Von Hans-Peter Kurr
Pollesch-Uraufführung zur Spielzeiteröffnung des Deutschen Schauspielhauses
Wenn René Pollesch sich am Ende des kurzen Uraufführungs-Abends seines aktuellen Stückes „Neues vom Dauerzustand“ mit dem Ensemble vor dem Premierenpublikum verbeugt (, weil er das eigene Werk auch selber inszeniert hat!), fällt ihm die Brille von der Nase.
Die Folge: Er sieht nichts mehr!
Er klaubt sie vom Boden, setzt sie wieder auf die Nase und verbeugt sich nur noch halb und steif. Die Folge: Lacher im Publikum!
Genauso verläuft die Premiere der genannten Uraufführung: Wirr, laut, undurchschaubar, überraschend, grotesk, ungewohnt, intellektuell anspruchsvoll, gleichermaßen anstrengend inbezug auf die Rezeption wie auf den Versuch, eine Geschichte zu erkennen, zuweilen unerwartet komisch, heftig komödiantisch und das Ganze ohne beschreibbares Ende ( Zutreffender Kommentar eines Premierenzuschauers. „Toll! Und jetzt noch einmal von vorn…..“)
Eine Handlung ist nicht zu erzählen, denn im traditionellen Sinne gibt es keine solche.
Zu berichten ist aber zunächst und zuvörderst von der uns in Hamburg seit ihrer Zusammenarbeit mit Pollesch am Schauspielhaus bekannten und geliebten Schauspielerin Sophie Rois, die am Tag der Premiere von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gekürt worden ist. Gratulor!
Was geschah noch an diesem Abend an der Kirchenallee? :
Zum ersten Mal konnten Hamburgs Theatergänger das eigens für die Umbauzeit im Deutschen Schauspielhaus konstruierte „Spielfeld“ begutachten, phantasievoll geschmückt durch Bert Neumanns Szenenbild,in dem sich der ehemalige Fassbinder-Star („Bremer Freiheit“ etc.) Margit Carstensen tapfer durch schier endlose Monologe kämpfte, die hübsche, aber nicht sehr modulationsfähige Leonie Hahn sich mühte, neben der überbordend temperamentvollen und genialisch ausdrucksstarken Sophie Rois zu bestehen, deren Partnerin, Christine Groß jener in anstrengenden Dialogen zum zentralen Thema Liebe ebenbürtig zur Seite stand, darüber hinaus einen Chor junger Leute mit bewundernswerter Präzision und stärkster Unisono-Disziplin einstudiert hat.
Die farbige Reihe der von der Interimsleitung des Deutschen Schauspielhauses in Auftrag gegebenen Uraufführungen hat René Pollesch mit seiner Truppe ebenso spannend wie rätselhaft eröffnet. Sein Premierenpublikum reagierte darauf mit begeistertem Applaus, der sich bis zu „Bravo“-Rufen steigerte. Nach 70 Minuten war der Spaß vorüber, und es blieb genügend Zeit, nachzudenken über den Dauerzustand unserer Welt, beschrieben in Texten von Pollesch bis Adorno.
Die nächsten Vorstellungen auf dem „Spielfeld“ im Grossen Haus finden statt ( Jeweils um 20.00 Uhr) am 15. und 23. September, 8., 20. und 25 Oktober sowie am 6. November
Foto: Kerstin Schomburg