von Maren Schönfeld
„Was sollte es denn heute noch für eine Rolle spielen, welche Ängste sie als Vierjährige geplagt hatten? Ja, sie hatte mit ihrer Mutter erst eine schreckliche Reise machen müssen und war dann in einer fremden, von Flüchtlingen überquellenden Stadt angekommen, in der weder die Mienen noch die Worte der Menschen Freundlichkeit widerspiegelten. Das war aber nicht nur ihr so ergangen. Und davon soll man Jahrzehnte später Schlafstörungen bekommen?“ Diese Gedanken gehen der 72jährigen Lina, Hauptperson des Romans „Meerraben“ (Print: ihleo verlag Husum, 2. Auflage 2016; E-Book: Martin Bühler Publishing, Bredstedt 2015) von Brigitte Cleve, durch den Kopf. Schauplatz des Romans ist Flensburg, und er basiert auf tatsächlichen Begebenheiten. Faction heißt laut Duden die Literaturgattung, in der wahre Begebenheiten künstlerisch gestaltet werden. Man wählt einen realen Hintergrund, zum Beispiel die Flüchtlingsbewegung in der Nachkriegszeit, und lässt vor dieser Kulisse eine Geschichte spielen. Die Gattung ist mit Arbeit verbunden, weil man viel recherchieren muss. Und sie gibt gleichzeitig mehr Freiheiten als ein Sachbuch, weil man dem tatsächlich Geschehenen eine Fantasie hinzufügen und damit den faktischen Hintergrund spannend und interessant gestalten kann. Es verwundert nicht, dass Autor*innen, die Faction schreiben, häufig aus dem Sachbuchbereich kommen. So auch die in ihrer Wahlheimat Flensburg ansässige Brigitte Cleve, die mit einer Autobiografie begann und über zwei Sachbücher zur Faction kam. Aber der Reihe nach.
In ihrer Kindheit entdeckte die in Nordrhein-Westfalen aufgewachsene Autorin durch ihren älteren Bruder die Literatur. Noch wies nichts auf die spätere Schreibleidenschaft hin. Sie absolvierte eine Banklehre und arbeitete, inzwischen verheiratet, nachdem ihr Mann nach Brüssel versetzt worden war, ebenfalls in der belgischen Hauptstadt. Als ihre Mutter erkrankte, tat sie das, was so viele Frauen nahezu unbeachtet tun: Sie pflegte die Kranke, mit Unterstützung durch einen Pflegedienst. Durch den Kontakt mit den Pflegerinnen keimte in ihr der Wunsch, noch einmal etwas ganz Neues zu beginnen: Sie entschloss sich, eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu absolvieren. Die anschließende Arbeit in der Diakonie war ein Seitenwechsel, ein krasser Gegensatz zur Bankwelt. „Hinter jeder Mauer sitzen oder liegen Leute, die ganz andere Probleme haben als diejenigen, die ich bisher kennengelernt hatte“, erkannte die Autorin. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen entstand die Autobiografie „Werde ich im Winter noch Blumen finden?“ (BoD, Norderstedt 2008, 452 S.). Neben ihren Erlebnissen inspirierte sie auch die Literatur Walter Kempowskis: „Ich habe alles von ihm gelesen“. Aber sollte sie die Autobiografie wirklich veröffentlichen, Getuschel in Kauf nehmen, eventuell Menschen vergrämen, die sich darin zu erkennen glaubten? Sie entschloss sich – und es war ein Befreiungsschlag, der sie auf Einladung des Goethe-Instituts bis nach Dallas brachte. Die Kempowski-Stiftung lud sie ein, 2009 im Haus Kreienhoop zu lesen. Einige Freundschaften zerbrachen, andere wurden gefestigt. „Ich wollte Frauen ermutigen, ihren Weg zu gehen“, so Brigitte Cleve.
Mit ihrer Autobiografie stellte Cleve die Weichen für ihre schriftstellerische Tätigkeit. Als Vorstandsmitglied des Vereins „Schriftsteller in Schleswig-Holstein“ erhielt sie eine Anfrage des Wartberg-Verlags: ob sie über ihre Wahlheimat Flensburg in den 40er und 50er Jahren schreiben wollte? Sie wollte – und führte zunächst Interviews mit vielen Flensburger Bürgern, recherchierte im Stadtarchiv. In Flensburg waren in der Nachkriegszeit viele Flüchtlinge angelandet, die geblieben und heimisch geworden waren und der Autorin ihre Geschichten erzählten.
Dem erfolgreichen Sachbuch (Aufgewachsen in Flensburg in den 40er und 50er Jahren, Wartberg Verlag, Flensburg 2011, 64 S.) folgte ein zweiter Band über die 60er und 70er Jahre in Flensburg (Aufgewachsen in Flensburg in den 60er und 70er Jahren, Wartberg Verlag, Flensburg 2013, 64 S.). Diese Recherchearbeit, die vielen Interviews, vor allem mit älteren Frauen, inspirierte Brigitte Cleve zu ihrem Roman „Meerraben“, dessen 72-jährige Protagonistin als Flüchtlingskind nach Flensburg gelangte. Hier ging die Autorin den nächsten Schritt, über die bloße Aufzeichnung der Geschehnisse hinaus siedelte sie eine fiktive Geschichte vor realem Hintergrund an – und wählte dabei gleich ein starkes Thema, das aufgrund der Flüchtlingsbewegung unserer Zeit sehr aktuell ist. Ihr erstes Faction-Werk kam nach anderthalb Jahren Recherche- und Schreibarbeit auf den Markt. Die Hauptfigur Lina Martens, die immer für andere gelebt hat, steht nach dem Tod ihres Mannes einsam und verschüchtert da. Durch das Wiedersehen mit einem Bekannten ihrer Jugendzeit wendet sich ihr Leben zu einem Neuanfang und einem späten Glück. Liebe im Alter, in unserer Gesellschaft ein nicht unbedingt präsentes Thema, ist das Motiv der fiktiven Geschichte; die Flüchtlingssituation gibt den faktischen Rahmen. Cleves Motivation für den Roman: „Den Punkt erwischen, sich durchzusetzen – egal, wie alt man ist.“
Sie ist nicht nur eine Vielschreiberin, sondern auch eine Vielleserin, und das schon ihr ganzes Leben. „Die Betrachtung der Zeit und des Krieges und was diese Erlebnisse mit den Menschen machen, wie lange die Menschen belastet sind“, erklärt die Autorin, „das berührt mich.“ Diese Betrachtungen finde sie in Gedichten von Mascha Kaléko und Ingeborg Bachmann, aber auch in Kurzgeschichten von Ernest Hemingway. Bei Brigitte Cleves Büchern gelingt der Zusammenhang des Erlebten mit dem Fiktiven in thematisch verschiedenen Bereichen. Aus dem Reisetagebuch einer Mittelmeerkreuzfahrt schrieb sie zunächst einen Reisebericht und später den Roman „Kreuzfahrt ins Herz“ (Martin Bühler Publishing, Bredstedt 2015, 180 S., und als E-Book), den sie aus der Perspektive eines Junggesellen auf der Suche nach Anschluss gestaltete. Seit 2008 ist eine Sammlung von Kurzgeschichten entstanden, die gerade in neuer, überarbeiteter Auflage erschienen sind („Haarnadelkurve“, Martin Bühler Publishing, Bredstedt 2016, 142 S., und als E-Book). Auch hier bleibt Cleve ihrem Genre treu; so basiert beispielsweise eine Geschichte auf ihrer Erfahrung mit Komapatienten, inspiriert von den Überlegungen, was in diesen Menschen, die sich nicht mitteilen können, wohl vorgeht.
Für die Konstruktion ihrer Figuren holt sich Brigitte Cleve Rat bei Psychologen und liest Fachtexte. So auch für ihr neues Projekt, an dem sie gerade schreibt. „Meine Protagonistin hat Flashbacks beim Ausräumen eines Hauses, das sie in ihrer Kindheit kannte. Sie hat dort Schlimmes erlebt, woran sie sich jedoch (zunächst) nicht erinnert.“ Welcher reale Hintergrund dem Roman den Rahmen geben soll, wird noch nicht verraten, nur so viel: Man darf sich auf ein immer wieder in den Medien präsentes und nicht ganz einfaches Thema einstellen, dem sich Brigitte Cleve in gewohnter Manier unerschrocken und gründlich widmet.