Karl Kraus – Magier der Sprache

Kalligraphie: Ralf Plenz

Eine Annäherung an einen linguistischen Genius.

Dies vorab: Mein Dank geht an Ralf Plenz, den Herausgeber der Reihe „Perlen der Literatur,“ in welcher jüngst „Die Sprache, der Eros der Logik“, erschienen ist. Die hierin enthaltenen Aufsätze aus der im Jahre 1899 von Karl Kraus gegründeten satirischen Zeitschrift „Die Fackel“ sind ein intellektueller Hochgenuss, der seinesgleichen sucht.

Altes Werk in neuem Glanz

Wer dieses elegant gestaltete Buch aufschlägt, legt es so schnell nicht wieder aus der Hand. Allerdings muss der Leser starke Nerven besitzen und sich seiner sprachlichen Defizite bewusst sein. Denn der Scharfrichter Karl Kraus kennt keine Gnade mit grammatikalischen Fehlern oder – noch schlimmer – sprachlichen Schlampereien. Einer der erbittertsten Feinde heutiger deutscher Literaten – von den Zeitungsschreibern ganz zu schweigen – ist offenbar der Genitiv. Nur wenige scheinen ihn noch zu beherrschen. Und auch die korrekte Anwendung von Pronomen ist ins Hintertreffen geraten. Weilte Karl Kraus noch unter uns, würde er so manchem selbsternannten Linguisten eine gnadenlose Lehrstunde erteilen.

Mein ganz persönlicher Karl Kraus

Karl Kraus saß, um es salopp auszudrücken, in meiner Familie mit am Tisch. Mein Bruder und ich liebten seine geistreichen Essays und geschliffenen Wortspiele, die unseren Wortschatz bereicherten. „Was zutrifft, trifft“ und „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken“ waren unsere Lieblings-Aphorismen aus der Feder des Karl Kraus. Leuten, die ihn nicht mochten, schrieb er folgendes ins Stammbuch: „Manche wollen nur mit mir reden. Andere mir den Kopf einschlagen. Vor jenen schützt mich das Gesetz.“ Wer „seinen“ Karl Kraus kennt, kommt mit einer Sammlung geistreicher Zitate gut durch das Jahr.

Fast hätte ich mich – horribile dictu – als Kraus Fan „geoutet.“ Auf der Stelle nehme ich diese Wortwahl zurück. Denn Kraus hätte ein derartiges Kauderwelsch mit Sicherheit gegeißelt. Oder mit Verachtung gestraft.

König der Satire

Karl Kraus‘ Weg auf den Olymp der großen Geister der Weimarer Republik war nicht vorgezeichnet. Als Sohn eines jüdischen Fabrikanten im Böhmen der k&k-Monarchie kam er in seiner Jugend eher mit Bilanzen und Produktpaletten in Kontakt. Dies erschien dem Genius des geschliffenen Dialogs offenbar zu banal. Und so entschloss er sich stattdessen zum Studium der Germanistik und Philosophie. Allerdings ohne einen universitären Abschluss. Sein literarisches Oeuvre und zahlreiche Auftritte im Theater verhalfen ihm zu frühem Ruhm in den einschlägigen intellektuellen Zirkeln Wiens. Das Diktum „Viel Feind, viel Ehr‘“ war ihm auf den Leib geschrieben. Denn nicht jeder goutierte Kraus‘ beißenden Spott. Berühmte Zeitgenossen wie Sigmund Freud und Arthur Schnitzler, um nur zwei zu benennen, sollen Kraus gar nicht geschätzt haben. Sein Kollege Stefan Zweig bezeichnete ihn gar als den „Schriftsteller des giftigen Spotts.“ Ein unabhängiger Geist wie Kraus hat vermutlich nur mit der Schulter gezuckt und gesagt: „Ach geh. Warum seids ihr nur so empfindlich. Satire darf halt alles.“

„Die Fackel“ Über den Gebrauch der Sprache

Foto: Input-Verlag

Es versteht sich, dass ein Sprachpurist wie Karl Kraus mit den meisten seinerzeit populären Presseprodukten nichts anfangen konnte. Wohl deshalb gründete er im Jahr 1899 „Die Fackel“, seine eigene satirische Zeitschrift, die sich vehement gegen die Verwahrlosung der deutschen Sprache positionierte. Die hierin enthaltenen Beiträge wurden in den intellektuellen Kreisen jener Epoche mit großem Interesse gelesen und kontrovers diskutiert. Um eine Vielfalt der Beiträge zu garantieren, lud Kraus zahlreiche namhafte Autoren ein, Gastbeiträge in der „Fackel“ zu veröffentlichen. Dazu gehörten unter anderen Detlev von Liliencron, Peter Altenberg, Egon Friedell und Else Lasker-Schüler.

Springen wir mitten hinein in das Opus Magnum des Karl Kraus, das seine sprachliche Meisterschaft in all ihren Facetten ausleuchtet.

Lieber Leser, lassen Sie jedes Kapitel des Buches auf sich wirken und stellen Sie fest, wie auch Sie als aus Ihrer eigenen Sicht der deutschen Sprache Mächtiger in Ihren Formulierungen nur allzu oft daneben liegen. Greifen wir nur das winzige Wörtchen „bis“ heraus, das laut Kraus kaum ein Österreicher jemals richtig einsetzt. Wer die Abhandlung gelesen hat, wird feststellen, dass auch wir Deutschen hier nicht besser abschneiden als unsere Nachbarn. Denn der Winzling „bis“ bezeichnet nicht den Weg, sondern das Ziel. Kraus erklärt dies ebenso wortreich wie logisch. Mit „nur noch“ und „nur mehr“ sieht es ähnlich aus. Wer beide Kapitel sorgsam gelesen und verinnerlicht hat, wird hoffentlich in Zukunft ein ebenso druckreifes Deutsch sprechen und schreiben wie der Verfasser. Zugegeben, das Studium der einzelnen Kapitel erfordert höchste Konzentration, denn hier zählt jedes Wort, ja sogar jeder Beistrich – vulgo Komma – dem Kraus viele Worte widmete.

Finde den oder die Fehler!

Wer sich durch den ambitionierten Sprachkurs des Karl Kraus durcharbeitet, erkennt schnell, dass er nichts von Haupt- aber noch weniger von Relativsätzen versteht. Asche auf unser Haupt. Hier eine Kostprobe: „Der schlechteste Sprachlehrer, den ich gekannt habe.“ Falscher geht’s nimmer. Denn Kraus korrigiert diesen einfachen Satz stante pede: „Das ist nicht der schlechteste Sprachlehrer überhaupt, sondern der schlechteste von denen, die ich gekannt habe.“ Noch Fragen?

Kein Zweifel, Kraus kann jeden, der meint, die deutsche Sprache zu beherrschen, zur Verzweiflung bringen. Denn, egal wie sorgsam er seine Worte wählt, irgendein Haar findet der Mann immer in der Suppe. Sei es nun die Syntax, ein falsch gesetztes Zeichen oder ein Casus. Nahezu brutal verfährt er mit der Journaille im Kapitel „Die Neue Freie Presse erteilt Sprachlehre“ aus dem Jahr 1929. Da werden die Schreiberlinge geradezu standrechtlich hingerichtet, denn so argumentiert Kraus unerbittlich: „Es ist nicht notwendig, dass der deutschen Sprache zu dem Schaden, den sie durch die Journalistik erleidet, noch deren Spott zugefügt wird.“ Selbst vor Ikonen deutscher Formulierkunst wie Friedrich Nietzsche und Dichterfürst Goethe macht Kraus nicht halt. Während er bei ersterem einen falsch gesetzten „Beistrich“ moniert, wird Johann-Wolfgang wegen eines Adjektivs gerügt.

Und so wird in diesem Werk jeder sprachliche Lapsus unter die Lupe genommen und vom Autor genüsslich seziert. Häme ist derweil nicht angebracht, sondern die Einsicht, dass auch der Gebildete nie auslernt.

Ein streitbarer Geist

Kraus hat es seinen Zeitgenossen nicht leicht gemacht. Viele haben ihn dennoch wegen seiner sprachlichen Virtuosität und politischen Hellsichtigkeit verehrt, andere ihn heißen Herzens gehasst. Dass er Stefan Zweig, einen der populärsten Schriftsteller seiner Zeit, abfällig einen „Schmuser“ nannte, wird dieser ihm kaum verziehen haben. Da aber nur wenige Weggenossen des großen Karl ohne verbale Blessuren davongekommen sind, ist dies nur eine Randnotiz. Keine Randnotiz hingegen ist Kraus‘ lapidare Bemerkung über den „Führer“, der in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts das politische Parkett Europas betrat: „Zu Hitler fällt mir nichts ein.“ Unverständlich, dass ein kritischer Geist wie er zu diesem Schluss kommen konnte. Vielleicht war ihm „Mein Kampf“ in die Hände gefallen, und nicht nur Hitlers abstruse Ideen, sondern auch der grottenschlechte Stil des Machwerks hatten dem Sprachästheten Kraus schlicht die Sprache verschlagen. Das wäre die einzige plausible Erklärung.

Fazit: Dieses Werk ist jedem empfohlen, dem der korrekte Umgang mit der deutschen Sprache am Herzen liegt. Der Sprachwitz sowie die
Wortklaubereien eines Karl Kraus sind dazu angetan, dieses amüsante „Libretto“ (Büchlein) zu einem ständigen Begleiter zu machen. Viel Spaß bei der Lektüre.

Epilog: Viele unserer heutigen selbsternannten Satiriker müssten angesichts ihrer flachen Witzchen und primitiven Diktion vor Scham im Boden versinken. Sie wissen nicht, dass Satire mit der feinen Klinge des Floretts ausgefochten wird und nicht mit der Brechstange. Es ist sicherlich müßig, diesen vulgären Sprachpantschern Karl Kraus‘ Meisterwerk zu empfehlen. Sie würden es wohl kaum verstehen. Im Volksmund nennt man dies „Perlen vor die Säue werfen.“ Diese Perle aus dem Input-Verlag hat in der Tat etwas Besseres verdient.

 

Karl Kraus: „Die Sprache – Der Eros der Logik“, 192 Seiten, erschienen im Input-Verlag, ISBN 978-3-941905-62-7 zum Preis von 20 Euro

Selbstverbesserung oder Wie ein Bücherstapel zwischen zwei Buchdeckel passt

Meisterplan-Panda Huan

Mit seinem neu erschienenen Buch „Der Meisterplan“ hat der Unternehmer, Coach, Sportler und Autor Boris Simon einen Navigator durch fernöstliche Weisheiten vorgelegt und sie mit westlichem Denken und Handeln in Beziehung gesetzt. Boris Simon möchte Menschen zu einem besseren Leben verhelfen, indem er ihnen viele kleine Bausteine verständlich und nachvollziehbar vorstellt, mit denen sich durch kleine Veränderungen spürbare Gewinne an Lebensqualität erzielen lassen. Die Leser erwartet in 17 Kapiteln eine komprimierte, eingängige und anregende Zusammenfassung diverser Themen, deren einzelne, tiefergehende Erschließung ihnen selbst überlassen bleibt.

Auf der Suche nach dem eigenen Weg, der für jeden Menschen individuell ist, bietet Boris Simons Progatonist Meister Taigen allerlei kurze Parabeln an. An der Seite der jungen Schüler des Meisters lauscht die Leserin mit und erhält anschließend eine sachlich-kurze Zusammenfassung mit Impulsen zum Ausprobieren. Da geht es um Karate und die dahinterstehenden Werte, um Lebensführung mit Zielen und Leichtigkeit, Gesundheit, Bewegung, Morgenroutine, die Kraft des inneren Dialogs, um emotionale Selbstregulierung, die Kunst des Schweigens und die Kunst, jeden Tag Sinn und Freude zu finden, in Japan Ikigai genannt, um nur einige Inhalte zu erwähnen. Dabei schwingt der Autor nicht die Keule der Selbstoptimierung und instrumentalisiert die positive Psychologie nicht zur garantierten Erfolgsformel für alles und jeden, sondern er stellt ein Thema und eine Möglichkeit vor, bietet etwas an, ohne dem Leser die Entscheidung aufzunötigen, ob dieser sich denn mit ebenjenem Ansatz befassen möchte oder nicht.

Dabei schafft Boris Simon es, dass man im schnellen Durchlesen des knapp gefassten Buchs gleichzeitig in immer tieferes und langsameres Reflektieren versinkt. Denn das nimmt der Verfasser der Leserin glücklicherweise nicht ab. So wird das Buch erst lebendig, wenn man für sich etwas daraus herleiten und es zu seinem eigenen Arbeitsbuch machen kann.

Wenn du viel wissen willst, lies langsam

Meisterplan-Meister Taigen

Fast möchte ich empfehlen, nur ein Kapitel pro Woche zu lesen, damit genug Zeit für die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema bleibt. Ich habe zu einigen Begriffen recherchiert, zu anderen Tagebuch geschrieben oder einfach eine Weile nachgedacht. Für diese Rezension habe ich es recht schnell zweimal hintereinander gelesen und mich dabei fast selbst überholt, weil ich in meinen Reflexionen nicht nachkam. Andererseits ist das Gute am schnellen Durchlesen, dass „Der Meisterplan“ mir nun als Navigator und komprimiertes Nachschlagewerk dienen kann und ich weiß, wo ich welche Themen finde. Wenn ich dieses Buch als junge Frau schon gehabt hätte, wäre ich in einigen Lebensphasen schneller gewesen und hätte es leichter gehabt – insofern geht die Leseempfehlung auf jeden Fall an Personen in jungen Jahren. Aber auch, wenn man schon ein Dutzend beratender Bücher von Dale Carnegie über Melody Beattie bis Alexandra Bischoff gelesen hat, holt „Der Meisterplan“ diese Erkenntnisse aus den Tiefen der Erinnerungen wieder hervor.

Ein kleiner Wermutstropfen war für mich die Begeisterung des Autors für die japanische Sprache, mit der immer wieder japanische Schriftzeichen aufgeführt wurden – im Verhältnis zum Gesamtumfang des Buches für meinen Geschmack etwas zu viel, wenn man nicht nebenbei die japanische Schriftsprache erlernen möchte; auch, weil die Informationen ohnehin schon sehr verdichtet sind. Mir hätte ein Glossar am Ende des Buchs besser gefallen. Dort wäre auch ein Register angenehm, um im Text Stichworte schneller wiederzufinden.

Kleine Schritte führen auch zum Ziel

Insgesamt zeigt das Buch, dass man keine tiefgreifenden 180-Grad-Wendungen vollführen muss, um sich in seinem eigenen Leben wohler zu fühlen, sondern im Gegenteil sogar eher mit kleinen, langsamen Schritten nachhaltig zu einer besseren Lebensqualität kommen kann. Auf dem Nachttisch oder am Frühstücksplatz deponiert, bietet es eine kleine tägliche Sequenz, die schnell gelesen ist, aber für eine ganze Weile still bewegt werden kann.

Ergänzend zum Buch „Der Meisterplan“ ist nun der gleichnamige Aufsteller mit dem Panda Huan und Meister Taigen erschienen. Darin finden sich „Wegweiser“ mit dazugehörigen „Aufgaben“, um sich in kleinen Übungen den einzelnen Themen zu widmen, die man wiederum im Buch findet.

Auf den ersten Blick mag einiges vielleicht zu stark verkürzt oder simplifiziert wirken; der Autor möchte aber, wie er in einem Gespräch mit der Rezensentin betonte, dazu anregen, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen, die einen bei der Lektüre besonders ansprechen. Boris Simon hat nicht den Anspruch, in seinen Veröffentlichungen die gesamte Welt der Weisheit darzustellen, denn darüber findet sich eine Fülle von Medien. Seinem Anspruch, die für ihn prägenden und wichtigen Thesen und Themen komprimiert, verständlich und motivierend zusammenzufassen, ist er gerecht geworden. Dieses Buch eignet sich auch für Personen, die einen ersten Einblick in fernöstliche Weisheiten bekommen möchten.

Mehr über den Autor: Boris Simon

Mehr über den Meisterplan: Der Meisterplan

 

Ein spannender Abend im historischen Hamburg

Am 20. September 2024 stellte der Krimiautor Hartmut Höhne sein neues Buch „Mord im Thalia“ in den atmosphärischen Räumen des Speicherstadtmuseums vor. Dr. Ralf Lange, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums und Verfasser zahlreicher Bücher im Themenbereich Hamburger Hafen-, Schifffahrts- und Baugeschichte sowie zur deutschen Nachkriegsarchitektur, moderierte die Veranstaltung.

Die Götzenpauke und die wilden Zwanziger

Inmitten historischer Ausstellungsstücke lauschten rund 40 Gäste den spannenden Ausführungen und Leseabschnitten. Zunächst stimmte Hartmut Höhne die Zuschauer auf die Epoche um 1921 ein, in der sein Roman spielt. Zu jener Zeit gab es in Hamburg jedes Jahr ein großes Künstlerfest, das unter einem bestimmten Motto stand und von der „Hamburger Sezession“ organisiert wurde. 1921 lautete das Motto „Die Götzenpauke“. Das ausschweifende Fest fand im heutigen Curio-Haus statt; Hartmut Höhne verlegt es in seiner fiktiven Geschichte ins Thalia-Theater, weil dieses auch über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Die Vorrede des Autors mit einer Vielzahl historischer Fakten und Anekdoten einschließlich früherer Straßennamen ist schon unglaublich spannend. Man hat das Gefühl, in dem liebevoll hergerichteten Ausstellungsraum unter dem Eindruck der Erzählung langsam in eine andere Zeit versetzt zu werden.

Kommissar Jakob Mortensen, der schon aus dem Vorgängerbuch „Mord im Gängeviertel“ bekannt ist, hat den Mord an dem Maler und Bildhauer Max Schwartau aufzuklären. Dabei gerät er in den Bann der verdächtigen Alina Krylow und verliert den Fall aus den Augen, riskiert seine berufliche Stellung und Beziehung. Bei dem einen Mord wird es jedoch nicht bleiben…

Eine Reise ins historische Hamburg

In der detailreich erzählten Vorbereitung für das Götzenpauke-Fest tauchen die Zuschauer tief in das Jahr 1921 ein. Erst langsam erholt sich, wie Hartmut Höhne erläutert, die Kulturszene von den Kriegsfolgen. Mit der Protagonistin Carla Mortensen, Kommissar Mortensens Schwester und die heimliche Flamme seines Kollegen Ove, die als Verantwortliche für das Bühnenbild hinter den Kulissen nachsieht, ob alles gut befestigt ist, gehen die Zuschauer in Gedanken durch das Thalia-Theater, winden sich an fummelnden und knutschenden Menschen vorbei, erleben die sagenumwobene, wilde Zeit – bis Carla auf eine männliche Hand tritt. Geschickt verwebt Hartmut Höhne Wahrheit und Fiktion, historische Personen mit erfundenen Protagonisten. Die Szene des Auffindens der Leiche kommt ohne reißerische Beschreibungen aus. Die atmosphärische Dichte sei ihm wichtiger als Kommissare, die „knietief im Blut stehen“, sagt der Autor. Das Zusammenspiel eloquenter Erzählung, die auch Humor zeigt, mit historischen Fakten und Persönlichkeiten macht die Faszination des Schreibstils aus.

Lesung vor Ausstellungsstücken. Foto: DAP

Nach der Pause, in der das Speicherstadtmuseum Schmalzbrote serviert, widmet sich der Autor seinem Buch „Mord im Gängeviertel“, das in der Hamburger Neustadt spielt. Die Gäste erfahren zunächst wieder einige Details über die Schauplätze wie dem Paradieshof nahe dem heutigen Großneumarkt. Seinerzeit wurde ein Hektar Fläche von rund 1.400 Menschen bewohnt – eine heutzutage kaum vorstellbare Enge. 1919 gab es strenge Lebensmittelzuteilungen und Hungerunruhen, von denen die sog. Sülzeunruhen noch recht bekannt sind, als der Verzehr verdorbenen Sülzfleischs viele Menschen das Leben kostete. Vor diesem Hintergrund entwickelt Höhne die Handlung um Kommissar Mortensen und gibt sowohl im Buchtext als auch im Gespräch mit den Zuschauern der Lesung viele geschichtliche Informationen.

Krimi und geschichtliche Fakten

So bekommt man nicht nur zwei spannende Krimis, sondern auch und einen tiefen, bildhaften Einblick in das Hamburg der Weimarer Republik; eine Bezeichnung, so Hartmut Höhne, die damals jedoch noch gar nicht verwendet wurde. Zu jener Zeit sprach man noch vom „Deutschen Reich“, obwohl es keinen Kaiser mehr gab.

Dr. Ralf Lange im Gespräch mit dem Autor. Foto: DAP

Man hat an diesem Abend im schönen Speicherstadtmuseum nicht nur eine kurzweilige, auf beide Bücher Lust machende Lesung gehört; man hat auch gelernt, was es mit der Hutkrempenregel auf sich hat (das steht im „Mord im Thalia“), hat viel über die Geschichte der Stadt erfahren und konnte sich in der Pause im Museum umsehen, das detailreich und liebevoll ausgestattet ist und über einen kleinen Shop mit zum Ort passenden Artikeln wie Tee in stilecht nachgebauten Kisten und einem gut sortierten Buchangebot verfügt. Die rundum gelungene Buchvorstellung weckt Lust auf weitere Lesungen, die man im Speicherstadtmuseum regelmäßig einmal im Monat besuchen kann. Weitere Infos dazu gibt es hier:

Krimilesungen im Speicherstadtmuseum

Über den Autor

Hartmut Höhne schreibt Romane, Erzählungen, Kurzprosa und Szenisches. Für seine Krimis, die im Gmeiner Verlag erschienen sind, recherchiert er in Archiven, der Staatsbibliothek und beim Verein für Hamburgische Geschichte. Die Zeit der Weimarer Republik fasziniert ihn wegen der großen Veränderungen in Politik, Kunst und Gesellschaft. Er lebt seit 1984 in seiner Wahlheimat Hamburg.

Zur Autorenseite beim Gmeiner Verlag geht es hier: Hartmut Höhne im Gmeiner Verlag

Fotos: DAP

Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6

Feinster literarischer Input: die neuen Perlen der Literatur

Ralf Plenz im Gespräch mit Henning Venske

Wer Literaturveranstaltungen schätzt, in denen nicht nur aus Texten vorgelesen wird, sondern es noch Wissenswertes über deren Autoren und ihre Bedeutung im Kontext der Zeitgeschichte zu hören gibt, ist bei einer Präsentation der Neuerscheinungen des Input-Verlags richtig. Die Hamburger Autorenvereinigung als Veranstalterin hatte zur Vorstellung der fünf neuen Titel eingeladen. Als die Buchreihe mit den ersten Bänden 2021 erschien, war der Gedanke nicht ganz abwegig, dass der Büchermacher Ralf Plenz entweder sehr gut in seinem Metier oder verrückt sein müsste – wer kommt sonst auf die Idee, in Zeiten schwindender Buchabsätze alte Titel neu herauszubringen?

Ergeben die Buchrücken der ersten 19 nebeneinander ins Regal gestellten Bände den Schriftzug „Perlen der Literatur“, ist die „Perlenkette“ fürs Bücherregal nun auf dem Weg, zweireihig zu werden. Zwischenzeitlich existieren 29 Bände, der dreißigste kommt im August. Die Buchvorstellung der fünf Neuerscheinungen von Karl Kraus bis Colette war am 14. Mai das Thema im Theatersaal des Oetinger-Verlags in Hamburg-Altona. Die Vorsitzende der HAV, Literaturwissenschaftlerin und Autorin Sabine Witt, begrüßte die Akteurinnen und Akteure sowie das Publikum, bevor Ralf Plenz die Moderation durch den Abend übernahm.

Der Eros der Logik – Aufsätze über den Gebrauch von Sprache

Elmar Dod referiert über Karl Kraus. Sitzend: Ralf Plenz, Cordula Scheel, Henning Venske (v.l.)

Nach dessen kurzer Vorrede ging es direkt mit Band 27 los: Der Nietzsche-Experte Elmar Dod hatte zu diesem Titel „Karl Kraus – Die Sprache“ das Vorwort verfasst, aus dem er Ausschnitte zu Gehör brachte. Dessen Hauptthema, der Wert des Wortes, beweise große Aktualität und zeige Liebe zur Sprache, so Elmar Dod. 1899 hatte Karl Kraus die Zeitschrift „Die Fackel“ gegründet, die über ihren gesamten Erscheinungszeitraum 30.000 Seiten umfasst. Kraus selbst fasste die in Band 27 versammelten Texte als Sammelband namens „Die Sprache“ zusammen, der 1937 posthum erschien. Die Bedeutung der Sprache, ihr ästhetischer Wert und ihr Geist sind die Themen der Aufsätze. Elmar Dods Zitate aus Vorwort und Kraus‘ Texten beglaubigen schon in ihrer Kürze deren Aktualität und machen Lust auf das Buch.

Kneipen, Kaffeehäuser und Kabaretts

Henning Venske. Foto: Ralf Plenz

Der Impuls zur Neuauflage des oben genannten Werks kam für Ralf Plenz aus der Arbeit an Band 28 „Erich Mühsam – Unpolitische Erinnerungen“, denn Mühsam verweist auf Karl Kraus. Sie waren sich in Wien begegnet. Die Vorstellung dieses Bands oblag dem Radiosprecher und Kabarettisten Henning Venske, der auch das Vor- und Nachwort zu Mühsams unpolitischen Erinnerungen verfasst hat. Bei ihm war das Werk in den besten Händen. „Den ernsthaften Anarchisten war Erich Mühsam zu sehr unpolitische Boheme, dem seriösen Literaturbetrieb trank er zu viel und vergnügte sich zu sehr, den Politikbeflissenen war er viel zu antiautoritär“, so Henning Venske in seinem Vorwort. Sein Vortrag der Satire „Das Lebensprogramm“ von Mühsam war herrlich und wurde weidlich genossen. Die erst 1949 bei Volk und Buch unter dem Titel „Namen und Menschen“ erschienene Sammlung aus den Jahren 1927 bis 1929 lässt das kulturelle Leben am Ende der wilhelminischen Epoche wieder aufleben. Dass Mühsam auch ein wunderbarer Zeichner war, ist nicht allen bekannt. Heute würde man wohl diese Zeichnungen als Comics bezeichnen, meinte Henning Venske.

Eine rosa Perle in der Kette

Florian Weber. Foto: Ralf Plenz

Zu viert übersetzte ein Team den Band 29 von Emilia Pardo Bazán mit dem sehr passenden Titel „Die rosafarbene Perle und andere Geschichten aus dem Panoptikum der Liebe“. Einer der Übersetzer, Florian Weber aus Kiel, war eigens für die Buchvorstellung nach Hamburg gekommen und brachte dem Publikum die hierzulande nahezu unbekannte galicische Autorin näher. Diese war nämlich in ihrer Epoche des 19. Jahrhunderts zur Skandalautorin geworden, weil sie authentisch über die Verhältnisse ihrer Zeit schrieb und dabei Themen wie das Leiden der Frauen unter der männlichen Fremdbestimmung nicht scheute. Ihr sachlich-nüchterner Stil verzichtete auf Wertungen, kam jedoch in einem ironischen Ton daher. Das Übersetzerteam hatte es nicht leicht damit, diesen Ton auch in der deutschen Version zu treffen. Florian Weber bot einen sehr spannenden Einblick in die Arbeit der Übersetzung, die letztlich eine literarische Nach- oder Neubearbeitung mit sich bringen musste. Erotische Obsession, Prostitution, Ehebruch, Eifersucht und Liebestod – nicht weniger als diese thematische Bandbreite umfasst das Buch als Sammelband, der ursprünglich 1898 in Spanien veröffentlicht worden war. Insgesamt hat Emilia Pardo Barzán über 600 Kurzerzählungen geschrieben, die in Zeitschriften publiziert wurden. Ob es noch unentdeckte gibt, ist nicht bekannt.

Zorn verhindert Verständnis für das Kind

Maria Montessoris „Das Geheimnis der Kindheit (Teil 1)“ ist bereits Thema des Bands 25 und findet die Fortsetzung im gleichnamigen Band 26 (Teil 2 und 3 zusammengefasst), einfühlsam präsentiert von der Schriftstellerin Cordula Scheel, die sich im Wege ihrer neuen Übersetzung aus dem Italienischen und des Verfassens ihres Vor- und Nachworts sehr intensiv mit Montessori befasst hat. Kinder gewähren zu lassen, sie nicht zu unterbrechen und ihnen unsere unbedingte Liebe unter Verzicht auf eigene Vorlieben zu geben, war Maria Montessoris dringendes Anliegen; dass sie diese Behandlung ihrem eigenen Kind nicht angedeihen ließ, sondern es weggab, um Karriere zu machen, verwundert indes. Cordula Scheel ist im Podiumsgespräch mit Ralf Plenz anzumerken, wie sehr ihr das Thema der Kindheit am Herzen liegt. „Hilf mir, dass ich es selber kann“, formuliert sie die Essenz der Lehre Montessoris.

Ältere Frau liebt jüngeren Mann

Der Band 30, nämlich „Chéri“ von Colette, wird von deren Fans sehnsüchtig erwartet, doch diese müssen sich noch bis August gedulden: Erst dann wird das Werk gemeinfrei und kann neu veröffentlicht werden. Ulrike Lemke, in mehreren Sprachen versierte Übersetzerin und Lektorin, übernahm die Neuübersetzung des Romans; Vor- und Nachwort stammen von der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Charlotte Ueckert. Ulrike Lemke erzählte kurzweilig von Colette und der Romanhandlung: Die alternde Halbweltdame Léa verliebte sich in den Sohn einer Freundin und begann eine Affäre mit ihm. Colette schrieb das Werk bezeichnenderweise, als sie eine Affäre mit ihrem Stiefsohn hatte. Zu Colettes Zeit um 1920 war es ein größeres Tabu als heute, wenn der Mann 19 Jahre alt war und die Frau 24 Jahre älter. Colettes erste zwei Männer seien Schwerenöter gewesen, erzählte Ulrike Lemke. Colettes literarisches Leben begann kurz nach ihrer Heirat mit dem ersten Mann „Willy“, sie war 20 Jahre alt und wurde Ghostwriterin in seiner Schreibfabrik. Wie alle Vorträge, weckte auch Ulrike Lemkes Buchvorstellung mit Lesung aus dem Roman große Lust auf das Buch.

Die Perlen auf Expansionskurs

Darum schafft man es auch nicht, ohne Buch den Heimweg anzutreten. Die Freude über die schön gestalteten, in Leinen gebundenen Bücher mit individuellem Vorsatzpapier und ebenjener Banderole, die den eingangs genannten Schriftzug auf den Buchrücken bildet, ist groß.

Ich sinniere wieder darüber nach, wie man in diesen Zeiten eine 30-bändige Buchreihe europäischer Literatur auf den Markt bringen kann, und frage noch mal den Büchermacher. Er und seine mehr als fünf Übersetzerinnen und Übersetzer, 14 Vorwortschreiber und -schreiberinnen, drei Lektorinnen und diverse externe Berater haben die Perlen der Literatur in die Welt geschickt: Man kennt sie in Schweden, Norwegen, Italien, Frankreich, Amerika, Österreich und der Schweiz. Sogar nach Australien haben sie es schon geschafft. Man liest sie sowohl allein als auch gemeinsam; zum Beispiel in Lesekreisen. Dort erscheint Ralf Plenz auf Wunsch sogar persönlich und stellt drei ausgewählte Titel vor. Die Buchreihe wurde in diversen Print- und Onlinemedien vorgestellt und rezensiert. Totgesagte leben länger – so verhält es sich mit der Literatur und so kenne ich es aus der Lyrik auch.

Man kann die Buchreihe abonnieren und sogar Vorzugsausgaben mit Original-Kalligraphien und Aquarellen bekommen. Ein einen halben Meter Regalfläche habe er gerade freigeräumt, berichtete der Büchermacher auf die Frage aus dem Publikum, wie viele Titel es noch werden sollen. Man darf also auf die Fortsetzung der hochwertigen Reihe gespannt sein.

Zum Artikel über die ersten Bände geht es hier: Eine Perlenkette fürs Bücherregal

Zum Input-Verlag geht es hier: https://input-verlag.de/

Warum kompliziert, wenn’s auch einfach geht?

Buchcover, (c) Springer

Mit dem neuen „Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome“ legen Karina Sturm, Helena Jung und Andrea Maier ein Fachbuch vor, das sich für Angehörige medizinischer Berufe ebenso eignet wie für Betroffene.

Die von den seltenen Ehlers-Danlos-Syndromen (kurz EDS), einer Gruppe angeborener Bindegewebserkrankungen, Betroffenen müssen meistens eine Odyssee absolvieren, bevor man sie mit ihren Symptomen ernstnimmt und überhaupt den Versuch unternimmt, die Ursache zu ergründen. Psychische Erkrankungen und Erkrankungen aus dem Rheumakreis sind nur zwei Gebiete der zahlreichen Fehldiagnosen, mit der EDS-Betroffene sich herumschlagen müssen. Schließlich werden sie notgedrungen meist selbst Experten für ihr Krankheitsbild, was den Kontakt mit Ärzten nicht unbedingt erleichtert, weil sie oft als besserwisserisch gelten. Fachliteratur ist überwiegend nur auf Englisch erhältlich, hinzu kommen die Hürden des medizinischen Fachvokabulars.

Persönliche Erfahrungen treffen medizinisches Fachwissen

Dem abzuhelfen war die Motivation der drei Autorinnen des jüngst erschienenen Ratgebers in deutscher Sprache. Die Multimedia-Journalistin Karina Sturm lebte sieben Jahre in San Francisco. Als EDS-Betroffene und chronisch Erkrankte kombiniert sie ihr Fachwissen mit ihren persönlichen Erfahrungen und hat bereits viel dafür getan, dass EDS im deutschsprachigen Raum bekannter wurde. Die Medizinerinnen Dres. Helena Jung und Andrea Maier haben gemeinsam mit Karina Sturm den neuen Ratgeber geschrieben.

In vier Kapiteln führen sie die Leser an die Thematik der Ehlers-Danlos-Syndrome mit ihren Ausprägungen heran, stellen den Weg zur Diagnose vor, führen Begleiterkrankungen detailliert auf und geben praktische Hilfen zum Krankheitsmanagement. Im fünften Kapitel werden soziale Themen vorgestellt. Ein Stichwortverzeichnis erleichtert das Auffinden einzelner Begriffe im Text. Das Buch ist in barrierefreier Ausgabe erschienen, was bedeutet, dass Grafiken und Bilder noch einmal textlich erläutert sind. Da die Grafiken teilweise schlecht erkenn- und lesbar sind, sind diese Erläuterungen für alle Leser hilfreich. Eine wunderbare Ergänzung sind Videos, deren Links man aus dem Buch scannen kann (man benötigt für diese Zusatzmöglichkeit die App Springer More Media).

Die Fakten und Ausführungen sind spannend aufbereitet und ziehen beim Lesen in den Bann – man kann das Buch kaum weglegen. Vieles lässt sich beim Zurückblättern schnell wiederfinden, wenn man sich an den Zusammenfassungen in grauen Kästen orientiert.

Was ist das denn – EDS?

Foto: Maren Schönfeld

Die EDS wirken sich überall aus, denn jeder Mensch hat überall Bindegewebe: Haut, Knochen, Gelenke, Augen, Zähne, Schleimhäute, Nägel. So gibt es meist ganz verschiedene Symptome, die jedoch zusammengenommen auf eine Ausprägung oder Variante der EDS hindeuten. Man muss das nur aus diesem Blickwinkel betrachten, worauf die Medizin jedoch nicht unbedingt ausgerichtet ist.

Das Zusammenkommen medizinischen Wissens mit persönlichen Erfahrungen macht den Reiz und Informationsgehalt des Ratgebers aus. Nach der 2017 erfolgten New-York-Klassifikation der EDS, die an die Stelle der vormals verwendeten Villefranche-Klassifikation getreten ist, sind nun auch Unterformen wie das Brittle Cornea Syndrome mit aufgenommen worden. Letzteres wurde der Verfasserin dieser Rezension noch 2016 von der Humangenetik des UKE Hamburg-Eppendorf als „kein Nachweis einer krankheitsrelevanten genetischen Variante, die Ihre Beschwerden erklärt“ attestiert, obwohl man mittels einer Paneldiagnostik den Gendefekt zweifelsfrei festgestellt hatte. Man wusste nur nicht, was diese Diagnose bedeutet. Zwischenzeitlich ist bekannt, dass dieses Syndrom Augenerkrankungen und Hüftdysplasie, Gelenküberbeweglichkeit und samtige, dehnbare Haut in sich vereint – Symptome, die wohl kaum ein Mediziner unter eine gemeinsame Überschrift bringen würde.

Was die Leidtragenden der EDS dringend benötigen, sind quasi „Beweise“ dafür, dass die Symptome keine Einbildung sind und keine psychologischen Hintergründe haben. Der Ratgeber vermittelt niedrigschwellig auch für Laien gut verständlich die wichtigen medizinischen Fakten, bereitet zugleich für das Arztgespräch vor und kann sogar noch von den Patienten an Ärzte weitergegeben werden, ist er doch auch für Mediziner, Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten und weiteres medizinisch geschultes Personal ein profundes Fachbuch. Der Erkenntnisgewinn ist für Betroffene unbezahlbar, wenn sich plötzlich ein Grund für ganz unterschiedliche Beschwerden findet, wo bislang möglicherweise drei oder mehr Fachärzte in ihrem Bereich isoliert Auffälligkeiten feststellten. Die Autorinnen geben auch Argumentationshilfen für die Durchsetzung der Rechte Kranker, was in einer Gesellschaft, in der u.a. Anträge auf Schwerbehinderungsfeststellung grundsätzlich erst einmal abgewiesen werden, sehr wertvoll ist.

Der Schreibstil des Ratgebers ist ermutigend und positiv. Trotz der schweren Thematik einer nicht heilbaren Erkrankung, mit der sich Betroffene irgendwie arrangieren und sich ihr Leben auf eigene Faust so erträglich wie möglich einrichten müssen, löst der Ratgeber optimistische Empfindungen aus. Denn er beschreibt, dass man trotz des Status „seltene Erkrankung“ (ob das stimmt, darf bezweifelt werden, da die Zahl der nicht erkannten EDS-Erkrankungen sehr hoch sein dürfte) nicht allein mit der Diagnose und den Einschränkungen des täglichen Lebens dasteht. Die Selbsthilfevereine „Bundesverband Ehlers-Danlos-Selbsthilfe e.V.“ in Bielefeldt und „Ehlers-Danlos-Iniative e.V.“ in Fürth sind weitere Anlaufstellen für Betroffene, beide Vereine sind bundesweit tätig.

In den letzten Jahren sind einige weitere Publikationen zu den EDS erschienen, davon wenige auf Deutsch. Möglicherweise hat der „Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome“ dazu beigetragen und anderen Menschen mit entsprechenden Buchprojekten den nötigen Informationshintergrund geliefert, aber auch Mut gemacht, ein eigenes Buch zu schreiben. Dieser Ratgeber ist sehr geeignet, das deutschsprachige Standardwerk des aktuellen Forschungs- und Wissensstands der EDS zu werden.

Karina Sturm, Helena Jung, Andrea Maier: Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome, Komplexe Bindegewebserkrankungen einfach erklärt, Springer, Berlin 2022

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Wenn die Mutter fast Gott ist

Titel, Foto: DAP

Die italienische Erstausgabe des Romans „La Madre“ von Grazia Deledda erschien 1920. Genau 95 Jahre später erregte eine Studie aus Israel internationale Aufmerksamkeit, mit dem Begriff #regrettingmotherhood wurde ein Tabu thematisiert: Was, wenn Frauen es bereuen, Mutter geworden zu sein? Eine Entscheidung, die unumkehrbar ist. Eine Diskussion, die das überhöhte und idealisierte Mutterbild ins Wanken brachte. 2022 legte nun der Input-Verlag eine von Ulrike Lemke neu übersetzte Auflage von „Die Mutter“ vor.

 

Zwischen Liebe und Zölibat

Der junge Priester Paolo, von seiner Mutter bis zu deren Selbstaufgabe unterstützt, lebt in einem kleinen italienischen Dorf mit der Mutter unter einem Dach. Ihrer beider Leben läuft in festen Bahnen, die Dorfbewohner schätzen sie. Doch dann verliebt Paolo sich in eine junge Witwe und findet sich im Spannungsdreieck zwischen dieser Liebe, seinem Gelübde und den Ansprüchen seiner Mutter wieder. Denn sie hat ihr Leben nicht aufgegeben, damit er sich nun in Schimpf und Schande in eine Liebe stürzt und sein Priesteramt verliert. Man könnte glauben, dass Paolo hier die Hauptperson ist, aber das Buch trägt den Titel „Die Mutter“ nicht umsonst. Eine Mutter, die aus dem kleinen sardinischen Dorf einst wegzog, um als Dienstmagd ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihrem Sohn die Ausbildung zum Priester zu ermöglichen. Später, zurück in ebenjenem Dorf, nun mit dem erwachsenen Sohn als Priester, lebt sie nur aus dem Stolz auf ihn und der Anerkennung der Dorfbewohner, dem Status als Mutter des Priesters, den alle schätzen und achten. Was hätte sie wohl aus ihrem Leben gemacht, wenn sie kinderlos geblieben wäre?

Was bedeutet es, Mutter zu sein?

Ausschnitt, Foto DAP

Diese Mutter ist mir unheimlich. Natürlich geht es auch um Macht, um Kontrolle, die vermeintliche Aufopferung hat ihren Preis, nicht nur für Paolo, wie sich am Ende des Buchs zeigen wird. Dieser schmale Band aus der Reihe „Perlen der Literatur“ wirft elementare Fragen auf, die mir nachgehen. Ist die Aufopferung einer Mutter so selbstverständlich, wie sie auch in unserer Gesellschaft noch vielfach angenommen wird und die einmal pro Jahr mit dem Muttertag mit großem Medienzirkus gefeiert wird? Wie tief stecken wir noch in alten Rollenbildern? Wie ergeht es einer Mutter, die es bereut, Mutter zu sein? Und was bedeutet es für ein Kind, entweder eine aufopfernde oder eine weniger altruistische Mutter zu haben? Für Paolo ist die Mutter eine Instanz, die so mächtig ist, dass sie mit Gott verschmilzt. Er glaubt, dass die Mutter ein Werkzeug Gottes ist, um dem Sohn die göttliche Weisung zu überbringen, wie er sich in dem Dilemma der Liebe zu der Witwe einerseits und seinem Priesteramt andererseits zu entscheiden hat. Wie diese Entscheidung ausfällt, soll hier nicht vorweggenommen werden.

Dieser schmale Band ist einmal mehr ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus einer Story mit wenigen Figuren und minimaler Handlung tiefgehende Literatur werden kann. Umso mehr, wenn auch die Erzählsprache – aus dem Italienischen übersetzt von Ulrike Lemke – in ihrer Eloquenz das Thema aufnimmt und die Leserschaft in Bann zieht. Grazia Deledda erhielt für ihr Gesamtwerk den Nobelpreis für Literatur. Es ist erfreulich, dass sie dem deutschsprachigen Lesepublikum mit der Neuauflage des Titels „Die Mutter“ wieder vorgestellt wird.

Wie alle Bände der Reihe „Perlen der Literatur“ ist auch dieser liebevoll in Leinen mit Prägung gebunden, hat ein eigenes Vorsatzpapier, eine eigene Schrifttype mit einigen kalligraphierten Absätzen und eine mit Kalligraphie versehene Banderole erhalten.

Foto: DAP

Grazia Deledda: Die Mutter (übersetzt von Ulrike Lemke)
Input Verlag, Hamburg 2022
Link zum Verlag: https://input-verlag.de/19-20-die-mutter-meister-floh/

Skurril bis tödlich

In „Dandys, Diebe, Delinquenten“ begeben wir uns mit der Autorin Bettina Müller auf eine Zeitreise durch das kriminelle Berlin der dreißiger Jahre. In einer etwas langatmigen Einleitung schlägt sie den Bogen vom beschaulichen kaiserlichen Berlin bis in die chaotischen Jahre der Weimarer Republik. Die unübersichtlichen Verhältnisse brachten es mit sich, dass ein bunter Haufen von Verbrechern ihrem kriminellen „Metier“ nachgehen konnte. Manche Sumpfblüte gedieh in dem schwülen Klima und brachte die Polizei schier zur Verzweiflung. Aus der Fülle von Vergehen hat die Autorin vierzehn besonders spektakuläre Fälle herausgepickt, die sich seinerzeit im „Chicago“ des Reiches ereigneten. Sie bewegen sich auf einer Skala von skurril bis tödlich.

Ein Mann mit dem klingenden Namen Georges Manolescu, dem man den Ehrentitel „Fürst der Diebe“ ans Revers heftete, eröffnet den Reigen. Unter dem Motto „Mehr Schein als Sein“ trieb er sein Unwesen, wechselte je nach Gusto seine Identität, „befreite“ die Reichen auf seinen Raubzügen von allem Kostbaren, das nicht niet- und nagelfest war, landete im Kittchen und fand schließlich in Menton an der Côte d’Azur seine letzte Ruhestätte. Ein weiterer „Gentleman-Verbrecher“ – sprich Hochstapler – führte jahrelang die Berliner Polizei an der Nase herum. Sein Vorbild war offensichtlich der Hauptmann von Köpenick. Er zwängte sich zwar nicht in eine preußische Uniform, trug dafür aber einen gestutzten Schnurrbart à la Wilhelm Zwo und präsentierte sich stets in feinem Zwirn. Auch einen berüchtigten Juwelendieb hatte das Berliner „Milljöh“ zu bieten, der sich während eines Raubzugs vor der Inhaftierung aus dem Fenster stürzte und sich dabei das Bein brach. Ende der Karriere.

Eine der skurrilsten Erscheinungen jener Verbrecherriege war der Fassadenkletterer Fritz Wald, ein Dandy aus dem Sächsischen, der seinem riskanten Beruf stets in Smoking und Lackschuhen nachging. Man nannte ihn das „Nachtgespenst“, das nicht nur seine Opfer bestahl, sondern auch den in tiefem Schlummer befindlichen Damen des Hauses einen zarten Kuss auf die Lippen drückte, bevor er sich abseilte. Ein gefundenes Fressen für den bekannten Schauspieler und Sänger Kurt Gerron, der – echte Berliner Schnauze – dichtete: „Ick bin dein Nachtgespenst. Ick weck dich, wennde pennst.“

Dieses spannend geschriebene Buch enthält neben völlig unblutigen Vergehen auch grauenvolle Verbrechen. Da ist der Fall eines Polizisten, der sich 1924 vor dem Schwurgericht wegen besonders brutaler Morde an zwei älteren Frauen zu verantworten hatte. Ein Gutachter bescheinigte dem Mörder eine schwere psychische Störung und sorgte dafür, dass er statt unter dem Fallbeil in einer psychiatrischen Anstalt landete. Eine humane Entscheidung. Diese Einstellung änderte sich schlagartig, als wenig später die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Für die waren alle Delinquenten „Ungeziefer“, von denen sehr viele umgehend deportiert wurden.

„Dandys, Diebe, Delinquenten“ von Bettina Müller, erschienen im Elsengold Verlag, 191 Seiten, zum Preis von €22,–, ISBN 978-3-96201-112-3

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung

 

 

„Ein Jahr noch, und dann ist es aus“

Vorsatzpapiere, (c) Input-Verlag

Diesen Satz sagt Felix zu seiner Geliebten Marie, als sie im Prater in einem Wirtshaus sitzen. Dieser Satz ist der Anfang eines Verhängnisses, das Arthur Schnitzler in seiner Novelle „Sterben“ auf 134 Seiten aufrollt und von allen Seiten beleuchtet, auf so packende Weise, dass man das Buch kaum weglegen mag.

Felix ist krank, sterbenskrank – oder glaubt er nur, es zu sein? Es gibt allenfalls diffuse Symptome.  Sein Arzt Alfred äußert sich gleichzeitig so vage, resolut und Mut machend, dass es argwöhnisch macht. Entweder ist Felix ein Hypochonder oder ein todkranker junger Mann. Jedenfalls ist er davon überzeugt, in einem Jahr sterben zu müssen. In ihrer Verzweiflung und Angst verspricht Marie, mit ihm zu sterben.

Man könnte glauben, dass dies ein trauriges, vielleicht gar trostloses Buch sei, resignativ durch das schwere Thema. Dass es kein Happy End geben wird, ist in der Atmosphäre der Geschichte angelegt. Wie das Ende aussehen wird, jedoch nicht, es bleibt bis zum Schluss spannend. Und nicht weniger spannend ist die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens, der Liebe, des Schönen und des Schrecklichen. Schnitzlers unvergleichliche, poetische Sprache schafft eine oszillierende Schönheit, die – gepaart mit der inhaltlichen Spannung – den Leser in den Bann schlägt.

Im Spannungsfeld der starken Nähe zweier Verschwörer in Erwartung des baldigen gemeinsamen Endes und der großen Entfremdung, als Marie von ihrem Lebenswillen gepackt wird, fühlt man als Leser mal mit der einen, dann mit der anderen Figur, ist hin- und hergerissen und kann es kaum aushalten, nicht zu wissen, was nun wirklich los ist. Denn Schnitzler benennt die Krankheit an keiner Stelle, man weiß sehr lange nicht, ob Felix wirklich krank ist oder sich alles nur einbildet.

So geht es auch Marie. Während eines Kuraufenthalts in den Bergen scheint Felix wieder zu genesen, das quälende Versprechen Maries, mit ihm in den Tod zu gehen, scheint sie nicht einhalten zu müssen. Fast könnte man glauben, dass nun alles gut würde. Fast. Wenn da nur nicht dieser immerwährende Zweifel wäre, den Arthur Schnitzler meisterhaft zwischen den Zeilen hält.

Wie diese großartige Novelle endet, soll hier nicht vorweggenommen werden. „Sterben“ ist ein wunderbares Buch für den Winter, für die stillere Zeit. Der Verzicht auf drastische Schilderungen und Effekte macht die Erzählung stark und zeigt, wie weite Räume sich mit poetischer, bildhafter Sprache und Andeutungen öffnen lassen. Man darf als Leser hier Phantasie haben.

Dieser Band trägt die Nummer 14 der Reihe „Perlen der Literatur“ aus dem Input-Verlag und zeichnet sich, wie die anderen Bände auch, durch sein bibliophiles Erscheinungsbild aus. Dadurch wird das Lesevergnügen noch einmal gesteigert. Mehr über die außergewöhnliche Reihe finden Sie in diesem Artikel:

https://die-auswaertige-presse.de/2021/09/eine-perlenkette-fuers-buecherregal/

 

Arthur Schnitzler: Sterben
Perlen der Literatur, Band 14
Input-Verlag, Hamburg 2022

Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise…

Mit dem Sahara-Express durch die Wüste

In seinem jüngst erschienenen Buch „Zwischen Hamburg und der Ferne“ lädt uns der bekannte Schriftsteller Wolf Cropp auf eine Reise rund um die Welt ein. Leichtfüßig bewegt er sich zwischen der Hansestadt und zahlreichen Ländern auf der nördlichen und südlichen Halbkugel unseres Globus. In Insgesamt zweiundvierzig völlig voneinander unabhängigen Erzählungen gewährt der Autor dem Leser einen Einblick in sein abenteuerliches Leben, das ihn stets fernab der ausgetretenen touristischen Pfade nicht nur in die interessantesten, sondern häufig auch gefährlichsten Regionen des Planeten führten.

Die Reise um die Welt beginnt vor der Haustür
Mal wieder im Hamburger Hafen bei der Verholung der PAMIR

Ein kluger Fahrensmann sagte einst, dass einer, der die Welt erkunden will, zuerst seine Heimat richtig kennenlernen solle. Dann erst habe er das Rüstzeug für die weite Ferne. Folgerichtig beginnt Cropp seinen Erzählzyklus in seiner Vaterstadt Hamburg. „Kampfplatz Stadtpark“ berichtet von einem gefährlichen Abenteuer, das er und seine Spielkameraden nach 1945 in der vom Krieg zerstörten Hansestadt zu bestehen hatten. Vielleicht war dieses Erlebnis zusammen mit anderen gewagten „Aktionen“ auch die Feuertaufe für diesen drahtigen Mann, der auf seinem weiteren Lebensweg nie einer Herausforderung auf dem Weg ging.

Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Der Voodoo-Priester mit der Plastiktüte?

Wer kann sich etwas Schöneres vorstellen als die Inseln der Südsee? So verschlug es den Autor nach Moorea, Tahiti, wo er mit dem „Inselschreck“ Bekanntschaft schloss. Mit den Füßen im Stillen Ozean plätschernd, überlegte er sich, wie er zu Wasser nach Papeete gelangen könnte, mietete ein Auslegerkanu und landete in der Tat am Ziel seiner Träume, trotz der Warnung eines Einheimischen, er könne zwar heil in Tahiti ankommen, aber auch bei ungünstiger Strömung auf dem offenen Meer verloren gehen. Hatte der Waghalsige nur Glück oder war er einfach ein begnadeter Navigator? Wir vermuten letzteres. Von dieser Tour de Force etwas erschöpft, wandelt Cropp beseelt auf den Spuren des Malers Paul Gauguin und lässt uns an der tragischen Lebensgeschichte des Malers teilhaben. Der Künstler erträumte sich einen Garten Eden in der Südsee, frei von allen Konventionen der westlichen Zivilisation, fand aber zu seinem Leidwesen eine durch die französische Kolonialherrschaft zerstörte autochthone Kultur vor. Quelle déception! Dennoch schuf er wunderbarer Gemälde, die zwar zu seinen Lebzeiten niemand kaufen wollte, die aber heute unbezahlbar sind. Ein Schicksal, das er mit anderen genialen Künstlern teilt. Man denke nur an Vincent van Gogh.

Eisfischen am Nordrand Alaskas

Auf den „Marktbesuch“ im westafrikanischen Benin folgen spannende Geschichten auf dem „Transalaska Highway“ sowie eine „Kreuzfahrt ins ewige Eis“ Alaskas. Ferner erfahren wir, dass am Sambesi „Die Hölle stinkt.“ Es gehört schon viel Mut dazu, sich auf eine „entspannte Bootsfahrt“ oberhalb der Victoriafälle zu begeben. Noch viel gefährlicher aber sind die Gewässer darunter, in denen hungrige Krokodile leben und auf Beute lauern. Doch auch diesen Höllentrip übersteht Cropp mit einem Lächeln auf den Lippen, als er gleich zwei der riesigen Echsen mit weit aufgerissenen Mäulern neben seinem Boot erblickt. Nach einem solchen Abenteuer mutet der Ausflug in die Wüste im Tschad zwar auf den ersten Blick wie ein Spaziergang an, entpuppt sich jedoch als Ausflug voller Tücken. Als der Autor die Orientierung verliert, verlassen ihn bald seine Kräfte. Völlig erschöpft legt er sich im Wüstensand zum Schlaf nieder: „Ich suchte den Boden ab. Schwarzkäfer bohrten sich in den Grund. Skinke huschten über den Sand. Ein Skorpion hastete davon. Eine Hornpiper grub sich ein. Der Abendwind blies sie weg, die letzten Lebensspuren…“ Aber auch aus dieser prekären Lage arbeitet sich Cropp heraus, der offenbar wie eine Katze über sieben Leben verfügt. Der wunderbaren Geschichten sind viele in diesem lesenswerten Buch. Eine der anrührendsten ist jene, in der sich der Autor auf die Suche nach dem verlorenen Sohn eines Freundes in Thailand begibt und diesen nach endlosen Umwegen auch findet.

Kein Platz für Märchen
Der Autor on Tour

Wenn auch manche Erzählungen etwas fantastisch anmuten, so haben wir es im Autor Cropp nicht etwa mit einem Claas Relotius zu tun, der den „Spiegel“ vor nicht langer Zeit mit Geschichten beglückte, die ausschließlich seiner allzu lebhaften Fantasie entsprangen. Keines von Cropps Abenteuern ist erfunden. Hier geht es ausschließlich um „histoires vécues“ – am eigenen Leib Erlebtes und Erlittenes. Manche der in „Zwischen Hamburg und der Ferne“ enthaltenen Erzählungen kennen wir bereits aus verschiedenen Büchern, die der Autor im Laufe der Zeit über seine Reisen rund um den Globus geschrieben hat. Sein einzigartiges Fabuliertalent lässt uns seine Abenteuer hautnah miterleben. Dazu gehören u.a. „Fluchtort Guantánamo, „Heimaterde“ und „Die Brandung.“ In diesem Kontext hervorzuheben ist „Insel der Meuterer (Pitcairn), eine faszinierende Geschichte, die das Schicksal der Überlebenden der legendären „Bounty“ auf einer gottverlassenen Insel in der Südsee erzählt. Da dieses felsige Eiland offenbar auf den Seekarten der britischen Admiralty im 18. Jahrhundert nicht zu finden war, biss man sich im fernen London die Zähne aus nach dem Verbleib von Fletcher Christian und den übrigen Meuterern. Kaum zu glauben, aber es gibt auf Pitcairn immer noch Nachkommen dieses Aufrührers gegen die britische Krone.

Zurück zu den Wurzeln

Mit „Zwischen Hamburg und der Ferne“ überreicht uns Wolf Cropp einen bunten Blumenstrauß wunderbarer, den ganzen Erdball umspannender Erzählungen. Die literarische Reise endet, wo sie begann, in Hamburg. Hier begegnen wir der drallen „Seemannsbraut“ auf St. Pauli, erfahren manch Bizarres über die „Liebe in Zeiten von Corona“ und wohnen der Überführung der „Viermastbark Peking“ in ihren heimatlichen Hafen auf dem Grasbrook bei.

Fazit

Wer sehnt sich in dieser trüben kalten Jahreszeit nicht nach Sonne, Meer und Abenteuern in fernen Ländern? Empfehlung: Man greife zu „Zwischen Hamburg und der Ferne“ und genieße dieses fast 500 Seiten starke Buch in vollen Zügen. Viel Spaß bei der Lektüre.

Buchcover
(c) Verlag Expeditionen, Hamburg

„Zwischen Hamburg und der Ferne“ von Wolf Cropp ist im Verlag Expeditionen erschienen, umfasst 491 Seiten und kostet 20 Euro. ISBN 978-3-947911-68-4

Fotos: Wolf-Ulrich Cropp

Ein Friesenkrimi vom Allerfeinsten

Bild von Peter Kraayvanger, Pixabay

Welkoam iip Lunn! Willkommen auf dem roten Felsbrocken, der wie eine von Riesenhand erschaffene Trutzburg aus der tosenden Nordsee herausragt. In seinem neuesten Buch mit dem etwas sperrigen vollständigen Titel „Das Helgoland, der Höllensturz oder Wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet, obgleich die Dreizehenmöwen hier mit Rosinen gegessen werden“ führt uns Reimer Boy Eilers ohne Umschweife hinein in das Leben auf Helgoland am Anfang des 16. Jahrhunderts. Seitdem hat sich das Gesicht der Insel fundamental verändert. Anno dunnemals bestand sie lediglich aus zwei „Etagen“, dem Unter- und Oberland. Das Mittelland lag noch in ferner Zukunft. Es wurde erst nach 1945 von den Engländern „kreiert“ bei ihrem vergeblichen Versuch, „Hell-Go-Land“ auf immer und ewig im Meer zu versenken. Noch einmal Glück gehabt, Halunder! Deus vult. Und auch der monumentale leuchtend weiße Kalkfelsen, einst neben der Langen Anna ein weiteres Wahrzeichen der Insel, existiert nicht mehr. Er wurde vom seinerzeitigen Landesherrn gegen klingende Münze verscherbelt.

Bigotterie und Spökenkiekerei
Reimer Boy Eilers

Der auf den Helgoländer Hummerklippen aufgewachsene Lyriker, Romancier und renommierte Reiseschriftsteller Reimer Boy Eilers gilt als intimer Kenner der Geschichte seiner Heimat. In seinem 570 Seiten starken Opus entwirft er ein von Bigotterie und Spökenkiekerei geprägtes Sittengemälde einer im Korsett mittelalterlicher Moralvorstellungen verharrenden Inselgemeinde. Wäre den Insulanern auch ein Mord zuzutrauen für den Fall, dass sich ein Außenstehender nicht an ihre starren, seit Urzeiten tradierten Regeln hielte?

Hals- und Beinbruch

Kaum hatte Kapitän Hans Andahlsen aus Amsterdam den Fuß auf das Oberland gesetzt, stürzte er von einer Treppe in die Tiefe und brach sich neben seinem Hals auch die Beine. Unfall oder Mord? Für den jungen Fischer und Robbenjäger Pay Edel Edlefsen und seinen Jagdfreund John Quivitoq McLeod, Esquimaux von der „Frostinsel“, genannt das „Menschenkind“, steht fest, dass der wackere Seemann einem Verbrechen zum Opfer fiel. Denn wozu sonst die Eile der Insulaner, ihn bei Nacht und Nebel in den „wilden Dünen“ inmitten der Wasserleichen auf dem Friedhof der Namenlosen zu verscharren? Was viel schwerer wiegt: Der Mann ging in die Grube ohne – horribile dictu – die Sakramente der Heiligen Kirche empfangen zu haben. Eine Höchststrafe für jeden Christenmenschen jener Zeit. Nichts Geringeres als ewige Verdammnis erwartete die arme Seele. Misericordia!

Gegen den erklärten Willen seines Vaters Boje Edlef, seines Zeichens Fischerhauptmann und hoch angesehener Ratsherr, beginnen Pay Edel und John ihre Recherchen, um den Tod des Holländers aufzuklären. Sie können sich keinen Reim darauf machen, warum der Hauptmann sich so vehement gegen ihr Vorhaben sträubt. Hat er etwas zu verbergen? Aber die beiden Hobby-Detektive lassen sich nicht einschüchtern und bohren mutig weiter. Sich gegen die Obrigkeit oder ihre Vertreter aufzulehnen, geht in der Regel böse aus. Die erste Lektion erhält Pay Edel, als ihm ein besonders hinterhältiger Zeitgenosse einen kräftigen Schlag  auf den Schädel verpasst. Gottlob ist Freund John zur Stelle, der ihm mit einer Pütz Seewasser wieder auf die Füße hilft. Soweit die Rahmenhandlung.

Familienaufstellung

Die Rezensentin bekennt, dass sie anfänglich von den sich überschlagenden Ereignissen und jenen für Nichtfriesen seltsamen Namen überfordert war. Daher geht ihr Dank an den Autor, der sich der Mühe einer akribischen Aufzählung sämtlicher Namen der handelnden Personen einschließlich ihrer Berufe oder gesellschaftlichen Stellung auf Seite 555 unterzogen hat. Da wird die gesamte Sippe der Edlefsens vorgestellt, die aufgrund der Position des Familienoberhauptes und ihres relativen Wohlstands neben der Familie des Gouverneurs zum Insel-Adel gehört. Heute würden wir von „Promis“ sprechen. Des Weiteren erfahren wir, dass „Menschenkind“ John neben seinem Beruf als Robbenjäger der Bursche des Gouverneurs ist. Und ganz nebenbei auch der Geliebte von Pay Edels Schwester Petrine Anna, genannt Trine. Genau wie heute gab es seinerzeit schon Untergangspropheten von der Sorte eines Pedder Reymers, der, weilte er heute noch unter uns, sicherlich erstaunt wäre, dass die Welt sich immer noch dreht. Ganz wichtig: Der Barbier und Alchimist Bard Frederichs fungierte sicherlich in Personalunion als Bader und Barbier, der sich ebenfalls als „Kusenklempner“ bewährte und wohl auch den Versuch unternahm, Gold aus Dünensand zu extrahieren. Es spricht für die Halunder, dass sie sich der zahmen Möwe Graumariechen annahmen, die sie zärtlich „Ole Rappsnut“ nannten. Die Liste wäre unvollständig, wenn der Klerus in Gestalt des Kirchherrn Neocurrus von St. Nikolai keine Erwähnung fände. Ob die Heilige Ursula mit ihren elftausend Jungfrauen überhaupt existiert hat, steht in den Sternen. Es gibt aber ein Gemälde von ihr, auf welchem sie milde auf die Gläubigen herabschaut. Dies war lediglich ein kurzer Einblick in die „Personalakte“. Der geneigte Leser möge sich bei der Lektüre zwecks besseren Verständnisses der Vorkommnisse eingehender mit ihr befassen. Mal so unter uns: Mancher Insulaner, der auf ersten Blick ganz harmlos wirkt, hat eindeutig Dreck am Stecken. Der aufmerksame Leser findet das bei der Lektüre schnell heraus.

Und so geht die Moritat weiter

Wir begleiten Pay Edel und John Kapitel für Kapitel weiter auf ihrer
Suche nach dem Mörder oder den Mördern des holländischen Kapitäns Hans Andahlsen. Bis zum Showdown zieht sich die Geschichte noch eine Weile hin. Beide müssen noch eine Strecke eines nicht ungefährlichen Weges zurücklegen. Allgegenwärtig sind Rasmus und Klabautermann, zwei von Seeleuten im höchsten Maße respektierte Meeresgeister, die, wie jeder von ihnen weiß, launisch und manchmal sogar bösartig sein können. Aber auch freundlich und verständnisvoll. Je nach Wetterlage. Wer Wind und Gezeiten erbarmungslos ausgeliefert ist, muss stets auf der Hut sein. Aber auch auf festem Boden lauert Unheil von Landsknechten, die nichts Gutes im Schilde führen, sowie anderen Spitzbuben und Räubern, die überall ihr Unwesen treiben. Und dies, obgleich Klaus Störtebeker, der Berühmteste der Zunft, bereits tot ist. Im Jahre des Heils 1401 verlor er seinen Kopf auf dem Hamburger Grasbrook, nachdem hanseatische Pfeffersäcke ihn und seine Likedeeler zur Strecke gebracht hatten.

Ende gut – alles gut?

Bevor das Verbrechen an Kapitän Andahlsen endgültig aufgeklärt ist, wartet die Nordsee, die Mordsee noch mit einer Reihe infernalischer Stürme und anderer Unbill auf. Doch die Mühen der beiden Spürnasen Pay Edel und John haben sich gelohnt. Die am Ende festgenommenen Missetäter werden in Ketten abgeführt. Die Moral von der Geschicht‘: Verbrechen lohnt sich nicht.

Und so widerfährt dem gemeuchelten Kapitän am Ende doch noch Gerechtigkeit. Er erhält unverzüglich ein christliches Begräbnis. Requiescat in pace. Friede seiner Asche. Aniken Frederichs, genannt „die reine Seide“, die ihr süßes Geheimnis so lange hütete, bekommt ihr Erbstück in Form des Hutes von Kapitän Hans Andahlsen. Er wird der ledigen Mutter mit den gar nicht freundlichen Worten überreicht: „Es gehört nun ihrem Bastard.“ Hatten aufgeweckte Leser in dem forschen Seemann nicht schon früh einen Schwerenöter vermutet?

Eine letzte drängende Frage: Was wurde aus unseren beiden Helden, die trotz aller Hindernisse den brisanten Fall um den holländischen Kapitän lösten? Das, liebe Leser, müssen Sie nun selbst herausfinden, indem Sie diesen tollen Wälzer bis zum Schluss konsumieren. Viel Spaß bei der Lektüre!

Epilog

Dieser Krimi gehört nicht in die Schublade der herkömmlichen „Whodunnits.“ Das trotz aller Dramatik mit einer gehörigen Portion Humor gewürzte Buch zeichnet sich vor allem durch einen heute nur noch selten zu findenden wohlklingenden sprachlichen Duktus aus. Besonders gelungen sind die Naturbeschreibungen. Eine Kostprobe: „Von Westen rollen die immergrünen Wogen gegen die Insel. Sie peitschen die Klippen und zermürben den Felsen, der ihnen alljährlich seinen Tribut zollt. Ein Stück bricht ab und stürzt in die Flut. Dort vollendet die mahlende See ihr Werk.“

Des Weiteren verhelfen die zahlreichen eleganten Grafiken und Sinnsprüche, die jedes Kapitel einleiten, zu einem besseren Verständnis dieses sehr komplexen Werkes. Die meisten der Verse sind in friesischer Sprache verfasst. Keine Angst – die hochdeutsche Übersetzung steht gleich darunter. Die Rezensentin hat bei der Lektüre versucht, die Texte im Original zu verstehen, bevor sie in vielen Fällen auf die Übersetzung zurückgreifen musste. Dies war eine Hommage an ihre geliebte friesische Großmutter Dede Wolff, die sich mit ihren Geschwistern stets in ihrem heimatlichen Idiom unterhielt.

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Das Helgoland, der Höllensturz

Reimer Boy Eilers: Das Helgoland, der Höllensturz oder Wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet, obwohl die Dreizehenmöwen hier mit Rosinen gegessen werden, Kulturmaschinen Verlag, 2019

Was uns hätte blühen können

Zur historischen Dystopie „Wenn der Führer wüsste…“ von Heiger Ostertag – Mal angenommen, Hitler hätte den Krieg gewonnen und wir lebten jetzt unter der Regierung seines Enkels Adolf II., der mit vierzig Jahren nach dem Tod seines Vaters Adolf Wolf die Herrschaft übernommen hätte. Den Leuten hat man die Legende erzählt, alle Juden hätten in Madagaskar ihren eigenen Staat bekommen. Die Denkmäler stehen noch, die nationalsozialistischen Werte auch – doch es beginnt zu rumoren. Nächstes Jahr wird eine Revolution angezettelt werden, in deren Folge die Regierung gestürzt werden soll. Finden Sie das schräg? Ist es auch. Aber so gut gemacht, dass es einem bei der Lektüre des Romans kalt den Rücken runterläuft. Nach dem viel beachteten Buch „Die Welle“ von Morton Rhue, das sich mit der Frage befasst, wie so ein Regime wie Hitlers möglich werden konnte, befasst sich „Wenn der Führer wüsste…“ mit einer Möglichkeit von Realität unter einer nationalsozialistischen Herrschaft und dem Aufbegehren der unterdrückten Bevölkerung.

Studentenrevolte unter Adolf II.

Der Studentenführer Rudolf von Bracken und seine Clique sind die Hauptfiguren der Geschichte. Groß geworden mit den nationalsozialistischen Rassegesetzen, sind für ihn die polnischen und russischen Raumpflegerinnen „rassisch minderwertige Arbeitsweiber, die man zumeist nicht wahrnahm oder schlicht übersah“ (S. 15). Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der solche Lebenswirklichkeiten der Romanfiguren erwähnt werden, offenbart die Grausamkeit dieses „Wertesystems“. In Rudolfs Realität sind er und seine Freunde die künftige Reichselite, und das – nach jahrzehntelanger Einprägung dieses Denkens – mit größter Selbstverständlichkeit. Doch während diese künftige Elite zur „neudeutschen Welle“ schwooft, braut sich unter den Studenten ein Aufruhr zusammen. Die strikte Trennung zwischen den unterschiedlichen „Rassen“ weicht auf, die Studenten sind die alten Zöpfe leid, sie wollen sich nicht mehr gängeln lassen. In dieser Aufbruchstimmung kommen Zweifel auf, was das Schicksal der Juden zuzeiten des Zweiten Weltkriegs angeht. Gerüchte kursieren, dass es geheime Akten gäbe. Rudolf und seine Freunde geraten in diese Umbruchzeit und wollen aufklären, was von der Kriegsgeneration der Nazis vertuscht wurde. Wird es ihnen gelingen und wird sich Regierung samt Wertesystem wandeln?

Gar nicht so abwegig …

Heiger Ostertags Roman überzeugt vor allem, weil die Story nicht weit hergeholt erscheint. Hinzu kommen viele kleine sarkastische Einsprengsel vor allem bei den Namen („Hagens Speer“ heißt eine Musikgruppe) oder Bezeichnungen wie „Handfon“ statt Handy. Wen Timur Vermes‘ „Er ist wieder da“ begeistert hat, wird auch an diesem Buch seine Freude und seinen Grusel haben.

Im Anhang erläutert der Autor und Historiker in einer „Historisch-kritischen Nachbetrachtung“ die Hintergründe und Inspirationsquellen, aber auch die Quellen für die eingebauten Fakten der Geschichte. Hier wird deutlich, wie nah an tatsächlichen Begebenheiten oder auch nationalsozialistischen Visionen die Geschichte entwickelt wurde. Das macht den Roman noch beklemmender und zeigt, was uns hätte blühen können, wenn der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen wäre.

Dr. Heiger Ostertag (M.A.) gehörte der Luftwaffe an, in der er u. a. eine fliegerische Ausbildung absolvierte. In Freiburg studierte Ostertag Geschichte, Germanistik sowie Nordgermanische Philologie und promovierte mit einem historisch-germanistischen Thema zum Kaiserreich. Seit den 90er Jahren ist Heiger Ostertag als Autor und Historiker in Forschung, Bildung und Lehre sowie als Lektor im Verlagswesen tätig. Die Fachliteratur erschien bei Ullstein, Herder, Rombach und Mittler. Das belletristische Werk wird beim Südwestbuch-Verlag, Gmeiner und im Theiss Verlag/WBV verlegt. Auf der Basis exakter Recherchen und psychologischer Personenprofile entstanden in den 30 Jahren seines Schreibens kontextsituierte Geschichten und zahlreiche Romane von großer Dichte und Spannung.  Unter Pseudonym sind vom Autor weitere brisante Politthriller erschienen. Einige Romane wurden zudem als Hörbuch vertont. Aktuell arbeitet der Schriftsteller am Abschlussband seiner Junker-von-Schack Reihe mit dem Arbeitstitel „Von Austerlitz nach Waterloo“.

Website des Autors: http://www.heigerostertag.de/

Heiger Ostertag: Wenn der Führer wüsste…, Südwestbuch Verlag/SWB Media Entertainment, Calw 2021

Herz schlägt Krieg: Eine Familiengeschichte aus erster Hand

Hilde Niggetiet Foto: privat

Im ersten Teil seiner zweibändigen Familiensaga führt Jörg Krämer seine Leser in die Welt des Bergbaus im Ruhrgebiet im Jahr 1865. Der Bergmann Johannes Biel und seine Frau Wilhelmine leben in sehr einfachen Verhältnissen und mit harter Arbeit. Acht Kinder ziehen sie liebevoll groß und freuen sich an den kleinen Dingen.

Jörg Krämer erzählt die Geschichte handlungsorientiert und direkt, man ist sofort in das Geschehen eingebunden. Faszinierend ist der Einblick in eine untergegangene Welt ohne Handy, Fernsehen und Multimedia, dafür mit Arbeit bis über die eigenen körperlichen und seelischen Grenzen hinweg. Da sitzt die Frau zu Hause und bangt, weil der Bergmann nicht zur gewohnten Zeit erscheint. Heute würde man eben anrufen. Kinder werden nicht zur Schule gefahren, sondern müssen weite Wege zu Fuß zurücklegen. Jüngere Geschwister tragen die Kleidung der älteren auf.

Foto: Pavlofox/Pixabay

Die Geschichte spielt in der Zeitspanne von 1865 bis 2001, auf knapp über 600 Buchseiten in zwei Bänden („Im Schatten von Schlägel und Eisen“ und „Herz schlägt Krieg“, beide im net-Verlag erschienen). Sie konzentriert sich in der Erzählweise vor allem auf den chronologischen Ablauf und die Personen. Bedingt durch die große Familie kommen viele verschiedene Personen vor, was teilweise etwas verwirrend ist. Im zweiten Teil ist am Ende ein Personenverzeichnis eingefügt, das einige Orientierung bietet.

Eigenhändige Aufzeichnungen der Großmutter

Hat Jörg Krämer den ersten Teil in Autorenperspektive als Roman geschrieben, so tritt der Autor im zweiten Teil ganz hinter der Erzählstimme Hilde Niggetiets – seiner Großmutter – zurück. Die Erzählung wechselt in die Ich-Perspektive und einen Tagebuchstil. Das bringt einige Sprünge im Erzählfluss mit sich, die nicht literarisch bearbeitet wurden; womöglich, um den authentischen Bericht der Protagonistin nicht zu verfälschen. Nun hat es durchaus etwas für sich, einen Menschen des Jahrgangs 1910 in seiner eigenen Sprache erzählen zu lassen. Die Ich-Form berührt direkt, vor allem in den schweren Phasen der Armut und des Krieges, und die aus anderen Zeitzeugenberichten bekannten Motive wie Kinderlandverschickung und Hamstertouren werden durch die eigenen Erlebnisse sehr lebendig. Durch Hilde Niggetiets eher sachlich-zurückhaltenden Stil sind einige Szenen besonders verstärkt, wenn sie beispielsweise berichtet, wie ihrer Tochter Edith nach der Zangengeburt des ersten Kindes die Beine zusammengebunden wurden, damit die Nähte nicht rissen.

Mit Blick auf das Positive
Foto: Congerdesign/Pixabay

Berührend ist auch, wie die Erzählerin sich bemüht, möglichst viel Positives zu berichten. Immer wieder kommentiert sie ihre Ausführungen selbst in dem Sinne, dass sie dem Schweren nicht zu viel Raum geben möchte. Eine Haltung, die mich an meine Großeltern (Jahrgang 1920) erinnert. Und wie konnte diese Generation auch anders überleben als durch Verdrängung? Meine Großmutter sagte in schweren Zeiten immer, man solle sich nur Schönes ansehen. Und so ist auch in der Familie des Autors Jörg Krämer der Blick eher auf das Schöne als auf das Schlimme gerichtet, und das bei Schicksalsschlägen, die mir beim Lesen manchmal den Atem verschlagen haben. Irgendwie muss es weitergehen, so ist das Motto, und es geht auch weiter, irgendwie. Männer schuften in der Zeche und leisten sich vielleicht ein bescheidenes Hobby wie die Taubenzucht, Frauen schuften zu Hause, zu Anfang von Krämers Geschichte ohne Waschmaschine und mit Wasser auf dem Kohleherd. In jeder freien Minuten scheinen die Frauen der Familie feinste Handarbeiten herzustellen, denn Schönheit war ihnen durchaus wichtig, und da sie nichts kaufen konnten, stickten, häkelten, nähten und strickten sie eben alles selbst und freuten sich daran. Der Einblick in diese Welt, auch in die Fertigkeiten der Menschen, in das Bemühen um Frieden und liebevolles Miteinander, ist sehr anrührend. Manches Wort, wie z. B. „Gabelarbeit“ (eine Häkeltechnik), musste ich nachschlagen. Nicht nur eine untergegangene Welt, auch untergegangene Worte finden sich in Jörg Krämers Familiensaga.

Gleichwohl birgt die tagebuchartige Erzählweise die Gefahr, dass man als Leser mit einigen Sprüngen zwischen Personen nicht mehr nachkommt. Auch wenn es noch schwieriger gewesen wäre, als es vermutlich ohnehin schon war, so einen langen Zeitraum in zwei Büchern unterzubringen, habe ich teilweise im ersten Teil ein Verweilen bei einzelnen Personen vermisst. Im zweiten Teil wäre es vielleicht einen Versuch wert gewesen, behutsam in den Tagebuchstil einzugreifen und ihn mit romanhaften Verbindungen zu ergänzen; allerdings ist es verständlich, wenn der Autor dies aus Gründen der Authentizität unterlassen hat.

Spannung aus vergangenen Zeiten
Foto: Uki_71/Pixabay

Wie auch immer: Eine spannend erzählte Geschichte ist es allemal, man wird als Leser etwas daraus mitnehmen, sei es die eine oder andere Information, wie man „damals“ und speziell in der Bergbau-Welt – die es wohl bald gar nicht mehr geben wird – gelebt hat; sei es ein Einblick in das Seelenleben einer Generation, die sich mit existenziellen Fragen tagtäglich buchstäblich abarbeiten musste und das Wohl der Familie über alles stellte, was mir beim Betrachten unserer heutigen Gesellschaft durchaus den einen oder anderen Denkimpuls gibt. Jörg Krämer hat ein Zeitzeugendokument geschaffen und dabei seiner Großmutter eine Stimme verliehen. Sie beschreibt an einer Stelle, dass es ihm als Oberschüler an Ehrgeiz gemangelt hätte (S. 239, „Herz schlägt Krieg“). Das muss sich später allerdings gründlich geändert haben, denn ohne Ehrgeiz ist so eine Recherche und Romanarbeit kaum zu bewerkstelligen.

 

Über den Autor:
Jörg Krämer Foto: privat

Jörg Krämer, Autor und Taekwondoin, wurde 1966 in Witten geboren, wo er gemeinsam mit seiner Familie lebt. Die Liebe zum Schreiben entdeckte er durch seinen Hund Odin, über dessen Rasse Germanischer Bärenhund er bereits ein Buch schrieb. Oft spielt in seinen Geschichten ein Germanischer Bärenhund mit.

Jörg Krämers Seite in unserem Online-Magazin

 

Die Familiensaga entstand in der Zeit von 2013 bis 2017 und basiert auf handschriftlichen Aufzeichnungen der Hauptfigur Hilde Niggetiet sowie deren Aufnahmen auf Kassette. Dabei war es Jörg Krämer wichtig, den authentischen Originaltext für die Nachwelt zu erhalten.

 

„Germanischer Bärenhund“ –  Porträt einer außergewöhnlichen Hunderasse

Als Hof-, Hirten- und Jagdhunde setzten die Germanen robuste, ausdauernde und wachsame Hunde, sogenannte Germanische Bärenhunde, ein. Diese mussten in einer harten, lebensfeindlichen Umwelt überleben und ihre Sippe verteidigen.

Im Laufe der Zeit verlor sich die Spur dieser Hunde. In den 1980er Jahren entwickelten sich aus einem Fehlwurf zwischen Bernhardiner und weißem Hirtenhund Welpen, die dem alten Germanischen Bärenhund nahekamen. 1994 wurde der moderne Germanische Bärenhund schließlich vom Deutschen Rassehunde Club anerkannt. Jörg Krämer schildert die Geschichte der Geburt dieser Hunderasse, illustriert die historischen Details mit kleinen Geschichten und Anekdoten sowie Bildern und gibt Ratschläge zu Haltung und Erziehung der kinderlieben, gutmütigen, charakterfesten Vierbeiner, die sich gut als Familienhund eignen.

Passt der Germanische Bärenhund in die Familie?

Ob die positiven Charaktereigenschaften voll zur Entfaltung kommen, hängt jedoch entscheidend von der richtigen und artgerechten Haltung ab. So ist das Buch eine wertvolle Informationsquelle, damit die Liebhaber dieser Rasse vor der Anschaffung eines solchen Hundes hinreichend überprüfen können, ob sie dem Tier und seinen Ansprüchen überhaupt gerecht werden können. Rüden können immerhin ein Gewicht bis 85 kg und eine Widerristhöhe von 85 cm erreichen, Hündinnen bis zu 70 kg bei einer Höhe bis zu 80 cm. Im Schnitt erreichen die Tiere ein Alter von zehn bis zwölf Jahren. Neben den häuslichen Gegebenheiten geht der Autor umfassend auf verschiedene Themen ein, wie z.B. die wichtigsten Grundregeln zur Ernährung und Gesundheit, empfohlene Impfungen und Wurmkuren, die kleine Hausapotheke, die Eingewöhnung und Erziehung des Welpen, Steuer und Versicherungen, was es vor dem Kauf eines Bärenhundes alles zu beachten gibt und wie man den passenden Züchter finden kann. Ein Erfahrungsbericht zum Leben mit dem Germanischen Bärenhund, Begegnungen mit Artgenossen auf Spaziergängen, mit dem Hund auf Reisen und schließlich die Begleitung des treuen Weggefährten auf seinem letzten Weg, runden das Buch ab und geben ihm eine sehr persönliche Note. Die Tipps sind alltagstauglich und auch mögliche Probleme, die sich ergeben können, werden angesprochen. Der Text ist sehr gut geschrieben und die informativen Bilder sind sehr ansprechend. Für diejenigen, die ernsthaft mit dem Gedanken spielen sich einen Germanischen Bärenhund anzuschaffen, ist das Buch ein nützliche Entscheidungshilfe vor dem Kauf. Wer sich bereits für einen Bärenhund entschieden hat, findet hier wertvolle Informationen und Tipps zum Leben mit dem sanften Riesen.

Jörg Krämer: Germanischer Bärenhund
Herausgeber: ‎ novum pro
Taschenbuch: ‎ 124 Seiten
ISBN-10: ‎ 3990266969
ISBN-13: ‎ 978-3990266960
Abmessungen: ‎ 13.49 x 0.76 x 21.49 cm
Preis: 17, 40 Euro

 

 

Website des Autors: https://www.ruhrpottstory.com/

Kuba – Ein Reiseführer auf den Spuren Ernest Hemingways

Mutti mit Cohiba

„Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ von Wolf Cropp liest sich wie ein Vademecum durch die wechselvolle Geschichte der karibischen Zuckerinsel, angereichert mit akribisch recherchierten Episoden aus der Vita des amerikanischen Schriftstellers Ernest Hemingway. Hier ist dem Autor der perfekte Spagat zwischen Reiseführer und Biografie gelungen.

 

Cropp beginnt seine weit ausgreifende Geschichte in den Keys, dem äußersten Zipfel der Vereinigten Staaten. Zunächst in Key West gestrandet, wie er im Eingangskapitel schreibt, schaut er, ein Lager aus der Flasche trinkend, auf den Golf von Mexiko und die mit vielen kleinen Eilanden gesprenkelte Straße von Florida. Hier ließ sich Hemingway auf Empfehlung seines Schriftsteller-Freundes John Dos Passos 1928 nieder. Das Ambiente seines aus Muschelkalk im amerikanischen Kolonialstil erbauten Wohnhauses – heute Museum – hat ihn offenbar zu Höchstleistungen inspiriert. Denn hier schrieb er „Wem die Stunde schlägt“ und „Die grünen Hügel von Afrika“, die weltweit zu seinen berühmtesten Werken wurden. Zudem frönte er in Key West der Hochseefischerei, seinem liebsten Hobby neben der Jagd. Aus Gesprächen, die Cropp mit Aficionados Hemingways vor Ort führte, ist unschwer zu entnehmen, dass er nicht zu „Papas“ Bewunderern zählt. Seine Sprache sei primitiv, die Plots nicht selten langweilig, findet Cropp. Eine Einschätzung, die die Rezensentin seines Buches über Kuba und Hemingway weitgehend teilt. Hemingways ausschweifendes Leben – man denke nur an seine zahllosen Liebschaften – war hingegen hoch interessant und füllte jahrelang die Seiten einschlägiger Publikationen.

An der Fassade Camilo Cienfuegos

Endlich landet Cropp auf Kuba. Er führt den Leser durch das laute quirlige Havanna, dessen bröckelnde Fassaden entfernt an die einstige Pracht der reichsten spanischen Kolonie erinnern. Das Straßenbild wird auch heute noch von den bonbonfarbenen amerikanischen Straßenkreuzern dominiert, die die Oberschicht des korrupten Bastista-Regimes zurückließ, bevor Fidel Castro mit seinen Genossen als „El Máximo Lider“ das Ruder übernahm. Von der anfänglichen Euphorie ist nichts geblieben. Mangelwirtschaft, wohin man schaut, leere Regale in den Läden. Und – Ironie der Geschichte – selbst der Zucker wird der Bevölkerung der Zuckerinsel in fast homöopathischen Dosen zugeteilt. Umso erstaunlicher berührt die Fröhlichkeit der Kubaner, deren Leidensfähigkeit unendlich zu sein scheint.

Die tropische Pracht Kubas fasziniert

Während seiner Erkundungstour kreuz und quer über die Insel gerät der Autor in manche prekäre Lage. Während eine „patrulla de policiá“ Cropps Papiere peinlich genau in Augenschein nimmt, versuchen ein paar Insulaner – allesamt arme Teufel – ihn mit einer angeblichen Hilfeleistung beim Reifenwechsel am gemieteten Renault über den Tisch zu ziehen. 500 US-Dollar her oder… Da kann der Autor nur das Hasenpanier ergreifen und weiterfahren in Richtung Santa Clara, dem Wallfahrtsort der Verehrer des Helden aller Linken dieser Welt, Che Guevara, dem man in diesem armseligen Ort ein monumentales Denkmal errichtet hat. Obwohl an den Händen dieses Revoluzzers – seines Zeichens Humanmediziner – das Blut vieler unschuldiger Menschen klebt, wird er auch fünfzig Jahre nach seinem gewaltsamen Tod verehrt wie ein Heiliger. Das Che gewidmete Lied „Hasta siempre comandante“ – auf immer um ewig, Kommandant – hat sich zu einer Art Nationalhymne entwickelt. Der Geist Guevaras lebt weiter auf der Insel und manifestiert sich in diesem Diktum: “Man trägt die Revolution nicht auf den Lippen, um von ihr zu reden, sondern im Herzen, um mit ihr zu sterben.“ Doch die meisten Kubaner haben die Nase gestrichen voll von derart inhaltlosen Parolen und Castros ständig wiederholtem Aufruf: „Revolución o muerte.“ Die Menschen wollen nicht für eine Ideologie sterben, sondern ein besseres Leben in einem Land, das die Natur so reich beschenkt hat. Liebevoll beschreibt Cropp die tropische Pracht Kubas in all ihren Facetten und dokumentiert in jeder Zeile, wie eingehend er sich mit der Fauna und Flora der Insel beschäftigt hat.

Über Santa Ifigenia geht es heute zum berüchtigten Guantánamo, einem trostlosen Ort mit real existierenden sozialistischen Plattenbauten. „1903 besetzte die amerikanische Marine die südöstlich gelegene Bucht, seitdem gibt es Streit,“ resümiert Cropp lakonisch. Wohin der letztlich führte, wissen wir aus Beschreibungen von Folterungen in diesem von den Amerikanern betriebenen Straflager, das trotz aller Beteuerungen bis heute nicht aufgelöst ist und nur noch alte und kranke Insassen beherbergt. Verlassen wir dieses Schandmal fehlgeleiteter Politik und wenden uns der fast unberührten Natur zu, die der Autor nach seiner Exkursion in die Niederungen menschlicher Unbelehrbarkeit aufsucht. Seine Naturbetrachtungen gehören zum Lesenswertesten des Buches. Wer hatte je zuvor von dem Monte-Iberia-Fröschchen gehört, das mit seiner Größe von 10 Millimetern auf einer Fingerkuppe Platz hat? Ob Riesenspitzmaus oder seltene Vogelarten wie der Zuzun, ein kolibriartiges Vögelchen, das gerade einmal 1,8 Gramm auf die Waage bringt, Cropp hat diese kleinen Wunder der Wildnis im Visier und lässt uns an seiner Begeisterung teilhaben. Während seiner Wanderung unter 40 Meter hohen Königspalmen, Drachen- und Trompetenbäumen droht ihm keine Gefahr. Denn Giftschlangen und Vogelspinnen sind auf Kuba unbekannt.

Auf zur Schweinebucht! Wer denkt da nicht an die gescheiterte Invasion der Amerikaner im Jahre 1962. Ein Desaster für den seinerzeit amtierenden Präsidenten John F. Kennedy. Diese Episode darf in keinem Buch über Kuba fehlen. Cropp hakt sie kurz ab und begibt sich geradeswegs ans Wasser. Denn an diesem Tag ist eine Tauch- und Beobachtungstour angesagt, die zur Laguna de las Salinas führt. Hier gilt es an Deck eines Bootes Delfine und Haie zu beobachten. Die kabbelige See tut diesem Vergnügen keinen Abbruch.

Unter Krokodilen auf Sumpfsafari

Eine Sumpfsafari in einem unwegsamen Gelände, in dem sich Krokodile von stattlicher Größe tummeln, ist ein Erlebnis besonderer Art. Hier ist äußerste Vorsicht geboten, denn die Echsen sind erstaunlich gewandt und schnell. Der Legende nach haben die Taino, Kubas Ureinwohner, in den Sümpfen ihr Gold vergraben, um es vor den gierigen Konquistadoren in Sicherheit zu bringen. Ob der sagenhafte Schatz immer noch tief im Schilf unter den langen Wurzeln ewig blühender Seerosen schlummert? Die Begegnung mit den „Kroks“ verläuft ohne Zwischenfall. Und so verabschiedet sich dieser ereignisreiche Tag „mit einem grandiosen Sonnenuntergang. bei dem der Feuerball wie eine flammende Orange im Röhricht versinkt, Wasser und Himmel in mystisches Lila taucht.“ Poetischer kann man „eines langen Tages Reise in die Nacht“ nicht beschreiben.

Hemingways Wohnzimmer in Finca

Obwohl der Autor bekanntermaßen kein Fan Hemingways ist, kommt er am Ende seines Kuba-Aufenthaltes wiederum an Papa nicht vorbei. Die aufregende Fangfahrt im blauen Strom erinnert an das Opus Magnum Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ und trägt demgemäß folgendes Zitat des Schriftstellers im Titel: „Der letzte Ort der Freiheit, den es gibt, ist das Meer.“ Cropp als ein mit den Wassern aller Meere gewaschener Fahrensmann ist kein ambitionierter Fischer, aber kann der Versuchung nicht widerstehen, auch einmal einen großen Fisch zu fangen. Bald hat er einen kapitalen Thunfisch am Haken. Nach einem langen Kampf mit diesem Meeresbewohner ist er fix und fertig und fragt sich nach dem Sinn der Übung. Was hat der Fisch ihm getan? Hat er nicht Besseres verdient als den Tod?

Versunken in voluminösen Kunststoffledersitzen eines Cadillac

Szenenwechsel. Dort, wo das Abenteuer Kuba begann, findet es auch sein Ende – in Havanna. „Gerade versinke ich in den voluminösen Kunststoffledersitzen eines Cadillac mit steilen Heckflossen. Eingequetscht zwischen einer Hausfrau mit vollen Tüten und einem Liebespaar. Der Dinosaurier ist mindestens 70 Jahre alt und nennt sich Taxi Particular.“ Wer schon einmal auf Kuba mit einem solchen Ungetüm auf den engen Straßen unterwegs war, weiß, wovon der Autor spricht. Das ist Lokalkolorit pur! Noch ein paar Tage auf der Insel und Cropp muss die Heimreise antreten. Ein Abschied, der wehmütig stimmt. Salud y adiós.

Mit „Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ hat Wolf Cropp wieder ein exzellent geschriebenes Buch vorgelegt, das jedem empfohlen wird, der Kuba besuchen oder aus der Ferne kennenlernen möchte. Bemerkenswert sind nicht nur die Beschreibungen von Land, Leuten und der einzigartigen Natur der Karibikinsel, sondern auch die geschichtlichen und ethnischen Bezüge, die ein paradiesisches Fleckchen Erde prägen, auf das vor nunmehr über fünfhundert Jahren ein Europäer zum ersten Mal seinen Fuß setzte. Mit den bekannten Folgen.

„Kuba, Hemingway, eine Cohiba + ich“ von Wolf Cropp, erschienen im Verlag Expeditionen, 304 Seiten, ISBN 978-3-947911-55-4, kostet 22 Euro

Fotos dieses Beitrags: Wolf-Ulrich Cropp

Die Schiffbrüchigen von Tumbatu, ein Langgedicht

Das Buch von Reimer Boy Eilers: eigenwillig, ungewöhnlich, auf jeden Fall interessant. Ausgerechnet im Ramadan segelt der Held von Sansibars Nordwestküste aus zur sechs Kilometer vorgelagerten Insel Tumbatu. Tumbatu ist ein von Saumriffen umgebenes Eiland, verwunschen, dünn besiedelt, geheimnisvoll. Kein Wunder, dass dort, Erzählungen nach, irgendwo am Ufer ein heiliger Baum wachsen soll, vor dem einst eine Dhau, beladen mit Sklaven, wahrscheinlich aus dem Kongo, havarierte. Die Überfahrt mit einer einheimischen Crew und einem mysteriösen Geistheiler an Bord, ist zwar nur von kurzer Dauer, dennoch strapaziös. Der Held, ein weißer Tourist, leidet an diesem mörderisch heißen Tag an Wahnvorstellungen infolge quälenden Durstes. Wie Trugbilder erscheinen ihm Szenen von Sklaven, die auf eine Dhau gepfercht, eigentlich auf dem größten Sklavenmarkt Afrikas verkauft werden sollen. Das Riff macht sie zu Schiffbrüchigen, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Der Sklavenmarkt befindet sich auf Sansibar. Dort regiert der Sultan von Oman und Sansibar, ein unermesslich reicher Araber, der durch Sklaven, Sklavenhandel und Gewürznelken seinen Reichtum erwarb. Lieferant der Menschenfracht ist Tippu Tip, ein mächtiger Sklaven- und Elfenbeinhändler. Selbst mit dunkler Hautfarbe geboren, signalisiert er Vertrauen unter den Einheimischen Zentralafrikas. Lächelnd wickelt er seine Mitmenschen ein. Tritt der wahre, der grausame Händler hinter seiner Maske hervor, ist es zu spät. Er lässt Menschen aus dem Kongo jagen, treibt sie an die Küste, wo sie auf Schiffe verfrachtet, über den Sansibar-Kanal nach Stone Town auf den Sklavenmarkt geschleppt und verkauft werden. Sklavenschiffe kreuzten in jener Zeit überall auf den Weltmeeren. Geortet wurden sie an ihren Gestanksfahnen, die sie meilenweit hinter sich herzogen. Was es nun mit der Sklaven-Dhau, die da am Riff vor Tumbatu, in der Nähe des heiligen Baums zerschellte, auf sich hat, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Der Autor führt uns auf eindringliche Weise die Schrecken der Sklaverei vor Augen. Nicht in Form aufrüttelnder Prosa, nein, mit einem epischen Gedicht, durch das man sich von wachsender Neugierde und Anteilnahme getrieben, durcharbeitet.

Reimer Boy Eilers: Die Schiffbrüchigen von Tumbatu, Kulturmaschinen Verlag 2020

Odyssee in Südostasien. Wolf-Ulrich Cropp auf Spurensuche

Buchcover (Ausschnitt)

Was tun in dieser bleiernen Zeit? Theater- und Restaurantbesuche nur mit Impfzertifikat oder einem 48-Stunden-Test dürfte in der Tat nicht nach jedermanns Gusto sein. Auch das Reisen in ferne Kontinente ist mit allerlei Unbill verbunden. Wer sitzt schon gern maskiert zehn oder mehr Stunden in einem Flieger, ehe er sein Ziel erreicht. Ehe ich mich ständig diesem Stress unterziehe, greife ich lieber zu einem spannenden Buch, gebe mich dem Zauber exotischer Destinationen hin und lasse mich in unbekannte Regionen entführen. Heute ist „Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp angesagt. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und tauche in die geheimnisvolle Welt Südostasiens ein.

Die Odyssee durch das Goldene Dreieck war nicht geplant. Nach einem längeren Aufenthalt in Afghanistan will der bekannte Autor, Journalist und Weltreisende Wolf-Ulrich Cropp eigentlich nur eine Auszeit in Thailand nehmen. Eine Art Ferien vom Ich. Ausspannen, schwimmen, lesen und die Gegend erkunden. Doch es kommt anders, als die besorgten Eltern eines alten Schulfreundes ihn bitten, nach ihrem Sohn Klaus zu fahnden, der – vom Pfad der Tugend abgekommen – vor Jahren in den Weiten Südostasiens spurlos verschwand.

Spinnbeinige Mangroven und bizarre Kalkfelsen

Wir begleiten den Erzähler auf seiner abenteuerlichen Spurensuche, die in einem thailändischen Dorf hoch über der Andaman-See beginnt. Begeistert zelebriert Cropp die fast überirdische Schönheit der Landschaft: „Zwischen spinnbeinigen Mangroven und bizarren Kalkfelsen, in luftiger Höhe über der See“ hat er das Gefühl, mitten im Ozean zu liegen. Doch dieses wunderschöne Land hat viele Schattenseiten, die der Autor dem Leser nicht vorenthält. Beschreibungen grandioser Panoramen in diesem satt grünen tropischen Paradies wechseln ab mit grausamen Szenen, die sich in den Niederungen der Megacity Bangkok abspielen. Das Kapitel über einen Besuch im berühmt-berüchtigten Bang Kwang Gefängnis – von Zynikern Hotel Hilton Bangkok genannt – geht an die Nieren. Hier sitzen zahlreiche wegen Drogendelikten zu lebenslanger Haft verurteilte Europäer ein, die unter unmenschlichen Bedingungen in Chaos und unbeschreiblichem Dreck dahinvegetieren. Mit Erleichterung stellt Cropp fest, dass Freund Klaus nicht unter den Insassen weilt.

Das buddhistische Kloster Tham Krabok der suchtheilenden Mönche in Thailand

Die Suche geht weiter und entführt den Leser im Laufe der Handlung in die tropische Welt Thailands und Myanmars (früher Burma), in die Tiefen des Regenwaldes und zu den Highlights buddhistischer Baukunst. Der Autor genießt seinen Aufenthalt in vollen Zügen. Er lässt den Leser teilhaben an seiner Begeisterung für atemberaubende Landschaften und berichtet gleichzeitig über Begegnungen mit Einheimischen, die seinen Weg kreuzen. Doch im Garten Eden lauert auch die Schlange. Cropp thematisiert akribisch die dunkle Seite Thailands, wo Drogenbarone das Sagen haben und nur die Prostitution junger Frauen den Familien das Überleben ermöglicht. Das Kontrastprogramm zu diesem Elend findet im berühmten Fünf-Sterne-Luxustempel „Mandarin Oriental“ Bangkok statt, wo der Autor beim Verzehr sündhaft teurer Langustenschwänze einen ortskundigen Geschäftsmann trifft. Dieser gewährt ihm einen Einblick in Thailands Drogenwelt. Mohnanbau, Heroinlabore, Drogenschmuggel, erklärt der, waren gestern. Seitdem Afghanistan als Hauptlieferant für Heroin die Szene beherrscht, haben die Bosse im Urwald Giftküchen installiert, die in zunehmendem Maße Amphetamine produzieren. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Ob Freund Klaus hier zu finden ist?

Wo ist Klaus?

Heute wenden wir uns der legendären „Brücke am Kwai“ zu. Die älteren Leser werden sich noch an den grandiosen von David Lean in Thailand gedrehten Film mit Alec Guinness in der Hauptrolle erinnern. Guinness spielt darin einen britischen Offizier, der mit seinen Kameraden während des Pazifikkrieges in die Fänge der Japaner gerät und gezwungen wird, eine Eisenbahnbrücke über den Fluss Kwai in Indochina zu bauen. Unvergesslich die Szene, in der die Gefangenen auf ihrem beschwerlichen Weg durch den Dschungel trotzig jene zündende Melodie pfeifen, die sich in den Endfünfzigern monatelang als Nummer eins in den internationalen Charts hielt. Das spannende Kapitel über den Bau, die Zerstörung und schließlich die Rekonstruktion der Brücke ist so anschaulich beschrieben, dass der Leser sich mitten im Geschehen wähnt.

Karenfrau in Nord-Myanmar: Wer schön sein Awill, muss leiden

Bislang gibt es noch immer keine heiße Spur, die auf den Verbleib von Freund Klaus hinweist. Doch Cropp lässt sich nicht entmutigen, sondern forscht unverdrossen weiter. Er lädt zu einer Flussfahrt auf dem Mekong ein, begleitet uns durch den Dschungel und stellt uns jene „Giraffenfrauen“ vor, die mit ihren in Metallreifen gezwängten überlangen Hälsen das weibliche Schönheitsideal Myanmars verkörpern. Schließlich kommt es zu der Begegnung mit „einer Tigerfrau“ namens Sami. Die Titelgeberin des Buches gilt als die Attraktion des Zoos von Bangkok, wo sie sich, Kopf an Kopf mit einem prachtvollen Königstiger, von sensationsgierigen Besuchern ablichten lässt.

Der Autor und haarigste Mönch in seiner Klause des Klosters Tham Krabok

Selbst ein unermüdlicher Geist wie Wolf-Ulrich Cropp benötigt hin und wieder eine Ruhepause. „Im Kloster am Wege beim Mönch ich verweile. Oh, kurze Muße im Leben voll Eile.“ Feng Meng-hung, der Verfasser dieses kurzen Gedichts, war offenbar ein sehr weiser Mann. Ihm will es unser Autor gleichtun. Denn wo entspannt der Mensch sich besser als in der Ruhe und Abgeschiedenheit eines buddhistischen Klosters. In Tham Krabok bezieht der „Novize“ eine karge Zelle und muss sich einem Initiationsritual unterziehen, das es in sich hat. Dem aus zahlreichen Heilpflanzen zusammen gemixten „Cocktail“ – mehr Brechmittel als Getränk – werden tiefenreinigende Kräfte nachgesagt. Cropp trinkt ihn todesmutig und unterwirft sich für mehrere Wochen den strengen Klosterregeln. Chapeau. Geschadet hat ihm diese Erfahrung in kratziger Mönchskutte bei karger Kost offenbar nicht. Ganz im Gegenteil. Sein – Zitat – „tausend Meilen langer Weg zu sich selbst“ hat ihn für sein künftiges Leben gestählt.

Mit dieser Einsicht endet eine grandios erzählte Reportage kreuz und quer durch die magische Welt verklärender Narrative und brutaler Einsichten in menschliche Abgründe. Nur eine Frage bleibt offen. Der geneigte Leser möchte endlich erfahren, ob der Autor auf seiner langen Reise den verschollenen Freund wiedergefunden hat. Darüber aber hier kein Wort. Wer das wissen will, muss „Eine Tigerfrau“ von der ersten bis zur letzten Zeile selbst lesen. Es lohnt sich.

Epilog

Was in sämtlichen Büchern des „globetrottenden“ Autors Wolf-Ulrich Cropp fasziniert, ist seine Fabulierkunst, angereichert mit einem genialischen Wissen über diverse Kulturen, Land, Leute und deren Befindlichkeiten. Der Autor wirft stets einen unverstellten Blick auf alles Fremde. Er versucht sich in andere Sitten und Gebräuche hineinzu“leben“ ohne jemals zu bewerten oder gar zu verurteilen.

Eine große Hilfe für den Leser ist der mehrseitige Abriss über den Buddhismus (Seite 419 ff.). In knapper klarer Form weist Cropp den Leser in die Lehre des Siddharta Gautama ein, der uns besser unter dem Namen Buddha (der Erleuchtete) bekannt ist.

Last but not least: Die zahlreichen vom Autor selbst geschossenen Fotos tragen nicht nur zum Verständnis, sondern auch zum Charme dieses Buches bei.

Buchcover

„Eine Tigerfrau“ von Wolf-Ulrich Cropp, erschienen im Verlag Expeditionen, 415 Seiten, ISBN: 978-3-947911-39-4 Preis: Euro 14,90

Was Körper und Geist im Inneren verbindet

Mit dem gut 200 Seiten starken Gedichtband „Silberfäden“ legt Gino Leineweber in einer Gesamtausgabe seine beiden ersten Sammlungen vor. Der Verleger und Poet Simo Eric aus dem Verlag „Das Bosnische Wort“ würdigt den international vernetzten Lyriker und Verleger in seinem Vorwort.

Dessen Lyrik wechselt zwischen – philosophischen – Blicken auf das große Ganze und situativen Betrachtungen einzelner Themen, Erlebnisse und Empfindungen. Der Autor verhandelt ehrlich und unverstellt, ohne inhaltliche oder formelle Attitüden, in knapp formulierten, prägnanten und überwiegend kurzen Poemen den jeweiligen Gegenstand seines Gedichts. Dabei lässt er angenehmen, aber nicht zu großen Raum für die Interpretation. Er bezieht Position, ohne eine Lesart zu vorzugeben. Ernste Themen, auch bedrückende wie das Leid, das Menschen an anderen begehen, wechseln mit lakonisch-humorvollen Texten ab, wenn der Autor sich selbst, aber auch das vermeintlich typisch Männliche bzw. Weibliche aufs Korn nimmt.

Der Einblick in männliches Empfinden, humorvoll zuweilen, manchmal auch größte Pein durchlassend, ist faszinierend. Das Alter(n), die Rolle in Beziehungen und in der Welt geht in die Lyrik ein und trägt zwischen den Zeilen Ungesagtes weiter, das nach der Lektüre fortwirkt. Die poetische Auseinandersetzung mit weltlichen Dingen wie Besitz und Status bleibt so angenehm zurückhaltend und verknappt, dass das Nachdenken darüber und das Herstellen eines Bezugs zur eigenen Lebenssituation fast unbemerkt beginnen. Von der allumfassenden Perspektive zurück im Detail, zeigt Gino Leineweber auf, was wir alle in den Beziehungen zu unseren Familien und Partnern erleben und versäumen. Berührend spiegelt er u.a. Bande zwischen Vater und Sohn, das als selbstverständlich Hingenommene der elterlichen Zuwendung und Versorgung, die Angst, dass es zu spät sein könnte, etwas zu äußern. Auch Prägungen der Kindheit sind eindrucksvoll Thema:

Schulzeit

Fliehen lernen
Andere Welten
Endlich lesen

Dabei schreibt er mal mit lyrischem Ich, mal in der dritten Person, was eine distanzierte, originelle Perspektive ist. Dass der Lyriker hieraus jedoch kein Dogma macht, sondern offensichtlich für jedes Gedicht entscheidet, ob es ein lyrisches Ich – oder ein Du – bekommt oder nicht, zeigt die aufmerksame Komposition. Überhaupt lassen die Gedichte den Schluss zu, dass Gino Leineweber ein reflektierter und bewusst wahrnehmender Mensch ist. Ein Gedicht aus dem ersten Kapitel empfinde ich als wegweisend:

Ich

Das Ich ist
Was Körper und Geist
Im Innern verbindet

Die Mitte der Platz
An dem
Von Augenblick zu Augenblick
Sich das Bewusstsein findet

Mich haben die Gedichte inspiriert, innezuhalten, hinzusehen, meine Innen- und Außenwelt bewusster wahrzunehmen und die Empathie für meine Mitmenschen nicht zu vergessen.