Von Hans-Peter Kurr; Fotos: Pressestelle Deutsches Schauspielhaus
Heureka, möchte der Chronist rufen, es ist gelungen! Das Deutsche Schauspielhaus zu Hamburg hat nach Monaten der – weitgehend unverschuldeten – Krise die ihm zustehende Spitzenposition wieder eingenommen. Es sollte noch katastrophaler um die derzeitige Regierungsmannschaft im Hamburger Rathaus bestellt sein, als bisher angenommen, käme jetzt noch irgendjemand auf die Idee, Deutschlands wichtigstes Schauspielhaus weiterhin wirtschaftlich ( und damit künstlerisch!) zu malträtieren.
Soweit zur Situation. Und nun zur Kunst:
Zwar will es sich auf den ersten Blick nicht recht erschliessen, warum sich dieser, offensichtlich sportlich gestählte und gesunde König Lear in der Personifierung Markus Johns, der anfangs den Hof mit Aktivitäten verblüfft, die man früher „Leibesübungen“ nannte, auf sein Alteneil zurückziehen möchte, und minutenlang blitzt während der später umjubelten Premiere die Frage auf, warum nicht der ältere Michael Prelle seine unglaubliche schauspielerische Präsenz, die er an diesem Abend in die Figur des Gloucester investiert, dem Lear leihen darf .
Der Gedanke verschwindet allerdings wieder, sobald John nach der Vertreibung seiner jüngsten Tochter Cordelia die Möglichkeit hat, psychologische Detailfreude zu zeigen. Es ist hier zu bezeugen, welch ungeheuer feinsinnige, tiefenpsychologisch zu nennende, Charakterstudie dieser „Riese“ zuwege bringt. Er erinnert – halten zu Gnaden – an den grossen Hermann Schomberg , der, jahrzehntelang, auf dieser Bühne brillierte und – trotz seiner dreieinhalb Zentner Körpergewicht – der am deutlichsten verhungerte Vater Moor in Schillers „Räubern“ war, den man je hier sterben sah.-
Der Nestroy-Preisträger Georg Schmiedleitner inszenierte in der dichten Überetzung Rainer Iwersens, aus der die stählerne Härte des Wortes gleich einem Dolchregen auf uns herniederprasselt, mit überbordender szenischer Phantasie diese finstere Tragödie um den König, “ an dem mehr gesündigt wurde, als er sündigte“,und das – wie zu Shakespeare’s Zeiten – ohne jedes illustrierende Bühnenbild. Über dem gesamten erschütternden Ablauf steht lediglich an einer haushohen Wand, dasjenige Wort geschrieben, das Cordelia spricht, als der Vater ihre Liebeserklärung abfordert: NICHTS ! Alles andere ist auf die phantasmagorische Fähigkeit des Spielleiters und das Können der grossartigen Schauspieler-crew gestellt.
So wird verbal , mit Gift und Handwaffen gemordet, am Ende liegen alle, auf dem Blachfeld der Rache- und Vernichtungsschlacht dahingerafft, ausgebreitet. Nichts wirkt naturaliter, alles ist – stilistisch – desillusioniertes Theater, das Vorgänge verdeutlichen und nicht wohliger oder gruseliger Gefühlswelt Vorschub leisten will. Aber der Regisseur nimmt Shakespeare immer wörtlich: Im Sturm auf der Heide zum Beispiel, wo es regnet “ wie aus Eimern“ , so der Volksmund, übergiessen sich Lear, Narr, Kent und Edgar literweise mit Wasser aus Plastikeimern.-
„König Lear“ hat in Hamburg eine lange Aufführungstradition: Vor etwa 250 Jahren inszenierte der damalige Intendant des „Hamburgischen Nationaltheaters“, Friedrich- Ludwig Schröder das Werk im Haus auf dem Gänsemarkt (, allwo Lessing seine „Hamburgische Dramaturgie“ schrieb ) , aber die Augenblicke tiefster Erschütterung unter dem Motto „Was Fliegen sind den müß’gen Knaben, sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spass“ konnte er ebensowenig textgetreu spielen lassen wie Gloucesters Sterbeszene : „Dulden muss der Menschen seinen Abschied von dieser Erde wie seine Ankunft. REIF SEIN IST ALLES!“. Auch die schuldlose Cordelia musste in jenen Tagen am Leben bleiben, nur der sterbende Vater hält sie in seinen Armen für tot. Der Literaturpapst des 20. Jahrhunderts, Friedrich Gundolf, ´schreibt über diese frühen Tage der Shakespare-Adaption für die deutsche, also auch die hamburgische, Bühne: „Das wohlige Mitgruseln lag im Bereich des deutschen Publikums, aber den Gemüts- und Nervenkitzel, den Lears und Cordelias Leiden erregten, wollte es nicht erkaufen durch den Augenblick eines Weltuntergangs.“
Die ( uns weitgehend unbekannten) Leiden des 42-jährigen Shakespeare, der den „ Lear“ schrieb, sind aber ein Gleichnis für die eisige Einsamkeit des Menschen in einer – scheinbar – von Gott verlassenen Welt. Und genau das zeigt Schmiedleitners dreieinhalbstündige Inszenierung sehr deutlich.Zugunsten der Schlussklage Albaniens wird nur sein Angebot an Kent und Edgar, eine Doppelregentschaft zu initiieren, wenig klar. Alle anderen Sequenzen sind nicht nur kristallen herausgearbeit, sondern auch mit der oben beschriebenen szenischen Phantasie des österreichischen Spielleiters gewürzt. Wie Kent zum Beispiel in den „Block“ gesetzt wird, das ist in seiner Originalität sehenswert.
Wäre es aus Platzgründen möglich, verdiente jedes einzelne Mitglied dieser wundersam geschlossenen Ensembleleistung eine individuellen Würdigung. Eine Figur sei dennoch besonders genannt: Jana Schulz’s Narr. Der hochbegabten, aus Bielefeld stammenden, Darstellerin, die das Ensemble des Schauspielhauses seit längerer Zeit ziert, gelingt eine höchst intensiv-lomödiantische Studie des närrischen Hauptthemas „Kann’s nicht ein Esel merken, wenn der Karren das Pferd zieht?“ Noch bemerkenswerter ist der dieserart bei Shakespeare nicht vorgesehene Tod des Narren. Die Entscheidung darüber geht offenkundig auf das Konto von Regie und Darstellerin:
Als der eisige Hauch des blind im Heidesturm , metaphorisch, zuschlagenden Schicksals zu gross wird, begibt sich die scheinbar winzige Figurdes Narren gross und erhaben in den Freitod, der in seiner Darstellungsintensität auf menschliche Sinne nahezu unerträglich wirkt.Gern vergisst der Chronist dadurch seine Sehnsucht,endlich einmal wieder der bei Shakespaere geübten Tradition, Cordelia und Narr von einem Darsteller (, dazumal durch Eleven, heutzutage selbstverständlich weiblich besetzt) gespielt zu sehen (, denn die Rückkunft der jüngsten Tochter aus Frankreich macht ja, äusserlich, nicht dramaturgisch betrachtet, des Narren Tod notwendig!) ebenso wie die Beantwortung der Frage, warum in dieser prächtigen Inszenierung ein derartiger „Kostüm-Mix“ zwischen gestern und heute herrschen muss……
Fazit: Ein grosse Theaterabend mit grossen Hauptdarstellern und einem wundervollen Ensemble in den gestalterischen Händen eines höchstfähigen Regisseurs. Das Schauspielhaus hat den ihm gebührenden Rang zurück!