Ein Friesenkrimi vom Allerfeinsten

Bild von Peter Kraayvanger, Pixabay

Welkoam iip Lunn! Willkommen auf dem roten Felsbrocken, der wie eine von Riesenhand erschaffene Trutzburg aus der tosenden Nordsee herausragt. In seinem neuesten Buch mit dem etwas sperrigen vollständigen Titel „Das Helgoland, der Höllensturz oder Wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet, obgleich die Dreizehenmöwen hier mit Rosinen gegessen werden“ führt uns Reimer Boy Eilers ohne Umschweife hinein in das Leben auf Helgoland am Anfang des 16. Jahrhunderts. Seitdem hat sich das Gesicht der Insel fundamental verändert. Anno dunnemals bestand sie lediglich aus zwei „Etagen“, dem Unter- und Oberland. Das Mittelland lag noch in ferner Zukunft. Es wurde erst nach 1945 von den Engländern „kreiert“ bei ihrem vergeblichen Versuch, „Hell-Go-Land“ auf immer und ewig im Meer zu versenken. Noch einmal Glück gehabt, Halunder! Deus vult. Und auch der monumentale leuchtend weiße Kalkfelsen, einst neben der Langen Anna ein weiteres Wahrzeichen der Insel, existiert nicht mehr. Er wurde vom seinerzeitigen Landesherrn gegen klingende Münze verscherbelt.

Bigotterie und Spökenkiekerei
Reimer Boy Eilers

Der auf den Helgoländer Hummerklippen aufgewachsene Lyriker, Romancier und renommierte Reiseschriftsteller Reimer Boy Eilers gilt als intimer Kenner der Geschichte seiner Heimat. In seinem 570 Seiten starken Opus entwirft er ein von Bigotterie und Spökenkiekerei geprägtes Sittengemälde einer im Korsett mittelalterlicher Moralvorstellungen verharrenden Inselgemeinde. Wäre den Insulanern auch ein Mord zuzutrauen für den Fall, dass sich ein Außenstehender nicht an ihre starren, seit Urzeiten tradierten Regeln hielte?

Hals- und Beinbruch

Kaum hatte Kapitän Hans Andahlsen aus Amsterdam den Fuß auf das Oberland gesetzt, stürzte er von einer Treppe in die Tiefe und brach sich neben seinem Hals auch die Beine. Unfall oder Mord? Für den jungen Fischer und Robbenjäger Pay Edel Edlefsen und seinen Jagdfreund John Quivitoq McLeod, Esquimaux von der „Frostinsel“, genannt das „Menschenkind“, steht fest, dass der wackere Seemann einem Verbrechen zum Opfer fiel. Denn wozu sonst die Eile der Insulaner, ihn bei Nacht und Nebel in den „wilden Dünen“ inmitten der Wasserleichen auf dem Friedhof der Namenlosen zu verscharren? Was viel schwerer wiegt: Der Mann ging in die Grube ohne – horribile dictu – die Sakramente der Heiligen Kirche empfangen zu haben. Eine Höchststrafe für jeden Christenmenschen jener Zeit. Nichts Geringeres als ewige Verdammnis erwartete die arme Seele. Misericordia!

Gegen den erklärten Willen seines Vaters Boje Edlef, seines Zeichens Fischerhauptmann und hoch angesehener Ratsherr, beginnen Pay Edel und John ihre Recherchen, um den Tod des Holländers aufzuklären. Sie können sich keinen Reim darauf machen, warum der Hauptmann sich so vehement gegen ihr Vorhaben sträubt. Hat er etwas zu verbergen? Aber die beiden Hobby-Detektive lassen sich nicht einschüchtern und bohren mutig weiter. Sich gegen die Obrigkeit oder ihre Vertreter aufzulehnen, geht in der Regel böse aus. Die erste Lektion erhält Pay Edel, als ihm ein besonders hinterhältiger Zeitgenosse einen kräftigen Schlag  auf den Schädel verpasst. Gottlob ist Freund John zur Stelle, der ihm mit einer Pütz Seewasser wieder auf die Füße hilft. Soweit die Rahmenhandlung.

Familienaufstellung

Die Rezensentin bekennt, dass sie anfänglich von den sich überschlagenden Ereignissen und jenen für Nichtfriesen seltsamen Namen überfordert war. Daher geht ihr Dank an den Autor, der sich der Mühe einer akribischen Aufzählung sämtlicher Namen der handelnden Personen einschließlich ihrer Berufe oder gesellschaftlichen Stellung auf Seite 555 unterzogen hat. Da wird die gesamte Sippe der Edlefsens vorgestellt, die aufgrund der Position des Familienoberhauptes und ihres relativen Wohlstands neben der Familie des Gouverneurs zum Insel-Adel gehört. Heute würden wir von „Promis“ sprechen. Des Weiteren erfahren wir, dass „Menschenkind“ John neben seinem Beruf als Robbenjäger der Bursche des Gouverneurs ist. Und ganz nebenbei auch der Geliebte von Pay Edels Schwester Petrine Anna, genannt Trine. Genau wie heute gab es seinerzeit schon Untergangspropheten von der Sorte eines Pedder Reymers, der, weilte er heute noch unter uns, sicherlich erstaunt wäre, dass die Welt sich immer noch dreht. Ganz wichtig: Der Barbier und Alchimist Bard Frederichs fungierte sicherlich in Personalunion als Bader und Barbier, der sich ebenfalls als „Kusenklempner“ bewährte und wohl auch den Versuch unternahm, Gold aus Dünensand zu extrahieren. Es spricht für die Halunder, dass sie sich der zahmen Möwe Graumariechen annahmen, die sie zärtlich „Ole Rappsnut“ nannten. Die Liste wäre unvollständig, wenn der Klerus in Gestalt des Kirchherrn Neocurrus von St. Nikolai keine Erwähnung fände. Ob die Heilige Ursula mit ihren elftausend Jungfrauen überhaupt existiert hat, steht in den Sternen. Es gibt aber ein Gemälde von ihr, auf welchem sie milde auf die Gläubigen herabschaut. Dies war lediglich ein kurzer Einblick in die „Personalakte“. Der geneigte Leser möge sich bei der Lektüre zwecks besseren Verständnisses der Vorkommnisse eingehender mit ihr befassen. Mal so unter uns: Mancher Insulaner, der auf ersten Blick ganz harmlos wirkt, hat eindeutig Dreck am Stecken. Der aufmerksame Leser findet das bei der Lektüre schnell heraus.

Und so geht die Moritat weiter

Wir begleiten Pay Edel und John Kapitel für Kapitel weiter auf ihrer
Suche nach dem Mörder oder den Mördern des holländischen Kapitäns Hans Andahlsen. Bis zum Showdown zieht sich die Geschichte noch eine Weile hin. Beide müssen noch eine Strecke eines nicht ungefährlichen Weges zurücklegen. Allgegenwärtig sind Rasmus und Klabautermann, zwei von Seeleuten im höchsten Maße respektierte Meeresgeister, die, wie jeder von ihnen weiß, launisch und manchmal sogar bösartig sein können. Aber auch freundlich und verständnisvoll. Je nach Wetterlage. Wer Wind und Gezeiten erbarmungslos ausgeliefert ist, muss stets auf der Hut sein. Aber auch auf festem Boden lauert Unheil von Landsknechten, die nichts Gutes im Schilde führen, sowie anderen Spitzbuben und Räubern, die überall ihr Unwesen treiben. Und dies, obgleich Klaus Störtebeker, der Berühmteste der Zunft, bereits tot ist. Im Jahre des Heils 1401 verlor er seinen Kopf auf dem Hamburger Grasbrook, nachdem hanseatische Pfeffersäcke ihn und seine Likedeeler zur Strecke gebracht hatten.

Ende gut – alles gut?

Bevor das Verbrechen an Kapitän Andahlsen endgültig aufgeklärt ist, wartet die Nordsee, die Mordsee noch mit einer Reihe infernalischer Stürme und anderer Unbill auf. Doch die Mühen der beiden Spürnasen Pay Edel und John haben sich gelohnt. Die am Ende festgenommenen Missetäter werden in Ketten abgeführt. Die Moral von der Geschicht‘: Verbrechen lohnt sich nicht.

Und so widerfährt dem gemeuchelten Kapitän am Ende doch noch Gerechtigkeit. Er erhält unverzüglich ein christliches Begräbnis. Requiescat in pace. Friede seiner Asche. Aniken Frederichs, genannt „die reine Seide“, die ihr süßes Geheimnis so lange hütete, bekommt ihr Erbstück in Form des Hutes von Kapitän Hans Andahlsen. Er wird der ledigen Mutter mit den gar nicht freundlichen Worten überreicht: „Es gehört nun ihrem Bastard.“ Hatten aufgeweckte Leser in dem forschen Seemann nicht schon früh einen Schwerenöter vermutet?

Eine letzte drängende Frage: Was wurde aus unseren beiden Helden, die trotz aller Hindernisse den brisanten Fall um den holländischen Kapitän lösten? Das, liebe Leser, müssen Sie nun selbst herausfinden, indem Sie diesen tollen Wälzer bis zum Schluss konsumieren. Viel Spaß bei der Lektüre!

Epilog

Dieser Krimi gehört nicht in die Schublade der herkömmlichen „Whodunnits.“ Das trotz aller Dramatik mit einer gehörigen Portion Humor gewürzte Buch zeichnet sich vor allem durch einen heute nur noch selten zu findenden wohlklingenden sprachlichen Duktus aus. Besonders gelungen sind die Naturbeschreibungen. Eine Kostprobe: „Von Westen rollen die immergrünen Wogen gegen die Insel. Sie peitschen die Klippen und zermürben den Felsen, der ihnen alljährlich seinen Tribut zollt. Ein Stück bricht ab und stürzt in die Flut. Dort vollendet die mahlende See ihr Werk.“

Des Weiteren verhelfen die zahlreichen eleganten Grafiken und Sinnsprüche, die jedes Kapitel einleiten, zu einem besseren Verständnis dieses sehr komplexen Werkes. Die meisten der Verse sind in friesischer Sprache verfasst. Keine Angst – die hochdeutsche Übersetzung steht gleich darunter. Die Rezensentin hat bei der Lektüre versucht, die Texte im Original zu verstehen, bevor sie in vielen Fällen auf die Übersetzung zurückgreifen musste. Dies war eine Hommage an ihre geliebte friesische Großmutter Dede Wolff, die sich mit ihren Geschwistern stets in ihrem heimatlichen Idiom unterhielt.

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Das Helgoland, der Höllensturz

Reimer Boy Eilers: Das Helgoland, der Höllensturz oder Wie ein Esquimeaux das Glück auf der Roten Klippe findet, obwohl die Dreizehenmöwen hier mit Rosinen gegessen werden, Kulturmaschinen Verlag, 2019