Nutrients and their Influence on Male Sexual Desire and Potency: Preliminary Results. In: Journal of the American Association of Integrative Medicine, 4 (2010), 2-24.
  • Gallo, L., Perdonà, S., Gallo, A. (2010). The Role of Short Frenulum and the Effects of Frenulectomy on Premature Ejaculation. In: J Sexual Medicine, 7, 3, 1269-1276.
  • Berlin Chemie (2014). Priligy® Newsletter 2 „Männerwissen“, spaeterkommen.de
  • Gossmann, J. (2008). Hypertonie und Sexualität. In: Lenz, T. (ed.). Hypertonie in Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer, 406-407.

 

 

 

 

Schluss mit dem Wirtschaftsfeudalismus…

 

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Sahra Wagenknecht, neu entdeckt. Ein Kommentar

Nach „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011, was nach der Finanzkrise 2008 eine der überzeugenderen Schriften aus dem politischen Feld darstellt, ist 2016 mit „Reichtum ohne Gier – wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ ein neues Buch von Sahra Wagenknecht bei Campus erschienen.

Zentral, und dies bemerkt auch das Stadtmagazin HAMBURG WOMAN ganz richtig, sind die darin benannten wirtschaftsfeudalen Strukturen und Mechanismen, die ermöglichen, was Wagenknecht  „leistungslose Spitzeneinkommen“ nennt – dies in Anbetracht von deutscher Kinderarmut und dem, was die Soziologie als Anomie bezeichnet. Hier ist keine schmallippige Spaßverderberhaltung am Werk, sondern eine brisante Gegenwartsdiagnostik, die in den letzten Jahren bereits vielfach seriös erarbeitet wurde. Es handelt sich hier auch nicht um moralische Kategorien, in denen Gier und Neid verhandelt werden, sondern um Zugänge zu gesellschaftswirksamen politischen Setzungen, die von Menschen erzeugt werden und nicht vom Himmel fallen.

Ja, Ludwig Erhard als zentrale Figur in Wagenknechts Verständnis bringt ihr regelmäßig den Vorwurf eines „Zurück in die 70er?“ ein, das total veraltet sei und auch nicht hip und überhaupt. Worum es aber geht, ist nichts weniger als die Rückeroberung des Wirtschaftlichen durch das Politische. Nur all zu bereitwillig haben sich Wagenknechts Kritiker daran gewöhnt, die Wirtschaftssphäre nicht etwa als treibende Kraft, sondern als Primat, das dem Politischen vorausgeht, zu akzeptieren. Nach Hannah Arendt hieße dies, wenn dem so ist, ist das Politische nicht einmal mehr politisch. Die Idee von einer Deutschland-AG konnte wohl nur auf dem Boden einer Schröder-Ära gedeihen, dessen Geschäftsführer wohl jenes fehlte, was Nietzsche „Pathos der Distanz“ nannte, dessen Mangel nur all zu oft mit dem überhöhten Begehr einhergeht, den qualitativen Eliten, möglichst samt Oberschicht-Biographie, anzugehören. Wagenknecht hingegen hat das nicht nötig und erteilt derlei Sperenzien eine souveräne Absage, und das mit stringent volkswirtschaftlicher Argumentation, die dennoch den Menschen darin nicht vergisst. Dazu bedarf es keiner Sentimentalität, sondern Nüchternheit.

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Charmant und locker formuliert HAMBURG WOMAN also, wie Wagenknechts Deutschland aussehen soll. Das Stadtmagazin, dessen Cover übrigens Nadja Atwal ziert (die nicht nur aus Hamburger Polizeikreisen einiges zu berichten weiß, sondern mehr von den USA versteht als manch jahrelanger Korrespondent), trifft Wagenknechts entscheidende Ideen und Analysen und rückt sie in jenes verdiente Licht, das nicht links noch rechts, dafür an den Schnittstellen von Vernunft und Leidenschaft anzusiedeln ist. Vielleicht ist es nun Zeit für eine Querfront der politischen Klugheit… Daher darf gelten: ein Hoch auf politische Querdenkerinnen – und auf gelungene Stadtmagazine!

Aktuelle Entwicklungen der Psychopathologie

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Internationale wissenschaftliche Neuerscheinung
Den wissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Konzepten in der Psychopathologie präsentiert der neue im New Yorker Wissenschaftsverlag Nova Science erschienene Band „Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, herausgegeben von Jeremy Williams. Der Band vereinigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, mit Schwerpunkten auf klinischer Persönlichkeitsforschung und Gewaltentstehung. In acht Kapiteln werden Daten und Überlegungen vorgelegt und zukünftige Forschungsperspektiven ausgewiesen.

Nicole Schluep und Junaid Hassim untersuchen im ersten Kapitel „Prognosis in Context“ Prognoseperspektiven im Hinblick auf psychische Störungen. Dabei werden sowohl Faktoren zur Prognosestellung vorgestellt als auch kritisches Denken bei der klinischen Einschätzung in den Blick genommen. Es zeigen sich Notwendigkeiten von Kontextualisierungen, d.h. von Perspektivenrelativierungen, die schwierig, weil individuell anpassungsbedürftig sind, zumal soziale und persönliche Mechanismen psychisches Erleben in einem kulturellen Gefüge definieren. Die Prognosestellung, wie die Autoren es formulieren, variiert notwendigerweise mit der Tatsache, auf welcher Seite des Zaunes sich die Konzeption von Psychopathologie befindet.

Nicole Schluep ist Dozentin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria und niedergelassen in privater Praxis.
Junaid Hassim ist klinischer Psychologe, Heilpraktiker und wissenschaftlicher  Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria.

Im zweiten Beitrag des Bandes „Pathological Personality Traits: The Darker Aspects of Personality“ widmen sich Gillian McCabe, Jennifer Vrabel und Virgil Zeigler-Hill jenen psychischen Anteilen, die im psychopathologischen Konzept der ´Dark Personality´ ihren Eingang gefunden haben. Mittels kategorialer und dimensionaler Zugänge werden hier Persönlichkeitsmerkmale diskutiert. Interessant ist, dass es eine Rückkehr zur alten psychoanalytischen Einsicht geben könnte, dass Persönlichkeitsmerkmale sich stets auf einem Kontinuum konstituieren, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren ging.

Gillian A. McCabe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Jennifer K. Vrabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Virgil Zeigler-Hill, Persönlichkeitsforscher mit den Schwerpunkten Selbstwert, Narzissmus und interpersonelle Beziehungen, Associate Professor am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan

Eine weitere Perspektive auf die „Dark Personality“ eröffnet András Láng in seinem Beitrag „Early Maladaptive Schema Domains and The Dark Triad: Core Beliefs Show What is Common and What is Distinct in Dark Personalities“. Jene Verhaltensmuster, deren sogenannte Eigenschaften Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus die ´Dunkle Triade´ begründen, werden auf ihre kognitiven Konstrukte hin untersucht. In seiner Studie arbeitet der Autor klinische und subklinische Merkmale heraus. Es lassen sich verschiedene Folgerungen ableiten, von denen die Hypothese frühkindlicher kognitiver Fehlanpassungen eine wesentliche ist.

András Láng, Assistant Professor an der Universität Pécs in Ungarn im Fachbereich klinische und Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsforschung

Das vierte Kapitel des Bandes behandelt das Thema Vermeidung. Santiago Barajas, Luis Garra und Marisa García-Pérez stellen in “Avoidance: Implications for Psychopathology and Advances in Research” das Phänomen der Vermeidung im psychopathologischen Kontext derer Vorzüge und Nachteile vor und verweisen auf die Bedeutung der Funktionalität von Vermeidungsvorgängen für Diagnostik und Behandlung sowie auf Zusammenhänge mit Angststörungen und Depressionen. Ihr Studienüberblick fächert Vermeidungsvorgänge in Subtypen auf, die in grundlegend verhaltensbezogene, kognitive und erfahrungsgenerierte unterteilt werden. Daraus ergeben sich Optionen für Einschätzung und Behandlung. Wichtig erscheint dabei, dass gleichermaßen Verhalten, Denken und Fühlen angesprochen werden sollten.

Santiago Barajas, klinische Forschung, Universitätsklinik Guadalajara, Spanien
Luis Garra, Psychologe an der Universität Castilla-La Mancha
Marisa García-Pérez, Ärztin für Anästhesie, Schmerztherapie, Universitätsklinik Valencia

Das Forscherteam um Giulio Cesare Zavattini an der medizinisch-psychologischen Fakultät der Sapienza Universität Rom behandelt in ihrem Beitrag “The Intergenerational Impact of Trauma: Individual, Family and Community Implications”, dem fünften Kapitel, die Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg, eine Thematik, die in den letzten Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt hat. Ihre Übersichtsarbeit führt Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt schweres Trauma zusammen und referiert individuelle psychische Funktionen ebenso wie familiendynamische und soziodynamische Manifestationen der Weitergabe. Es zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass Trauma-Aspekte transgenerational wirksam werden. In der Zusammenschau zeigt sich ebenso die erhebliche Bedeutung der Thematik, die lange Zeit vielfach unterschätzt wurde.

Giulio Cesare Zavattini ist Psychoanalytiker und leitet die Sektion dynamische und klinische Psychologie an der Sapienza Universität Rom
Antonio Gnazzo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sapienza Universität Rom
Mojgan Khademi, niedergelassene Psychoanalytikerin und Associate Professor an der Alliant International University, Alhambra, Calif.
Viviana Guerriero, Psychologin, Sapienza Universität Rom
Julie Manoogian, niedergelassene Psychotherapeutin in San Diego, Calif., affil., Alliant International University, San Diego
Ani Kalayjian, Kulturwissenschaftlerin an der Columbia University New York
Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin

Das sechste Kapitel fokussiert “On Pre- and Postnatal Mental Health Intervention Concepts” und trifft eine Bestandsaufnahme von Ansätzen früher Interventionen bei Mutter und Kind im vor- und nachgeburtlichen Bereich. Existierende Programme werden vorgestellt und der Forschungsstand beleuchtet. Vor dem Hintergrund einer materialistischen Sozialisationstheorie werden die Grundlagen um Einflüsse zu Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltentstehung erweitert; ebenso wird die  psychosomatische Bedeutung pränataler Prägungen im intrauterinen Lebensraum  einbezogen.

Götz Egloff, nach psychoanalytischer und psychotherapeutischer Ausbildung in Heidelberg, Mannheim und Düsseldorf niedergelassen in Mannheim
Dragana Djordjevic, nach Tätigkeit als Ärztin im Kreißsaal Gastwissenschaftlerin an der Universität Heidelberg und Stipendiatin für den Aufbau psychosozialer Behandlungskonzepte für Neugeborene im jugoslawischen Raum, Oberärztin an der Universitätsklinik Niš. Forschung zur Psychosomatik der Herzfrequenzvariabilität

Robert Emes Beitrag “Advances in the Study of Male Psychopathy” bildet das siebte Kapitel. Die nach wie vor männliche Domäne der Psychopathie, einem Konzept, das auch als Soziopathie beschrieben wird und aufs Engste mit dem Phänomen Gewalt verknüpft ist, rekapituliert der Autor hinsichtlich der ihr unterliegenden Forschung. Eme weist auf Entwicklungspotentiale und -grenzen von Persönlichkeit hin und verbindet Ergebnisse und Erfahrungen mit neurowissenschaftlicher Forschung. In seinem Beitrag werden    entwicklungspsychologische Fragestellungen neu aufgeworfen; und es zeigt sich auch, dass selbst Programme, die frühzeitig einwirken, im Bereich Delinquenz bislang wenig erfolgreich waren.

Robert Eme forscht zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom in den Grenzgebieten Neurowissenschaften, Pädiatrie und Endokrinologie. Als Professor an der Argosy University in Schaumburg, Illinois, betreibt er langjährig Forschung zu Delinquenz

Last but not least, “Biofeedback – an Evidence-based Approach to the Management of Two Major Health Diseases: Obesity and Perinatal Mood Disorders” behandelt als achtes und letztes Kapitel des Bandes ein effektives, doch bislang wenig beachtetes Verfahren zur Beeinflussung von Übergewicht und Essstörungen sowie der postpartalen Depression. In ihrer Vorstellung des Verfahrens weisen Gaia deCampora, Luciano Giromini und Richard Gevirtz auf die Bedeutsamkeit der Regulierung des Autonomen Nervensystems bei psychischen und psychosomatischen Störungen hin. Die insbesondere in der Postpartum-Phase auftretenden Stimmungsstörungen können frühzeitig beeinflusst werden, so wie auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Steigerung der Flexibilität mittels Selbst-Regulation möglich und wünschenswert ist. Biofeedback, richtig eingesetzt, kann eine wertvolle Intervention sein, gerade wenn weitergehende Maßnahmen nicht passend sind.

Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin
Luciano Giromini, Dozent an der Universität Turin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alliant International University, San Diego, Calif.
Richard Gevirtz, Alliant International University, San Diego, Calif., Forschung zur Herzfrequenzvariabilität

Der englischsprachige Band zeichnet sich durch eine ausgewogene Auswahl von Forschungsansätzen und -perspektiven aus. Sowohl Studien als auch theoretische Grundlagen werden vorgestellt. Die am Band beteiligten Wissenschaftler geben mit ihren Beiträgen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen der Psychopathologie als Untersuchungsgegenstand und als Konzeption. Möglichkeiten und Grenzen werden dabei deutlich, ebenso wie die Erkenntnisbemühungen an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften.

„Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, Jeremy Williams (ed.). Nova Science, New York. 225 pages, $ 160

 

Eine andere Einsamkeit – Hochsensibilität als Romanthema

von Maren Schönfeld

(c) Kadera Verlag
(c) Kadera Verlag

Während ich das Gefühl habe, dass unsere Welt immer lauter wird, immer voller mit Informationen und Nachrichten, stolpere ich über ein Buch, dessen Thema das genaue Gegenteil ist: Die Stille. Nicht die Stille in der Natur oder in der Nacht, sondern die Stille als ein Grundbedürfnis des Menschen. Es ist kein kontemplatives Sachbuch mit Anleitung zur Meditation, sondern ein Roman aus dem Hier und Jetzt, über eine Frau, die schon in ihrer Kindheit an dem Zuviel ihres Umfelds leidet. Als ihre Schwester geboren wird, melden die Eltern die dreijährige Xenia im Kindergarten an. Das Kind erlebt diesen Ort als die „Große Qual“ (S. 13), dessen Lärmmischung aus Geschirrgeklapper, Geschmatze, Geschrei und als Krönung der immer wieder erklingenden „Vogelhochzeit“ kaum auszuhalten ist. Ihre Versuche, sich innerhalb dieser Struktur zurückzuziehen, in Ecken zu verschwinden und allein zu spielen, scheitern an dem Eingewöhnungsprogramm der Erzieher. Xenia fühlt sich verkehrt, und dieses Gefühl soll ihr prägendes werden. Denn es wird nicht besser. Continue reading „Eine andere Einsamkeit – Hochsensibilität als Romanthema“

se Weisswörst änd se Brezl, Bäibie*

von Maren Schönfeld

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Nach 30 Jahren hochdeutscher Dichtung, in der er sich vor allem durch eine sehr eigenwillige Art des Enjambements einen Namen machte, hat Anton G. Leitner nun seinen ersten Gedichtband in bairischer Mundart vorgelegt. Neben Fitzgerald Kusz mit Gedichten in fränkischer Mundart, häufig in der jährlich erscheinenden Zeitschrift DAS GEDICHT aus dem Anton G. Leitner Verlag vertreten, kenne ich eher plattdeutsch-hochdeutsche Bücher, was sicherlich an meinem nördlich gelegenen Wohnort liegt. Hat Kusz mir schon immer viel Freude bereitet, habe ich an Schnablgwax diebisches Vergnügen. Gar nicht so einfach für eine Hamburger Deern, das bairische Kauderwelsch auseinander zu tüdeln! Im Zuge dieser Bemühungen fange ich also an, laut zu lesen. Laut lesen, das ist ohnehin sehr gut bei Gedichten, und die mundartlichen Versionen laden förmlich dazu ein. Zwar gibt es auch Aufnahmen des Autors, jetzt sogar als Hörbuch, aber Spaß bringt es doch, es selbst zu versuchen. Oft kann man durch lautes Lesen hinter die Bedeutung der wirklich schräg aussehenden Wörter mit vielen Doppelmitlauten kommen. Schaut man dann auf die hochdeutsche Übersetzung, merkt man schnell, dass hier nicht einfach eine Handreichung zum Verständnis vorliegt, sondern dass Leitner auch in der hochdeutschen Variante seine satirische Komponente zu halten vermag. So wird aus „seina Oidn“ seine „Angetraute“ („Da Mezzgamoasda mediddiad“, S. 22/23) und „Gscheid Continue reading „se Weisswörst änd se Brezl, Bäibie*“

Cherchez la femme d´Orient… 

BuchcoverWeiblichkeit, Verschleierung, Bilderverbot – ganze Themenkomplexe eröffnen sich bei der Lektüre der herausragenden Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Skwirblies, die in der Reihe Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft im Tectum Verlag erschienen ist. So  geht es in dieser interkulturellen und transdisziplinären Studie um Individuierung und Repräsentation, um Eros und Macht, um Sex, Gender und Identität im Spannungsfeld der Geschlechter und Kulturen. Im muslimisch-christlichen Gefüge, in dem naheste Verwandtschaften im Gefolge aufgeheizter Extremismus-Debatten glatt vergessen werden (vgl. Bertau, 2005), ein wohltuender Blick aus wissenschaftlicher Perspektive.

Schleier und Verhüllung in ihrer Verarbeitung in den performativen Künsten nach dem 11.September 2001 stehen im Blickpunkt der Arbeit. Die Chiffren, in denen der Schleier verhandelt wird, sind weit-gefächert, mehr-schichtig, rück-bezüglich, und in ihrer Komplexität nicht zu unterschätzen, sodass sich zur Lektüre von Skwirblies´
Arbeit eine weitere Beschäftigung mit Semiotik, (Post-)Strukturalismus, Psychoanalyse und Performanztheorie empfiehlt. Der Erkenntnisgewinn ist groß. Aber auch ohne zusätzliche Intensivierung macht das Buch Spaß, ein gewisses Grundwissen vorausgesetzt; und es gibt Einblicke in hochinteressante zeitgenössische Kunst-Aktionen. Die Verschleierungsdarstellungen im medial-künstlerischen Kontext so verschiedener Inszenierungen wie Princess Hijabs „Hijabizing“-Graffitis, dem Kurzfilm „Submission“ von Ayaan Ali und Theo van Gogh, den an Eve Enslers Vagina-Monologe angelehnten „Veiled Monologues” von Adelheid Roosen, und der Performance „Manta“ von Héla Fattoumi und Eric Lamoureux werden untersucht, und es wird deutlich, wie die extrakorporale Trennung der Geschlechter in der durch den Schleier symbolisierten geschlechtlichen Ordnung zum Gegenstand innerer und äußerer Auseinandersetzung wird.

Verhüllung wird hier als ´Differenzkonstruktion´ (Schneider, 2011) verhandelt, wobei einerseits das muslimische Besondere, der Schleier als Ausdruck der Sakralität des weiblichen Körpers (v.Braun, 2016), aber auch das differenzstiftende Allgemeine betrachtet werden. Der Schleier fungiert als Membran zwischen Innen und Außen, ähnlich der psychoanalytischen Auffassung des Randes als körperlich-anatomischer Grenze zwischen Innen und Außen, die die ent-scheidende Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich bildet. Analog erinnert dieser nicht nur an die in Südeuropa weiterverbreitete weibliche Praxis der Nutzung des Fächers (der gewiss nicht nur klimatische Gründe hat), sondern verweist auch auf Erkenntnisse des nur sehr selten anzutreffenden Faches der Psycho- und Soziogeographie, das mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Kasseler Forscher Peter Jüngst ihren renommiertesten Vertreter verloren hat, sowie auf die ebenso seltene Ozeanographie in ihren psychosozialen Bezügen. Fächer, Schleier, aber auch Teppiche und Vorhänge sind in manchen Kulturräumen nicht ohne Grund fester Bestandteil von In- und Exterieur; verstanden als Barrieren, die mit Offen- und Geschlossenheit zu spielen wissen (vgl. Critchley & Webster, 2014), weisen sie weit über die alltägliche Wahrnehmung derer hinaus. Eingang in die Alltagskultur haben sie ohnehin gefunden: Schuh- und Wäsche-Hersteller wissen um dieses Spiel, und wenn der größte Stoffteil eines Wäschestücks aus einem an der Vorderseite locker vernähten Stück Gaze besteht, heißt er ‚avec un voile‘ – mit Schleier.

Verbergen und enthüllen ist also das Thema, und auch das Meta-Thema der im Band vorgestellten Kunst-Aktionen. Gibt es etwas zu enthüllen? Oder sind die Inhalte in den Formen, den Ritualen, in der Praxis aufgegangen? Oder sowohl als auch? Das Wechselspiel von (Post-)Kolonialismus und kultureigenem Feminismus ist oft schillernd, selten leicht zu fassen, und Rollenzuschreibungen sowie Selbst-Erleben sind bei weitem nicht so eindeutig wie man im Westen gerne annehmen möchte.

Zum Thema lassen sich historisch etliche Querbezüge in Hoch- und Popkultur herstellen. Einer der interessantesten ist gewiss Nathaniel Hawthornes Kurzgeschichte „The Minister´s Black Veil“ von 1837, in der das christliche Konzept der Erbsünde einer tiefenpsychologisch anmutenden Kritik unterzogen wird. Die Gemeinde muss sehen lernen; sie erblickt Eigenes im Anderen, was die Projektion als Maßnahme zur Abwehr der eigenen Unzulänglichkeit deutlich werden lässt. Und auch Pauline Réages 1954 erschienene „Geschichte der O“, diese einflussreiche Fabel von Unfreiheit und Sadomasochismus, sowie „Emmanuelle“ von Emmanuelle Arsan (1959) und „Neuneinhalb Wochen“ von Elizabeth McNeill aus dem Jahr 1978 geben erzählerische Einblicke in die westliche Spätmoderne, in der Verschleierungen in der einen oder anderen Form auftauchen. Interessant ebenso, dass auch diese Werke alle von Rollen, Sex und Beziehung handeln, während zur Jahrtausendwende BDSM rasch in den anomischen Alltag einwandert (Illouz, 2013). Im westlich-postmodernen Kontext kann dies bedeuten: “The paradox of sexual liberation is that when everything is possible, nothing is possible. When we are liberated from all those dreary old bourgeois repressive constraints, we are suddenly disoriented and unable to act. The hidden consequence of sexual freedom is impotence. (…) But the truth is, it is only repression that keeps desire alive” (Critchley & Webster, 2014).

Von der Gesellschaftsdiagnose zum Subjekt und wieder zurück; dies sind die potentiellen Stationen der behandelten Stoffe ganz allgemein – ähnlich der Sozialwissenschaftlerin Reyhan Şahin, die mittels ihres Alter Ego als Lady Bitch Ray auf die ´pussisi delik´ als östlich-westlich-postmoderne Inszenierung zugreift – und des dichten Bandes von Skwirblies im Besonderen. Skwirblies bezieht  auch die ‚embodied science‘ mit ein, die Semiotik nicht losgelöst, sondern in den realen Körpern konzipiert – die dringend notwendige Erweiterung eines sonst körperlosen Diskurses. Wo liegt die Lust? Die libidinöse Aufladung? An den Rändern, würde wohl auch Lacan sagen und wiederum auf das Zwischen von Innen und Außen verweisen. Und wo liegen Macht und Gewalt? Das Ich und der Andere gehen immer eine soziale Beziehung ein, der Gewalt vorgängig sein könnte – nimmt man an, dass die Möglichkeitsbedingung der Herausbildung des Ich gegenüber dem Anderen bereits Gewalt darstellt (vgl. Boelderl, 2001). Erst die spätere Ausgestaltung dessen, was folgt, kann Milderungen schaffen.

„Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“, spekulierte Nietzsche (vgl. Schulte, 2000). Die Annäherung derer in Skwirblies´ Arbeit verweist auf die Darstellung der Vulva, der weiblichen Scham, die verschleiert wird, weil dahinter das Nichts lauere – wie es die orthodoxe Psychoanalyse sieht –, im Gegensatz zum männlichen Genital, das sichtbar sei. Das ist der eigentliche biologische Skandal, aus dem dann ein sozialer wird – aber womöglich nicht werden muss? Oder doch in der psychischen Tiefenschicht bleibt? Ähnlich zitiert Skwirblies auch Joan Rivière,  die mit ihrer Theorie der weiblichen Maskerade vor vielen Jahrzehnten ein gewisses Aufsehen erregte. Ist dahinter nichts, oder doch etwas?! Dies ist und bleibt die Frage, die nun auch Männern gestellt werden darf. Deren Unentscheidbarkeit muss zu praktischen Konsequenzen führen. Der tiefere Sinn von Gleichstellung und Genderdebatte, auch aus psychoanalytischer Sicht, ist die Chancengleichheit, und nicht die etwaige Verleugnung biologischer Gegebenheiten. Nur: nicht alles was sich biologisch gebärdet, ist biologisch. Erst an dieser Stelle beginnt die Debatte. Man muss nicht Camille Paglia sein; doch eine rein konstruktivistische Anthropologie ohne Essentialismus, sprich Biologie, ist und bleibt schwierig. Dies ist aber nicht der Autorin entgegenzuhalten, die eine in sich hoch konsistente Arbeit vorlegt, sondern der Ausklammerung von Körper, Leib, Begehren in Teilen von Semiotik und Strukturalismus, die Paglia wohl der jüdisch-christlichen Überbewertung von Sprache zu Ungunsten des Körperlichen zuschreiben würde. Dafür greift Skwirblies auch die Phämonenologie des Körperlichen auf, die Maurice Merleau-Ponty bereits zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausarbeitete, und die erhebliche Anknüpfungspunkte bietet.

Festzuhalten bleibt: Der Band von Skwirblies vollbringt glänzend den Balance-Akt zwischen Theorie und Praxis. Die exzellente Auswahl an szenischen Texten bzw. Aktionen und deren Bearbeitung lassen nicht zu wünschen übrig und bieten reichlich Diskussionsstoff. Und auf relativ knappem Umfang solch einen hohen inhaltlichen Ausschöpfungsgrad zu erreichen ist ungewöhnlich. Der Band ist, obschon komplexer Thematik, relativ leicht lesbar und denen zu empfehlen, die hinter die Oberflächen schauen möchten, um Verborgenes oder eben weitere Oberflächen – hinter, vor, oder auf den Oberflächen – zu entdecken.

 

Literaturhinweise:

Bertau, Karl (2005). Schrift – Macht – Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlich-muslimischen Mittelalters. Hg. Sonja Glauch. Berlin/New York: Walter deGruyter.

Boelderl, Artur R. (2001). Der Andere als ´social alter´. Die Ethik der Psychohistorie im Blick auf das Gewaltproblem. In: Kurth, W. & Rheinheimer, M. (Hg.). Gruppenfantasien und Gewalt. Jahrbuch für psychohistorische Forschung 1. Heidelberg: Mattes, S. 37-46.

Braun, Christina von (2016). Die symbolische Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches – Säkularisierung und Post-Sexualität. In: Sexuologie, Jg. 23, 1-2, S. 39-47.

Critchley, Simon & Webster, Jamieson (2014). Reproductive Wrongs. In: Playboy (US), May 2014, A-Z Special Edition, p. R.

Illouz, Eva (2013). Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und ´Shades of Grey´. Berlin: Suhrkamp.

Schneider, Irene (2011). Der Islam und die Frauen. München: C.H. Beck, S. 234-239.

Schulte, Günter (2000). „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“ (Nietzsche). Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Was ist Wahrheit?“, Universität Köln, 12.4.2000.

 

Wo der Atlantik auf Europa trifft – „Die“ Fotoausstellung im Internationalen Maritimen Museum in der Hafencity – Kaispeicher B

von Uta Buhr

Hafenmole bei stuermischer See in Tapia de Casariego, harbour-mole at stormy sea in Tapia de Casariego
Hafenmole bei stuermischer See in Tapia de Casariego, harbour-mole at stormy sea in Tapia de Casariego

Wer den beeindruckenden Bildband „Europas Atlantikküste“ der beiden bekannten Fotografen Michael Pasdzior und Peter Haefcke auf sich hat wirken lassen, sollte sich die Ausstellung in der Hafencity nicht entgehen lassen. Das denkmalgeschützte rote Backsteingebäude mit seinen zahlreichen Exponaten zu 3000 Jahren Schifffahrtsgeschichte ist genau der richtige Ort für diese einzigartige Sonderausstellung. Eine Kunstexpertin sprach begeistert von „Bildern, die Wellen schlagen.“

Zwei befreundete, an der „Waterkant“ aufgewachsene und vom Meer faszinierte Fotografen haben das Projekt der europäischen Atlantikküste entwickelt und in einem mehrjährigen Zeitraum gemeinsam bereist. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop großartiger Ansichten der verschiedenen Länder an den Gestaden des Atlantiks. Continue reading „Wo der Atlantik auf Europa trifft – „Die“ Fotoausstellung im Internationalen Maritimen Museum in der Hafencity – Kaispeicher B“

Balancieren lernen mit einem Buch?

von Maren Schönfeld

Buchcover
Buchcover

Das ist meine erste Frage, nachdem ich den Buchtitel gelesen habe. Aber mir wird schnell klar: Das ist gar kein Buch! Jedenfalls keins, das man einmal durchliest und ins Regal stellt. Nicht mal eins, das man gemütlich bei Tee und Keksen, mehr oder weniger konzentriert, nach Belieben konsumiert. Nein: Das Buch fordert mich heraus. Schon auf Seite 18 lädt es mich ein, im Wohnzimmer zu balancieren, und auf Seite 21 finde ich mich schreibend wieder! Ich merke bald: Diese Seiten können mein Leben verändern, mit diesem Buch kann ich etwas, kann ich mich verändern. Und zwar nicht im Sinne viel gepriesener Selbstoptimierung zur Erzielung höherer Leistungen – wäre vielleicht auch als Nebenfaktor möglich –, sondern um in meine Balance zu kommen.

Aber der Reihe nach: Alexandra Bischoff stellt in diesem kurzweiligen, verständlichen und eloquent geschriebenen Buch Elemente aus Continue reading „Balancieren lernen mit einem Buch?“

Aschenputtel reloaded: Das Mittwochszimmer

Coverbild
Coverbild

von Maren Schönfeld

Zwei Mädchen kommen in der Silvesternacht 1954/1955 zur Welt, und nur der Name Cornelia eint sie. Ansonsten gehören sie in verschiedene Welten, was zu der Zeit noch enorm schwerwiegt. Die eine Cornelia wird in eine „anständige“ Familie geboren, ein hässliches Kind. Die andere, still und niedlich, ist als uneheliches Kind des Fräulein Hertz, wie die ledige Mutter im Krankenhaus angesprochen wird, eine „Schande“. Schon in den ersten Lebenstagen der Cornelias bekommen Leser*innen einen Eindruck der damaligen Verhältnisse, und bis Seite 20 hofft man mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass dieses Aschenputtel doch noch irgendwie das große Los ziehen wird – auch wenn sie dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen hat. Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Wende ist nur der leibliche Vater, den Fräulein Hertz beim Fasching traf und der „das Gesicht eines Prinzen aus tausendundeiner Nacht“ (S. 21) hatte, was Continue reading „Aschenputtel reloaded: Das Mittwochszimmer“

Zugänge zur Männerseele

Selbsterfahrung MannAndreas Schick, langjähriger Heidelberger Präventionsforscher und Männertherapeut, hat ein überfälliges Buch vorgelegt, das Theorie und Praxis des therapeutischen Umgangs mit der männlichen Psyche schlüssig miteinander verbindet. Ebenso leicht zugänglich wie undogmatisch angelegt, nutzt der Autor die Stärken von C.G. Jungs Archetypenlehre eindrucksvoll, um zu den lebensweltlichen Belangen heutiger Männer vorzudringen und diese therapeutisch-beraterisch zu handhaben. Diese Belange werden in ihren Schattierungen und entlang ihrer Schnittpunkte durch Fallvignetten illustriert, sodass die Verbildlichungen, die auf diese Weise gelingen, als eindrucksvolle Hintergrundfolie für die Arbeit mit Männern im Einzel- und Gruppensetting dienen können. Die an W. Mauckners initiatisch-phänomenologischem Konzept orientierte Männer-Arbeit strebt dabei sowohl eine geschärfte Wahrnehmung als auch die Rückbesinnung auf männliche Ressourcen an, die, weitab von chauvinistischen Klischees liegend, im Alltag verloren zu gehen drohen. Daher ist Schicks knappes, doch dichtes Werk hochinteressant und zeigt, dass überdauernde Konzeptionen jenseits des akademischen Mainstreams Geltung beanspruchen können, ohne esoterisch sein zu müssen. Der Autor versteht es, immer die männliche Lebenswelt im Blick zu haben und sich nicht in Theorie zu verlieren, diese im Gegenteil jederzeit nutzbar zu machen, so weit dies ein Buch überhaupt im Gegensatz zu in-vivo-Erfahrungen bieten kann. Um genau diese in der Männer-Arbeit zu ermöglichen, empfiehlt sich dieses Buch Männern und Frauen in unterschiedlichsten Arbeitsfeldern.

Allein mit der seltenen Krankheit EDS

Cover
Cover

von Maren Schönfeld

Karina Sturm legt mit diesem Erfahrungsbericht mit Tagebucheinschüben eines der ersten, wenn nicht gar das erste deutschsprachige Buch aus Betroffenensicht über das Ehlers-Danlos-Syndrom, Halswirbelsäuleninstabilität und die damit verbundenen Probleme vor. Sie schildert ihre schier endlosen Versuche, auf klassischem Wege und schließlich auch unter Einsatz ihrer eigenen Ersparnisse zu einer Diagnose und anschließenden Therapie zu kommen. Dieser Weg des Resignierens und immer wieder Aufstehens führt sie schließlich bis in die USA. Kaum zu glauben, dass die Autorin erst Ende Zwanzig ist und bereits vier Jahre ihres jungen Lebens in den Kampf investiert hat, und zwar nicht nur für sich allein. Sie hat sich vielmehr zum Ziel gesetzt, nicht nachzulassen, bis ihre seltene Krankheit sehr viel bekannter wird, und „zwar so lange bis in Continue reading „Allein mit der seltenen Krankheit EDS“

Kaleidoskop mit Morgenstern

von Maren Schönfeld
Foto: Katharina Jaglewicz

Kaleidoskop-Akteure
B. Bolduan, B. Cleve, B. Halenta, V. Maaßen, M. Bühler, Stella’s Morgenstern (v.l.n.r.)

Wer bei Bad Segeberg an Karl May denkt, hat die Buchhandlung „Wortwerke“ noch nicht kennengelernt. Es ist viel mehr als eine Buchhandlung, denn das Gesamtkonzept aus der Gastronomie „Blattwerk“, die mit selbstgemachten Kuchen und kleinen Speisen sowie einem breiten Teesortiment aufwartet, dem Bücherzimmer mit „Schmökerexemplaren“ und Sesseln vor den Regalen, den Ausstellungsflächen für Bilder und Kunsthandwerk ist eigentlich schon für sich ein Kaleidoskop. Entsprechend früh erscheinen die Gäste vor der für den Abend angesetzten Veranstaltung, um sich auf den prächtigen Sofas und Holzstühlen vor dem Ofen niederzulassen und Tee mit Continue reading „Kaleidoskop mit Morgenstern“

Achtsamkeit und Ganzheit

von Maren Schönfeld

Buchcover
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Weihnachten und Hektik? Nö. Schauen Sie doch mal nach diesem schönen Haiku-Buch …

Eine Gruppe Kraniche bewegt sich auf dem in Grautönen gestalteten Buchdeckel. Sie sind wohl mit Tusche gezeichnet, filigrane Vögel, die als erstes meine Aufmerksamkeit fangen und mich veranlassen, das kleinformatige, quadratische Hardcover in die Hand zu nehmen und hineinzuschauen. Pro Seite erwarten mich höchstens zwei Haiku. Die Leerräume erlauben Konzentration auf einen einzelnen Text. Susanne Leiste-Bruhn hat Haiku geschrieben, die eine ruhige, medidative und melancholische Stimmung erzeugen. Die nach Jahrenszeiten angeordneten Haiku können Begleiter durch ein Jahr sein, kleine Zufluchten in ein beschwichtigendes Innehalten, Continue reading „Achtsamkeit und Ganzheit“

Vom prallen Leben – Alltagsgedichte mit Amelie Fechner und Hilke Billerbeck (Gitarre)

A. Fechner u. H. Billerbeck,  Foto: Maren Schönfeld

Donnerstagabend um halb acht in Blankenese. Die Straßen sind ziemlich leer, was möglicherweise an dem wichtigen Fußballspiel des HSV liegt. Dennoch finden sich rund 40 Menschen in der Buchhandlung Kortes ein, um die Lesung von Amelie Fechner aus ihrem Buch „Alltagsgedichte – Das pralle Leben“ zu hören. Lyrik ist noch immer nicht so tot wie sie geredet wird. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe, die Buchhandlung hat die Bestuhlung offen genug hingestellt, dass man hindurchgehen und die Bücherregale betrachten kann. Trotzdem sind die beiden behaglichen Räume gut gefüllt. Ich sitze mit gemischten Gefühlen hier. Mein Rezensionsexemplar kam wegen des Poststreiks Continue reading „Vom prallen Leben – Alltagsgedichte mit Amelie Fechner und Hilke Billerbeck (Gitarre)“

Freud und Rank

 

Buchcover
Buchcover

Rezension zu E. James Lieberman, Robert Kramer: Sigmund Freud und Otto Rank. Ihre Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906-1925. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2014.

Die vielleicht engste Beziehung in der ersten Generation der Psychoanalyse bestand zwischen deren Begründer Sigmund Freud und dessen wenig beachtetem Meisterschüler Otto Rank, die immerhin 29 Jahre Altersunterschied voneinander trennte. Umso verbindender ihre lang währende gemeinsame Arbeit an den Grundfesten der Psychoanalyse, wenn im Verlauf auch Trennendes in den Vordergrund rückte, vielleicht rücken musste. Die Autoren E. James Lieberman – der auch für die großartige Biographie „Otto Rank – Leben und Werk“ (Gießen, 1997) – verantwortlich zeichnet, und Robert Kramer – langjähriger politischer Berater während der Clinton Administration – haben den ungewöhnlichen Weg einer Historiographie entlang des Briefwechsels der Protagonisten gewagt, und das Experiment ist geglückt.

Die Geburtserfahrung; die Mutterfixierung, die der Urverdrängung gleichkommt; die verlorene Mutter-Kind-Beziehung, die in der Mutter-Imago als Phantasma von Angst und Sehnsucht – eins gibt es nicht ohne das Andere – wieder auftaucht: all dies sind Grundpfeiler heutigen psychoanalytischen Verstehens, die auf Ranks Denken zurückgehen. Jene Bilder, die dem Leser dieser Zeilen beim Gedanken an das, was heute Psychotherapie genannt wird, durch den Kopf gehen, was aus unzähligen Filmen, Texten, Berichten und vielleicht aus der eigenen Erfahrung bekannt ist, wäre nicht nur ohne Freud, sondern auch ohne Rank so nicht möglich gewesen. Zumindest sähe es anders aus, fühlte sich anders an, hätte sich mit anderen Akzenten entwickelt. Rank hat entscheidende Impulse an Carl Rogers gegeben, dessen Gesprächspsychotherapie heute noch in den USA die weiteste Verbreitung hat und neben der Psychoanalyse im Liegen auf der Couch über Jahrzehnte hinweg maßgebend war. Erst postmoderne konstruktivistische Ansätze modifizierten bzw. definierten Therapie teilweise in neue Richtungen, dies zunächst mit mitunter ähnlich bahnbrechenden neuen Perspektiven, von denen viele jedoch mittlerweile wieder relativiert wurden. Wenn man so will, landete man in den letzten Jahren auf einem gemeinsamen psychodynamischen Nenner, der in der heute noch in Deutschland am weitest verbreiteten Therapieform, der sogenannten tiefenpsychologischen Psychotherapie, die ein- bis zweimal pro Woche im Sitzen stattfindet, ihren wohlbegründeten Sinn gefunden hat. Ranks vielleicht bedeutendstes Werk jedoch, das „Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ (1924) führt bis heute ein Schattendasein, zu problematisch erscheint der Gedanke an ein Real-Trauma der Geburtserfahrung. Dieser führte letztlich auch zum Bruch mit Freud.

Die Autoren Lieberman und Kramer, die bereits 1997 auf der Heidelberger Tagung „Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse“ eindrucksvoll die Person Rank und ihr Wirken vorgestellt hatten, verknüpfen 250 Briefe aus der Korrespondenz Freud-Rank mit den Persönlichkeiten, der Politik und den Wissenschaften ihrer Zeit. Sie zeichnen dabei die Entwicklung psychoanalytischen Denkens und das der zwei Protagonisten (und Antagonisten), die das Denken der westlichen (und auch von nicht unbedeutenden Teilen der östlichen) Welt maßgeblich geprägt haben, eindrucksvoll nach. „The Letters of Sigmund Freud and Otto Rank: Inside Psychoanalysis“, bei der Johns Hopkins University Press 2011 in Baltimore erschienen, wurde von Antje Becker hervorragend ins Deutsche übersetzt und dankenswerterweise vom Psychosozial-Verlag in Gießen veröffentlicht. Das Buch gibt einen hochinteressanten, lebensnahen Einblick in die Psychoanalyse und ihre Entstehungsgeschichte.

Uwe Friesel: „Zwischen allen Stühlen oder Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten?“ Das neue Buch mit Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland

Von Urs Wiefele

Uwe Friesel stellte in der Hansestadt Salzwedel sein neues Buch vor.

Zwischen allen Stühlen ist der Platz des freien Autors

Der Autor, von Journalisten umlagert bei der Vorstellung seines neuen Buches im Kulturhaus der Hansestadt Salzwedel
Der Autor, von Journalisten umlagert bei der Vorstellung seines neuen Buches im Kulturhaus der Hansestadt Salzwedel

…ist ein aufmüpfiger und selbstbewusster Titel, wenn man bedenkt dass das Wort „Essay“, vom Altfranzösischen essai abgeleitet, zur Zeit seines Erfinders
Montaigne (1533 bis 1592) vielmehr Vorsicht, Rücksicht und verdecktes Fragen meinte. Ein Essay sei ein bloßer Denkversuch, keineswegs die Behauptung einer Wahrheit, definierte Montaigne, um den Folgen der gefährlichen Dogmen der Kirche, die seinem vogelfreien Denken diametral entgegenstanden, nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Nietzsche, der 300 Jahre später am radikalsten an den Dogmen rüttelte, bewunderte in ihm einen frühen Vorgänger, ohne den modernes aufgeklärtes Denken und Schreiben gar nicht möglich sei. Continue reading „Uwe Friesel: „Zwischen allen Stühlen oder Soll man in Krähwinkel stets das Maul halten?“ Das neue Buch mit Essays aus vier Jahrzehnten Deutschland“

Alphabetisierung der Empfindungen

von Götz Egloff

Rezension zu Ulrich Schultz-Venrath, Lehrbuch Mentalisieren – Psychotherapien wirksam gestalten, Klett-Cotta, Stuttgart, 2013.

Das Cover
Das Cover

Ein beeindruckendes Kompendium zum Themenkomplex des Mentalisierens legt Ulrich Schultz-Venrath vor. Im theoretischen Teil zeichnet der Autor die Entwicklung des Konzepts aus der französischen psychosomatischen Schule, über das Alexithymie-Konzept, hin zur Fonagy-Gruppe nach, gewahr der verschiedenen Betonungen körper-orientierter Ansätze. Der praktische Teil bietet reichhaltige Ausarbeitungen und Beispiele nicht nur zu verschiedenen Störungsbildern, sondern in verschiedensten therapeutischen Settings. Deutlich wird immer wieder die Grundlage der psychoanalytisch-interaktionellen Methode des Göttinger Modells (Heigl/Heigl-Evers, König), die letztlich auch den Weg zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) bahnte.
Crits-Christoph, Luborsky, Gabbard fallen spontan ein, pragmatische Analytiker; allen voran Sullivan mit seiner leider weithin vergessenen, doch brillanten interpersonellen Psychoanalyse. Continue reading „Alphabetisierung der Empfindungen“

Neues vom wilden Analytiker

von Götz Egloff

Rezension zu Michael Giefer, Otto Jägersberg, Walter H. Krause (Hg.):
Wege zum Es. VAS – Verlag für akademische Schriften, Bad Homburg, 2010.

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Dieses Buch, das die Vorträge des Baden-Badener Georg-Groddeck-Symposions 2009 der
deutschen Georg-Groddeck-Gesellschaft anlässlich dessen 75. Todesjahrs versammelt, ist alles andere als eine trockene Vortragssammlung. Selten werden Psychotherapie und Psychosomatik so lebendig vermittelt wie in den Beiträgen dieser internationalen (und wirklich interdisziplinären) Denker und Praktiker (Damen wie Herren). Damit wird man dem Altmeister der „wilden Analyse“, dem Schöpfer des „Buch vom Es“ und all zu oft enfant terrible Geschimpften mehr als gerecht. Zu sperrig, zu kauzig, um im überrationalisierten Wissenschaftsdiskurs heute noch Erwähnung zu finden. Lässt man sich auf ihn ein, öffnen sich Welten. So oder so ähnlich muss Freud empfunden haben, der nur wenige Häretiker um sich ertragen konnte; Ferenczi und Groddeck waren persönlich und inhaltlich einfach zu originell, um sie loswerden zu wollen. Continue reading „Neues vom wilden Analytiker“