Nach „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011, was nach der Finanzkrise 2008 eine der überzeugenderen Schriften aus dem politischen Feld darstellt, ist 2016 mit „Reichtum ohne Gier – wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ ein neues Buch von Sahra Wagenknecht bei Campus erschienen.
Zentral, und dies bemerkt auch das Stadtmagazin HAMBURG WOMAN ganz richtig, sind die darin benannten wirtschaftsfeudalen Strukturen und Mechanismen, die ermöglichen, was Wagenknecht „leistungslose Spitzeneinkommen“ nennt – dies in Anbetracht von deutscher Kinderarmut und dem, was die Soziologie als Anomie bezeichnet. Hier ist keine schmallippige Spaßverderberhaltung am Werk, sondern eine brisante Gegenwartsdiagnostik, die in den letzten Jahren bereits vielfach seriös erarbeitet wurde. Es handelt sich hier auch nicht um moralische Kategorien, in denen Gier und Neid verhandelt werden, sondern um Zugänge zu gesellschaftswirksamen politischen Setzungen, die von Menschen erzeugt werden und nicht vom Himmel fallen.
Ja, Ludwig Erhard als zentrale Figur in Wagenknechts Verständnis bringt ihr regelmäßig den Vorwurf eines „Zurück in die 70er?“ ein, das total veraltet sei und auch nicht hip und überhaupt. Worum es aber geht, ist nichts weniger als die Rückeroberung des Wirtschaftlichen durch das Politische. Nur all zu bereitwillig haben sich Wagenknechts Kritiker daran gewöhnt, die Wirtschaftssphäre nicht etwa als treibende Kraft, sondern als Primat, das dem Politischen vorausgeht, zu akzeptieren. Nach Hannah Arendt hieße dies, wenn dem so ist, ist das Politische nicht einmal mehr politisch. Die Idee von einer Deutschland-AG konnte wohl nur auf dem Boden einer Schröder-Ära gedeihen, dessen Geschäftsführer wohl jenes fehlte, was Nietzsche „Pathos der Distanz“ nannte, dessen Mangel nur all zu oft mit dem überhöhten Begehr einhergeht, den qualitativen Eliten, möglichst samt Oberschicht-Biographie, anzugehören. Wagenknecht hingegen hat das nicht nötig und erteilt derlei Sperenzien eine souveräne Absage, und das mit stringent volkswirtschaftlicher Argumentation, die dennoch den Menschen darin nicht vergisst. Dazu bedarf es keiner Sentimentalität, sondern Nüchternheit.
Charmant und locker formuliert HAMBURG WOMAN also, wie Wagenknechts Deutschland aussehen soll. Das Stadtmagazin, dessen Cover übrigens Nadja Atwal ziert (die nicht nur aus Hamburger Polizeikreisen einiges zu berichten weiß, sondern mehr von den USA versteht als manch jahrelanger Korrespondent), trifft Wagenknechts entscheidende Ideen und Analysen und rückt sie in jenes verdiente Licht, das nicht links noch rechts, dafür an den Schnittstellen von Vernunft und Leidenschaft anzusiedeln ist. Vielleicht ist es nun Zeit für eine Querfront der politischen Klugheit… Daher darf gelten: ein Hoch auf politische Querdenkerinnen – und auf gelungene Stadtmagazine!
Internationale wissenschaftliche Neuerscheinung Den wissenschaftlichen Forschungsstand zu aktuellen Konzepten in der Psychopathologie präsentiert der neue im New Yorker Wissenschaftsverlag Nova Science erschienene Band „Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, herausgegeben von Jeremy Williams. Der Band vereinigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, mit Schwerpunkten auf klinischer Persönlichkeitsforschung und Gewaltentstehung. In acht Kapiteln werden Daten und Überlegungen vorgelegt und zukünftige Forschungsperspektiven ausgewiesen.
Nicole Schluep und Junaid Hassim untersuchen im ersten Kapitel „Prognosis in Context“ Prognoseperspektiven im Hinblick auf psychische Störungen. Dabei werden sowohl Faktoren zur Prognosestellung vorgestellt als auch kritisches Denken bei der klinischen Einschätzung in den Blick genommen. Es zeigen sich Notwendigkeiten von Kontextualisierungen, d.h. von Perspektivenrelativierungen, die schwierig, weil individuell anpassungsbedürftig sind, zumal soziale und persönliche Mechanismen psychisches Erleben in einem kulturellen Gefüge definieren. Die Prognosestellung, wie die Autoren es formulieren, variiert notwendigerweise mit der Tatsache, auf welcher Seite des Zaunes sich die Konzeption von Psychopathologie befindet.
Nicole Schluep ist Dozentin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria und niedergelassen in privater Praxis. Junaid Hassim ist klinischer Psychologe, Heilpraktiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der Universität Pretoria.
Im zweiten Beitrag des Bandes „Pathological Personality Traits: The Darker Aspects of Personality“ widmen sich Gillian McCabe, Jennifer Vrabel und Virgil Zeigler-Hill jenen psychischen Anteilen, die im psychopathologischen Konzept der ´Dark Personality´ ihren Eingang gefunden haben. Mittels kategorialer und dimensionaler Zugänge werden hier Persönlichkeitsmerkmale diskutiert. Interessant ist, dass es eine Rückkehr zur alten psychoanalytischen Einsicht geben könnte, dass Persönlichkeitsmerkmale sich stets auf einem Kontinuum konstituieren, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren ging.
Gillian A. McCabe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan Jennifer K. Vrabel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan Virgil Zeigler-Hill, Persönlichkeitsforscher mit den Schwerpunkten Selbstwert, Narzissmus und interpersonelle Beziehungen, Associate Professor am Fachbereich Psychologie der Oakland University in Rochester, Michigan
Eine weitere Perspektive auf die „Dark Personality“ eröffnet András Láng in seinem Beitrag „Early Maladaptive Schema Domains and The Dark Triad: Core Beliefs Show What is Common and What is Distinct in Dark Personalities“. Jene Verhaltensmuster, deren sogenannte Eigenschaften Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus die ´Dunkle Triade´ begründen, werden auf ihre kognitiven Konstrukte hin untersucht. In seiner Studie arbeitet der Autor klinische und subklinische Merkmale heraus. Es lassen sich verschiedene Folgerungen ableiten, von denen die Hypothese frühkindlicher kognitiver Fehlanpassungen eine wesentliche ist.
András Láng, Assistant Professor an der Universität Pécs in Ungarn im Fachbereich klinische und Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitsforschung
Das vierte Kapitel des Bandes behandelt das Thema Vermeidung. Santiago Barajas, Luis Garra und Marisa García-Pérez stellen in “Avoidance: Implications for Psychopathology and Advances in Research” das Phänomen der Vermeidung im psychopathologischen Kontext derer Vorzüge und Nachteile vor und verweisen auf die Bedeutung der Funktionalität von Vermeidungsvorgängen für Diagnostik und Behandlung sowie auf Zusammenhänge mit Angststörungen und Depressionen. Ihr Studienüberblick fächert Vermeidungsvorgänge in Subtypen auf, die in grundlegend verhaltensbezogene, kognitive und erfahrungsgenerierte unterteilt werden. Daraus ergeben sich Optionen für Einschätzung und Behandlung. Wichtig erscheint dabei, dass gleichermaßen Verhalten, Denken und Fühlen angesprochen werden sollten.
Santiago Barajas, klinische Forschung, Universitätsklinik Guadalajara, Spanien Luis Garra, Psychologe an der Universität Castilla-La Mancha Marisa García-Pérez, Ärztin für Anästhesie, Schmerztherapie, Universitätsklinik Valencia
Das Forscherteam um Giulio Cesare Zavattini an der medizinisch-psychologischen Fakultät der Sapienza Universität Rom behandelt in ihrem Beitrag “The Intergenerational Impact of Trauma: Individual, Family and Community Implications”, dem fünften Kapitel, die Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg, eine Thematik, die in den letzten Jahren zu zahlreichen Veröffentlichungen geführt hat. Ihre Übersichtsarbeit führt Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt schweres Trauma zusammen und referiert individuelle psychische Funktionen ebenso wie familiendynamische und soziodynamische Manifestationen der Weitergabe. Es zeigt sich auf verschiedenen Ebenen, dass Trauma-Aspekte transgenerational wirksam werden. In der Zusammenschau zeigt sich ebenso die erhebliche Bedeutung der Thematik, die lange Zeit vielfach unterschätzt wurde.
Giulio Cesare Zavattini ist Psychoanalytiker und leitet die Sektion dynamische und klinische Psychologie an der Sapienza Universität Rom Antonio Gnazzo, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sapienza Universität Rom Mojgan Khademi, niedergelassene Psychoanalytikerin und Associate Professor an der Alliant International University, Alhambra, Calif. Viviana Guerriero, Psychologin, Sapienza Universität Rom Julie Manoogian, niedergelassene Psychotherapeutin in San Diego, Calif., affil., Alliant International University, San Diego Ani Kalayjian, Kulturwissenschaftlerin an der Columbia University New York Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin
Das sechste Kapitel fokussiert “On Pre- and Postnatal Mental Health Intervention Concepts” und trifft eine Bestandsaufnahme von Ansätzen früher Interventionen bei Mutter und Kind im vor- und nachgeburtlichen Bereich. Existierende Programme werden vorgestellt und der Forschungsstand beleuchtet. Vor dem Hintergrund einer materialistischen Sozialisationstheorie werden die Grundlagen um Einflüsse zu Persönlichkeitsentwicklung und Gewaltentstehung erweitert; ebenso wird die psychosomatische Bedeutung pränataler Prägungen im intrauterinen Lebensraum einbezogen.
Götz Egloff, nach psychoanalytischer und psychotherapeutischer Ausbildung in Heidelberg, Mannheim und Düsseldorf niedergelassen in Mannheim Dragana Djordjevic, nach Tätigkeit als Ärztin im Kreißsaal Gastwissenschaftlerin an der Universität Heidelberg und Stipendiatin für den Aufbau psychosozialer Behandlungskonzepte für Neugeborene im jugoslawischen Raum, Oberärztin an der Universitätsklinik Niš. Forschung zur Psychosomatik der Herzfrequenzvariabilität
Robert Emes Beitrag “Advances in the Study of Male Psychopathy” bildet das siebte Kapitel. Die nach wie vor männliche Domäne der Psychopathie, einem Konzept, das auch als Soziopathie beschrieben wird und aufs Engste mit dem Phänomen Gewalt verknüpft ist, rekapituliert der Autor hinsichtlich der ihr unterliegenden Forschung. Eme weist auf Entwicklungspotentiale und -grenzen von Persönlichkeit hin und verbindet Ergebnisse und Erfahrungen mit neurowissenschaftlicher Forschung. In seinem Beitrag werden entwicklungspsychologische Fragestellungen neu aufgeworfen; und es zeigt sich auch, dass selbst Programme, die frühzeitig einwirken, im Bereich Delinquenz bislang wenig erfolgreich waren.
Robert Eme forscht zum Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom in den Grenzgebieten Neurowissenschaften, Pädiatrie und Endokrinologie. Als Professor an der Argosy University in Schaumburg, Illinois, betreibt er langjährig Forschung zu Delinquenz
Last but not least, “Biofeedback – an Evidence-based Approach to the Management of Two Major Health Diseases: Obesity and Perinatal Mood Disorders” behandelt als achtes und letztes Kapitel des Bandes ein effektives, doch bislang wenig beachtetes Verfahren zur Beeinflussung von Übergewicht und Essstörungen sowie der postpartalen Depression. In ihrer Vorstellung des Verfahrens weisen Gaia deCampora, Luciano Giromini und Richard Gevirtz auf die Bedeutsamkeit der Regulierung des Autonomen Nervensystems bei psychischen und psychosomatischen Störungen hin. Die insbesondere in der Postpartum-Phase auftretenden Stimmungsstörungen können frühzeitig beeinflusst werden, so wie auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine Steigerung der Flexibilität mittels Selbst-Regulation möglich und wünschenswert ist. Biofeedback, richtig eingesetzt, kann eine wertvolle Intervention sein, gerade wenn weitergehende Maßnahmen nicht passend sind.
Gaia deCampora, ltd. Psychologin an der Sapienza Universität Rom, Perinatalpsychologin Luciano Giromini, Dozent an der Universität Turin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alliant International University, San Diego, Calif. Richard Gevirtz, Alliant International University, San Diego, Calif., Forschung zur Herzfrequenzvariabilität
Der englischsprachige Band zeichnet sich durch eine ausgewogene Auswahl von Forschungsansätzen und -perspektiven aus. Sowohl Studien als auch theoretische Grundlagen werden vorgestellt. Die am Band beteiligten Wissenschaftler geben mit ihren Beiträgen Einblick in die derzeitigen Entwicklungen der Psychopathologie als Untersuchungsgegenstand und als Konzeption. Möglichkeiten und Grenzen werden dabei deutlich, ebenso wie die Erkenntnisbemühungen an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaften.
„Psychopathology: Symptoms, Challenges and Current Concepts“, Jeremy Williams (ed.). Nova Science, New York. 225 pages, $ 160
Weiblichkeit, Verschleierung, Bilderverbot – ganze Themenkomplexe eröffnen sich bei der Lektüre der herausragenden Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Skwirblies, die in der Reihe Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft im Tectum Verlag erschienen ist. So geht es in dieser interkulturellen und transdisziplinären Studie um Individuierung und Repräsentation, um Eros und Macht, um Sex, Gender und Identität im Spannungsfeld der Geschlechter und Kulturen. Im muslimisch-christlichen Gefüge, in dem naheste Verwandtschaften im Gefolge aufgeheizter Extremismus-Debatten glatt vergessen werden (vgl. Bertau, 2005), ein wohltuender Blick aus wissenschaftlicher Perspektive.
Schleier und Verhüllung in ihrer Verarbeitung in den performativen Künsten nach dem 11.September 2001 stehen im Blickpunkt der Arbeit. Die Chiffren, in denen der Schleier verhandelt wird, sind weit-gefächert, mehr-schichtig, rück-bezüglich, und in ihrer Komplexität nicht zu unterschätzen, sodass sich zur Lektüre von Skwirblies´
Arbeit eine weitere Beschäftigung mit Semiotik, (Post-)Strukturalismus, Psychoanalyse und Performanztheorie empfiehlt. Der Erkenntnisgewinn ist groß. Aber auch ohne zusätzliche Intensivierung macht das Buch Spaß, ein gewisses Grundwissen vorausgesetzt; und es gibt Einblicke in hochinteressante zeitgenössische Kunst-Aktionen. Die Verschleierungsdarstellungen im medial-künstlerischen Kontext so verschiedener Inszenierungen wie Princess Hijabs „Hijabizing“-Graffitis, dem Kurzfilm „Submission“ von Ayaan Ali und Theo van Gogh, den an Eve Enslers Vagina-Monologe angelehnten „Veiled Monologues” von Adelheid Roosen, und der Performance „Manta“ von Héla Fattoumi und Eric Lamoureux werden untersucht, und es wird deutlich, wie die extrakorporale Trennung der Geschlechter in der durch den Schleier symbolisierten geschlechtlichen Ordnung zum Gegenstand innerer und äußerer Auseinandersetzung wird.
Verhüllung wird hier als ´Differenzkonstruktion´ (Schneider, 2011) verhandelt, wobei einerseits das muslimische Besondere, der Schleier als Ausdruck der Sakralität des weiblichen Körpers (v.Braun, 2016), aber auch das differenzstiftende Allgemeine betrachtet werden. Der Schleier fungiert als Membran zwischen Innen und Außen, ähnlich der psychoanalytischen Auffassung des Randes als körperlich-anatomischer Grenze zwischen Innen und Außen, die die ent-scheidende Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich bildet. Analog erinnert dieser nicht nur an die in Südeuropa weiterverbreitete weibliche Praxis der Nutzung des Fächers (der gewiss nicht nur klimatische Gründe hat), sondern verweist auch auf Erkenntnisse des nur sehr selten anzutreffenden Faches der Psycho- und Soziogeographie, das mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Kasseler Forscher Peter Jüngst ihren renommiertesten Vertreter verloren hat, sowie auf die ebenso seltene Ozeanographie in ihren psychosozialen Bezügen. Fächer, Schleier, aber auch Teppiche und Vorhänge sind in manchen Kulturräumen nicht ohne Grund fester Bestandteil von In- und Exterieur; verstanden als Barrieren, die mit Offen- und Geschlossenheit zu spielen wissen (vgl. Critchley & Webster, 2014), weisen sie weit über die alltägliche Wahrnehmung derer hinaus. Eingang in die Alltagskultur haben sie ohnehin gefunden: Schuh- und Wäsche-Hersteller wissen um dieses Spiel, und wenn der größte Stoffteil eines Wäschestücks aus einem an der Vorderseite locker vernähten Stück Gaze besteht, heißt er ‚avec un voile‘ – mit Schleier.
Verbergen und enthüllen ist also das Thema, und auch das Meta-Thema der im Band vorgestellten Kunst-Aktionen. Gibt es etwas zu enthüllen? Oder sind die Inhalte in den Formen, den Ritualen, in der Praxis aufgegangen? Oder sowohl als auch? Das Wechselspiel von (Post-)Kolonialismus und kultureigenem Feminismus ist oft schillernd, selten leicht zu fassen, und Rollenzuschreibungen sowie Selbst-Erleben sind bei weitem nicht so eindeutig wie man im Westen gerne annehmen möchte.
Zum Thema lassen sich historisch etliche Querbezüge in Hoch- und Popkultur herstellen. Einer der interessantesten ist gewiss Nathaniel Hawthornes Kurzgeschichte „The Minister´s Black Veil“ von 1837, in der das christliche Konzept der Erbsünde einer tiefenpsychologisch anmutenden Kritik unterzogen wird. Die Gemeinde muss sehen lernen; sie erblickt Eigenes im Anderen, was die Projektion als Maßnahme zur Abwehr der eigenen Unzulänglichkeit deutlich werden lässt. Und auch Pauline Réages 1954 erschienene „Geschichte der O“, diese einflussreiche Fabel von Unfreiheit und Sadomasochismus, sowie „Emmanuelle“ von Emmanuelle Arsan (1959) und „Neuneinhalb Wochen“ von Elizabeth McNeill aus dem Jahr 1978 geben erzählerische Einblicke in die westliche Spätmoderne, in der Verschleierungen in der einen oder anderen Form auftauchen. Interessant ebenso, dass auch diese Werke alle von Rollen, Sex und Beziehung handeln, während zur Jahrtausendwende BDSM rasch in den anomischen Alltag einwandert (Illouz, 2013). Im westlich-postmodernen Kontext kann dies bedeuten: “The paradox of sexual liberation is that when everything is possible, nothing is possible. When we are liberated from all those dreary old bourgeois repressive constraints, we are suddenly disoriented and unable to act. The hidden consequence of sexual freedom is impotence. (…) But the truth is, it is only repression that keeps desire alive” (Critchley & Webster, 2014).
Von der Gesellschaftsdiagnose zum Subjekt und wieder zurück; dies sind die potentiellen Stationen der behandelten Stoffe ganz allgemein – ähnlich der Sozialwissenschaftlerin Reyhan Şahin, die mittels ihres Alter Ego als Lady Bitch Ray auf die ´pussisi delik´ als östlich-westlich-postmoderne Inszenierung zugreift – und des dichten Bandes von Skwirblies im Besonderen. Skwirblies bezieht auch die ‚embodied science‘ mit ein, die Semiotik nicht losgelöst, sondern in den realen Körpern konzipiert – die dringend notwendige Erweiterung eines sonst körperlosen Diskurses. Wo liegt die Lust? Die libidinöse Aufladung? An den Rändern, würde wohl auch Lacan sagen und wiederum auf das Zwischen von Innen und Außen verweisen. Und wo liegen Macht und Gewalt? Das Ich und der Andere gehen immer eine soziale Beziehung ein, der Gewalt vorgängig sein könnte – nimmt man an, dass die Möglichkeitsbedingung der Herausbildung des Ich gegenüber dem Anderen bereits Gewalt darstellt (vgl. Boelderl, 2001). Erst die spätere Ausgestaltung dessen, was folgt, kann Milderungen schaffen.
„Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“, spekulierte Nietzsche (vgl. Schulte, 2000). Die Annäherung derer in Skwirblies´ Arbeit verweist auf die Darstellung der Vulva, der weiblichen Scham, die verschleiert wird, weil dahinter das Nichts lauere – wie es die orthodoxe Psychoanalyse sieht –, im Gegensatz zum männlichen Genital, das sichtbar sei. Das ist der eigentliche biologische Skandal, aus dem dann ein sozialer wird – aber womöglich nicht werden muss? Oder doch in der psychischen Tiefenschicht bleibt? Ähnlich zitiert Skwirblies auch Joan Rivière, die mit ihrer Theorie der weiblichen Maskerade vor vielen Jahrzehnten ein gewisses Aufsehen erregte. Ist dahinter nichts, oder doch etwas?! Dies ist und bleibt die Frage, die nun auch Männern gestellt werden darf. Deren Unentscheidbarkeit muss zu praktischen Konsequenzen führen. Der tiefere Sinn von Gleichstellung und Genderdebatte, auch aus psychoanalytischer Sicht, ist die Chancengleichheit, und nicht die etwaige Verleugnung biologischer Gegebenheiten. Nur: nicht alles was sich biologisch gebärdet, ist biologisch. Erst an dieser Stelle beginnt die Debatte. Man muss nicht Camille Paglia sein; doch eine rein konstruktivistische Anthropologie ohne Essentialismus, sprich Biologie, ist und bleibt schwierig. Dies ist aber nicht der Autorin entgegenzuhalten, die eine in sich hoch konsistente Arbeit vorlegt, sondern der Ausklammerung von Körper, Leib, Begehren in Teilen von Semiotik und Strukturalismus, die Paglia wohl der jüdisch-christlichen Überbewertung von Sprache zu Ungunsten des Körperlichen zuschreiben würde. Dafür greift Skwirblies auch die Phämonenologie des Körperlichen auf, die Maurice Merleau-Ponty bereits zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausarbeitete, und die erhebliche Anknüpfungspunkte bietet.
Festzuhalten bleibt: Der Band von Skwirblies vollbringt glänzend den Balance-Akt zwischen Theorie und Praxis. Die exzellente Auswahl an szenischen Texten bzw. Aktionen und deren Bearbeitung lassen nicht zu wünschen übrig und bieten reichlich Diskussionsstoff. Und auf relativ knappem Umfang solch einen hohen inhaltlichen Ausschöpfungsgrad zu erreichen ist ungewöhnlich. Der Band ist, obschon komplexer Thematik, relativ leicht lesbar und denen zu empfehlen, die hinter die Oberflächen schauen möchten, um Verborgenes oder eben weitere Oberflächen – hinter, vor, oder auf den Oberflächen – zu entdecken.
Literaturhinweise:
Bertau, Karl (2005). Schrift – Macht – Heiligkeit in den Literaturen des jüdisch-christlich-muslimischen Mittelalters. Hg. Sonja Glauch. Berlin/New York: Walter deGruyter.
Boelderl, Artur R. (2001). Der Andere als ´social alter´. Die Ethik der Psychohistorie im Blick auf das Gewaltproblem. In: Kurth, W. & Rheinheimer, M. (Hg.). Gruppenfantasien und Gewalt. Jahrbuch für psychohistorische Forschung 1. Heidelberg: Mattes, S. 37-46.
Braun, Christina von (2016). Die symbolische Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches – Säkularisierung und Post-Sexualität. In: Sexuologie, Jg. 23, 1-2, S. 39-47.
Critchley, Simon & Webster, Jamieson (2014). Reproductive Wrongs. In: Playboy (US), May 2014, A-Z Special Edition, p. R.
Illouz, Eva (2013). Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und ´Shades of Grey´. Berlin: Suhrkamp.
Schneider, Irene (2011). Der Islam und die Frauen. München: C.H. Beck, S. 234-239.
Schulte, Günter (2000). „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib…“ (Nietzsche). Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Was ist Wahrheit?“, Universität Köln, 12.4.2000.
Andreas Schick, langjähriger Heidelberger Präventionsforscher und Männertherapeut, hat ein überfälliges Buch vorgelegt, das Theorie und Praxis des therapeutischen Umgangs mit der männlichen Psyche schlüssig miteinander verbindet. Ebenso leicht zugänglich wie undogmatisch angelegt, nutzt der Autor die Stärken von C.G. Jungs Archetypenlehre eindrucksvoll, um zu den lebensweltlichen Belangen heutiger Männer vorzudringen und diese therapeutisch-beraterisch zu handhaben. Diese Belange werden in ihren Schattierungen und entlang ihrer Schnittpunkte durch Fallvignetten illustriert, sodass die Verbildlichungen, die auf diese Weise gelingen, als eindrucksvolle Hintergrundfolie für die Arbeit mit Männern im Einzel- und Gruppensetting dienen können. Die an W. Mauckners initiatisch-phänomenologischem Konzept orientierte Männer-Arbeit strebt dabei sowohl eine geschärfte Wahrnehmung als auch die Rückbesinnung auf männliche Ressourcen an, die, weitab von chauvinistischen Klischees liegend, im Alltag verloren zu gehen drohen. Daher ist Schicks knappes, doch dichtes Werk hochinteressant und zeigt, dass überdauernde Konzeptionen jenseits des akademischen Mainstreams Geltung beanspruchen können, ohne esoterisch sein zu müssen. Der Autor versteht es, immer die männliche Lebenswelt im Blick zu haben und sich nicht in Theorie zu verlieren, diese im Gegenteil jederzeit nutzbar zu machen, so weit dies ein Buch überhaupt im Gegensatz zu in-vivo-Erfahrungen bieten kann. Um genau diese in der Männer-Arbeit zu ermöglichen, empfiehlt sich dieses Buch Männern und Frauen in unterschiedlichsten Arbeitsfeldern.
Peaches Does Herself. Electro Rock Opera, Berlin, 2010 Merrill „Peaches“ Nisker, kanadische Ikone des Electroclash mit Wohnsitz in Berlin, liefert mit der 2014 erschienenen DVD „Peaches Does Herself“ den um einige Ergänzungen erweiterten Mitschnitt ihrer Electro Rock Opera, die unter dem gleichnamigen Titel 2010 im Berliner Hebbel am Ufer zu sehen war. Was mehr als Performance denn als Konzert beginnt, entwickelt sich im Lauf des Abends zu einem veritablen Punk/Pop/Rock-Konzert des Minimalen, das nicht nur stimmlich manchmal an die frühe Pat Benatar erinnert, sondern vor allem roh und unpoliert daherkommt und den ausgehenden Punk-Crossover um 1980 wieder aufleben lässt. Auch Prince in seiner Controversy-Ära lässt grüßen. Programmierte Industrial-Sounds wechseln sich ab mit den ultra-minimalen Rock-Fetzen von Sweet Machine, die als Peaches´ Haus-Band fungieren dürfen. Modale Grooves, vor denen Peaches singt, rappt oder sonstige Statements abgibt, führen das Publikum spielerisch durch die Geschichte ihrer postmodernen Selbstwerdung, also Peaches according to Peaches.
Dass Peaches mit einer bisweilen erstaunlich guten Stimme aufwartet, ist erfreulich; ihre minimalistischen Arrangements, die nicht wenig hängen bleiben und, eingebettet in abgefahrene Bühnen- und Kostümbilder, eindrucksvolle Installationen bilden, sind und bleiben großartig. Mit manchen ihrer Transgender-Inszenierungen hat Peaches nicht nur Miley Cyrus und einige andere inspiriert, sondern dem Pop-Mainstream grundsätzlich viel vorweggenommen. Sie bleibt dabei sympathisch – was ihr künstlerisches Ansinnen und Output nicht zu schmälern scheint. Vor allem aber kommt die sehr spezielle Musikalität nicht zu kurz, und Klassiker wie „Diddle My Skittle“ oder „Mommy Complex“ treiben das Publikum durch das postfeministische Spektakel.
Zusätzlich zur 2010er-Show gibt es einen 2004er-Konzert-Mitschnitt obendrauf, der viel mehr Konzert als Performance ist und die besonders rohe Peaches-Version zeigt – sehr direkt, sehr eindrucksvoll.
Die bei Capelight erschienene DVD „Peaches Does Herself“ zeigt ein Gesamtkunstwerk, das sich zu sehen und zu hören lohnt.
Überraschend ansprechend kommt die Ausgabe 12-01/2016 des deutschen Penthouse zum Jahreswechsel daher – dem schwierigen Kind der deutschen Männermagazin-Landschaft, in der es Print-Produkte in Zeiten der bewegten Bilder ohnehin schwer haben. Ein knackiges Heft, attraktiv und ohne übertriebenen Schnickschnack. Vielleicht hat das mit der Herausgeberschaft durch die Delmenhorster Borgmeier-Mediengruppe zu tun, die die Sache norddeutsch-entspannt angeht und mit dieser Ausgabe gediegenes Understatement vermittelt und damit auch mit der Idee des Glamour „von nebenan“ ernst macht. Das ist wahrscheinlich das Vernünftigste, was man zur Zeit dem allgegenwärtigen Magazin-Mainstream entgegensetzen sollte. Nun also, zum Abschluss des 50. Jubiläums von Bob Gucciones Penthouse-Gründung, ein Neustart, wer hätte das gedacht? Continue reading „Locker und entspannt“
Der Belgrader Kongress zu Psychischem Trauma: Prä-, Peri- und Postnatale Aspekte (PTPPPA 2015) liefert Einsichten in die Entwicklung des frühesten Lebensalters
Den Bedingungen und den Folgen von psychischem Trauma widmete sich der Erste Internationale Kongress zu Aspekten rund um Schwangerschaft, Geburt und Frühsozialisation, der vom 15.-16.Mai in der serbischen Hauptstadt stattfand. Der Kongress versammelte Experten nicht nur aus dem jugoslawischen, sondern aus dem ganzen europäischen Raum, Russland, den USA und einigen weiteren Ländern. Gefördert vom serbischen Bildungsministerium und unter der traditionell starken Beteiligung deutscher, serbischer, griechischer und amerikanischer Fachgesellschaften rückte die ganze Bandbreite menschlicher Entwicklungsbedingungen in den Blick. Die frühe Entwicklungspädiatrie und -psychologie bildet dabei neben Geburtshilfe und Psychosomatik einen Schwerpunkt, ebenso wie die klinische Sprachforschung, die mit dem ansässigen Institut für experimentelle Phonetik und Sprachpathologie seit langer Zeit ein agiles interdisziplinäres Forschungsinstitut unterhält.
Neben evolutionspsychologischen Aspekten von Schwangerschaft und Geburt bildeten die transgenerationale Weitergabe von Schwangerschafts- und Geburtserleben eine grundlegende Hintergrundfolie psychodynamischen Verstehens; sowohl im Licht der Systemtheorie, der konkreten Mutter-Kind-Dyade oder der bio-psychologischen Auffächerung von Traumata bei Kindern und bei Erwachsenen wurden Studien und Überlegungen vorgestellt. Im Sinne der sogenannten Fötalen Programmierung, also der Einflussnahme intrauteriner Prozesse auf die spätere Entwicklung von Gesundheit und Krankheit des werdenden Menschen, wurde die ganze Tragweite früher Einflüsse deutlich.
Die Fächer Geburtshilfe und Psychosomatik mit Psychotherapeutischer Medizin verdienen hier besondere Aufmerksamkeit. So beeinträchtigen schwangerschaftsassoziierte Erkrankungen wie Präeklampsie und HELLP-Syndrom sowohl Mutter als auch werdendes Kind; Entwicklungsstörungen im Zusammenhang mit Kaiserschnitt-Entbindungen sind nicht selten; Nabelschnur-Umwicklungen scheinen mit dem Grad an mütterlicher Angst vermutlich mehr zu korrelieren als allgemein angenommen. Jegliche Interaktionen mit Auswirkungen auf das Ungeborene, Neugeborene, Frühgeborene müssen als besonders bedeutsam erachtet werden, da sich vieles nicht einfach auswächst. So können vielfältige auf dem Kongress vorgestellte Aspekte Geltung beanspruchen und internationale Präventions- und Interventionsansätze begründen. Klinische Bezüge stets im Blick, wurden bspw. Entwicklungswege zu sensorischer Integration, Autismus-Spektrum-Störungen, Laktose-Intoleranz oder Posttraumatischer Belastungsstörung dargestellt. Auch Trennungsangst, Asthma oder Schizophrenie verweisen auf ein breites Spektrum möglicher früher Entstehungsbedingungen.
Körperpsychotherapeutische Ansätze, die generell eher wenig berücksichtigt werden, aber frühe intrauterine Prägungen noch am ehesten erfahrbar werden lassen, fanden ebenso Eingang. Da Erinnerungsspuren aus dem vorgeburtlichen Leben nicht versprachlicht sind, können sie – wenn überhaupt – nur auf körperlichem Wege verstanden werden. Diese Dimension verdient gewiss besondere Aufmerksamkeit. Ganz konkret heißt dies natürlich, Bedingungen im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt – und der folgenden Frühsozialisation – zu schaffen, die frühe Traumata so weit wie möglich verhindern können. Ein Anliegen, dessen Dimension der Kongress deutlich machen konnte.
Hebammen, Eltern und Experten vereint für vernünftige RahmenbedingungenDie gesetzlichen Krankenkassen verhandeln zur Zeit mit den Hebammen-Verbänden; die Wahl des Geburtsortes soll zur Disposition stehen. Ebenso sollen z.B. Vorgespräche von Hebammen mit Schwangeren nicht ausreichend finanziert werden; einiges mehr soll reglementiert werden. Viele Hausgeburten würden so aus dem gesetzlichen Leistungsspektrum herausfallen und zu privaten Leistungen umdefiniert werden. Noch will der Gesetzgeber einerseits eine flächendeckende Hebammen-Versorgung gewährleisten und das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren schützen; andererseits weiß man nur allzu gut, wie rasch politische Positionen heutzutage kippen.
Wie der Verein „HappyBirthday – Gemeinsam für eine selbstbestimmte Geburtskultur e.V.“ nach einem ersten deutschlandweiten Netzwerktreffen am 11.April 2015 in Kassel zusammenfasst, ist die anhaltende Verschlechterung der Rahmenbedingungen in Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe in Deutschland alarmierend. Gravierende Fehlentwicklungen gefährdeten nicht nur die Existenz freiberuflicher Hebammen, die körperliche und seelische Gesundheit von Müttern und ihren Kindern hänge in zunehmendem Maße von den familiären finanziellen Ressourcen ab. Bedenkt man die ohnehin schon niedrige Geburtenrate in Deutschland, so ist es grotesk, dass werdende Eltern in der Phase des Familienstarts wenig oder gar nicht bio-psycho-sozial versorgt werden.
Insbesondere die stetig steigende Zahl von Kaiserschnitten, eine sehr hohe Frühgeburtlichkeitsrate sowie eine ebenso hohe medizinische Interventionsrate bei fast allen Geburten lassen auf Fehlentwicklungen in der Geburtskultur schließen, die dringend Reformen benötigt. Auf dem Kasseler Netzwerktreffen sei deutlich geworden, dass die verschiedenen Elterninitiativen nicht nur ein Mitspracherecht fordern, wenn es um die Rahmenbedingungen von Schwangerschaft, Geburtshilfe, Wochenbett und Stillzeit geht, sondern diese den Staat nicht aus seiner Mitverantwortung entlassen wollen. Die Gewährleistung einer individuellen, wohnortnahen geburtshilflichen Versorgung sowie die stärkende Begleitung durch Hebammen bei der Familiengründung kann nur im Interesse aller sein.
Die gesellschaftliche Bedeutung von Zeugung, Geburt und Erziehung wird in hochindustrialisierten Kulturen traditionell unterschätzt; sie muss in den Vorstellungen der Menschen und ganz konkret im Alltag vernünftige Bedingungen vorfinden, damit Gesellschaft funktionieren kann. Nicht nur werdende Eltern werden sich über diese Zusammenhänge immer öfter bewusst. Von wissenschaftlicher Seite wird der Einsatz von Familien-Hebammen mittlerweile als sehr sinnvoll erachtet; noch dazu werden die Erkenntnisse der Pränatalpsychologie weiteren Kreisen zugänglich. Gebären ist einerseits ein archaischer Akt, der auf den Ursprung der Menschheit verweist. Andererseits hat sich über Jahrzehnte eine Kultur der Schwangerenbetreuung und Geburtshilfe entwickelt, die eine enorme Bandbreite an technischen Möglichkeiten und medizinischer Intervention aufweist. Dies führt dazu, dass eine angemessene menschliche Begleitung von Schwangeren und Gebärenden durch eine technische in den Hintergrund gedrängt wurde. Wie wichtig jedoch gerade in dieser sensiblen Umbruchsphase eine vertrauensvolle Betreuung ist, wissen Mütter, Väter und werdende Eltern nur zu gut. Nun gilt es, diese Fehlentwicklungen wieder in vernünftige, sinnvolle Bahnen zu lenken. Eine gelungene Geburtskultur zu etablieren ist notwendig und auch möglich, wenn die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Ein Umdenken ist dazu gewiss erforderlich. Zahlreiche Initiativen und Gesellschaften im Bereich der Geburtskultur haben dies bereits erkannt, so wie ebenso Wandlungen der Wahrnehmung von Zeugung, Geburt und Erziehung in weiten Teilen der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Dazu gehört auch die Wandlung der Wahrnehmung von Schwangerschaft und Geburt vom rein Angstbesetzten hin zum auch Lustbesetzten, die immer mehr werdende Mütter realisieren können, dies auch gewiss mit den entsprechenden Auswirkungen auf das werdende Kind. Um allen Aspekten rund um diese komplexe Thematik gerecht werden zu können, müssen jedoch Notwendigkeiten personeller und materieller Ressourcen berücksichtigt werden. Die Schaffung einer gelungenen Geburtskultur muss oberstes Anliegen einer Gesellschaft sein – im Interesse der Gesellschaft, der Mütter, der Väter und der Kinder. Man kann die Bedeutung dessen gar nicht überschätzen: Es ist der Grundpfeiler, auf dem sich unser Sein errichtet.
Weitere Informationen auch über HappyBirthday e.V., Karlsruhe
www.happybirthday-deutschland.de
Götz Egloff / für HappyBirthday e.V.: Cerstin Jütte, Simone Vogel
Rezension zu E. James Lieberman, Robert Kramer: Sigmund Freud und Otto Rank. Ihre Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906-1925. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2014.
Die vielleicht engste Beziehung in der ersten Generation der Psychoanalyse bestand zwischen deren Begründer Sigmund Freud und dessen wenig beachtetem Meisterschüler Otto Rank, die immerhin 29 Jahre Altersunterschied voneinander trennte. Umso verbindender ihre lang währende gemeinsame Arbeit an den Grundfesten der Psychoanalyse, wenn im Verlauf auch Trennendes in den Vordergrund rückte, vielleicht rücken musste. Die Autoren E. James Lieberman – der auch für die großartige Biographie „Otto Rank – Leben und Werk“ (Gießen, 1997) – verantwortlich zeichnet, und Robert Kramer – langjähriger politischer Berater während der Clinton Administration – haben den ungewöhnlichen Weg einer Historiographie entlang des Briefwechsels der Protagonisten gewagt, und das Experiment ist geglückt.
Die Geburtserfahrung; die Mutterfixierung, die der Urverdrängung gleichkommt; die verlorene Mutter-Kind-Beziehung, die in der Mutter-Imago als Phantasma von Angst und Sehnsucht – eins gibt es nicht ohne das Andere – wieder auftaucht: all dies sind Grundpfeiler heutigen psychoanalytischen Verstehens, die auf Ranks Denken zurückgehen. Jene Bilder, die dem Leser dieser Zeilen beim Gedanken an das, was heute Psychotherapie genannt wird, durch den Kopf gehen, was aus unzähligen Filmen, Texten, Berichten und vielleicht aus der eigenen Erfahrung bekannt ist, wäre nicht nur ohne Freud, sondern auch ohne Rank so nicht möglich gewesen. Zumindest sähe es anders aus, fühlte sich anders an, hätte sich mit anderen Akzenten entwickelt. Rank hat entscheidende Impulse an Carl Rogers gegeben, dessen Gesprächspsychotherapie heute noch in den USA die weiteste Verbreitung hat und neben der Psychoanalyse im Liegen auf der Couch über Jahrzehnte hinweg maßgebend war. Erst postmoderne konstruktivistische Ansätze modifizierten bzw. definierten Therapie teilweise in neue Richtungen, dies zunächst mit mitunter ähnlich bahnbrechenden neuen Perspektiven, von denen viele jedoch mittlerweile wieder relativiert wurden. Wenn man so will, landete man in den letzten Jahren auf einem gemeinsamen psychodynamischen Nenner, der in der heute noch in Deutschland am weitest verbreiteten Therapieform, der sogenannten tiefenpsychologischen Psychotherapie, die ein- bis zweimal pro Woche im Sitzen stattfindet, ihren wohlbegründeten Sinn gefunden hat. Ranks vielleicht bedeutendstes Werk jedoch, das „Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse“ (1924) führt bis heute ein Schattendasein, zu problematisch erscheint der Gedanke an ein Real-Trauma der Geburtserfahrung. Dieser führte letztlich auch zum Bruch mit Freud.
Die Autoren Lieberman und Kramer, die bereits 1997 auf der Heidelberger Tagung „Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse“ eindrucksvoll die Person Rank und ihr Wirken vorgestellt hatten, verknüpfen 250 Briefe aus der Korrespondenz Freud-Rank mit den Persönlichkeiten, der Politik und den Wissenschaften ihrer Zeit. Sie zeichnen dabei die Entwicklung psychoanalytischen Denkens und das der zwei Protagonisten (und Antagonisten), die das Denken der westlichen (und auch von nicht unbedeutenden Teilen der östlichen) Welt maßgeblich geprägt haben, eindrucksvoll nach. „The Letters of Sigmund Freud and Otto Rank: Inside Psychoanalysis“, bei der Johns Hopkins University Press 2011 in Baltimore erschienen, wurde von Antje Becker hervorragend ins Deutsche übersetzt und dankenswerterweise vom Psychosozial-Verlag in Gießen veröffentlicht. Das Buch gibt einen hochinteressanten, lebensnahen Einblick in die Psychoanalyse und ihre Entstehungsgeschichte.
Kommentar (Lettre International, 86, Berlin, 2009) Eine Projektion ist eine Projektion ist eine Projektion
Die Einlassungen des Berliner Ex-Finanzsenators und Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin (SPD) in Lettre International Nr. 86 zum Thema des Einflusses ethnischer und sozialer Minderheiten auf die sozioökonomischen Entwicklung der Hauptstadt lassen tief blicken – nur worein? In die Abgründe Berlins? Oder in die Abgründe der psychischen Konstitution von Herrn Sarrazin? Dieser begibt sich verwegen in die uralte Tradition des Minderheiten-Bashings und ignoriert souverän und ganz zeitgeistgemäß jegliche sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über sozioökonomische und soziogeographische Zusammenhänge. Da hat wohl einer seinen Topos gefunden.
Die schwerwiegenden Versäumnisse der Ära Schmidt und der Ära Kohl beim Thema Integration werden von ihm nicht herangezogen, stattdessen macht er sich zum Handlanger des Polit-Chauvinismus und liefert eine Steilvorlage für populistische Edelfedern wie Franz-Josef Wagner (BILD-Zeitung, 5.10.2009). So – jetzt hat einer mal gesagt, was Sache ist! Damit bist du ganz weit vorn, Thilo!
Sarrazin, von manchen SPD-Parteifreunden intern wenig liebevoll „Alte Frau Sarrasani“ genannt, sollte seine Verantwortung als Bundesbank-Vorstandsmitglied ernster genommen haben. Direktor statt Clown wäre angesagt gewesen. Aber es zeigt sich wieder einmal: Zirkus liegt ihm generell nicht fern. Einmal Zirkusluft geschnuppert, wirst du süchtig. Und warum auch nicht? Hauptsache mal kernig sein, Thilo! Vielleicht kommt man dann auch zu Beckmann.
Wären Sarrazins Entgleisungen die Worte des Innenministers eines totalitären Staates gewesen, niemand hätte sich gewundert über solch eindimensionale Invektiven. Aber manche Vorstands- und Senatoren-Büros haben mit Wärmestuben vielleicht mehr gemeinsam als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Die Unproduktivität der Anderen wird insbesondere von jenen gerne anvisiert, die Kimme und Korn verwechseln. Schlecht nur, wenn der Schuss dann los geht. Aber so ist das eben mit Projektionen. Wer herum wurschtelt, wurschtelt herum. Wer konstruktiv handelt, handelt konstruktiv. Letzteres tut Sarrazin jedenfalls nicht.
Spätestens jetzt sollte Sarrazins Karriere beendet sein. Bedauerlich, dass auch dieser Abgang noch vergoldet werden wird. Womöglich reüssiert Sarrazin aber auch noch einmal. Vielleicht bietet SAT1 ihm und Eva Hermann ein gemeinsames Talk-Show-Format an, in dem Lady Gaga als Dauer-Stargast etwas vom „Pokerface“ keuchen darf. Da wäre das Triumvirat des guten Geschmacks dann vollständig.