Von Dr. László Kova
Soumi, sage ich leise und wiederhole: Soumi. Das Wort klingt in meinem Ohr wie ein Mädchenname, zart, zärtlich. Dann schließe ich meine Augen, da ich alles mythosartig erleben möchte, ich möchte mich in einen unwahrscheinlichen Traum versetzen: Die ganze Reise mit den Sinnen erleben. Dabei höre ich nicht mehr das gleichmäßige Summen der uns schiebenden Turbinen; das köstliche Angebot der schönen Stewardesse nehme ich auch nicht mehr wahr. Ja, mein Versuch scheint zu gelingen. Allmählich glaube ich, vor mir die tausend Seen dieses naturschönen Landes zu sehen. Dann wandere ich in der Zeit zurück und lande an dem Wolga-Knie, wo das Volk Soumi lebte. Sie fischten und jagten; Erwachsene, Jugendliche und die Lütten waren mit dem Überleben rege beschäftigt. Sie schwammen und fuhren selbstgebaute Boote, ritten schnelle Pferde.
Oh, so ein romantisches Leben, sagen wir heute. Das ist vollkommen falsch. Hätten die Menschen diesen Begriff damals gekannt, hätten sie sicherlich heftig dagegen protestiert. Das Beschaffen der Nahrung war ein knochenharter Kampf und häufig lebensgefährlich. Aber es gab in den Flüssen genügend Fisch, in den Wäldern und auf den Wiesen ausreichend Wild.
Da in der Nähe lebten Ungarn in vielen Stämmen. Sie sind mit den Finnen nicht verwandt, aber ihre Sprachen.
“Tatsächlich”, bestätigt meine Frau, die aus Polen stammt und weder Finnisch noch Ungarisch versteht: “Spricht jemand Finnisch, glaube ich, das Ungarische zu hören.”
“Das machen die Wort- und Satzmelodien. Unsere Sprachen sind so unterschiedlich, dass wir uns nicht mal zufällig verstehen,” sage ich zu ihr.
Zwischenzeitlich landet unsere Maschine auf dem Flughafen in Helsinki, so sanft, dass wir den gewöhnlichen Ruck der Piste nicht spüren. Den modern gebauten Flughafen verlassen wir in Windeseile, wir belegen das Hotelzimmer und machen von Neugier getrieben den ersten Spaziergang in der Hauptstadt.
Es ist hier eine Hitze, eine seltene Hitze, wie es in diesem Sommer auch bei uns in Hamburg, aber sonst nur in Rom ist.
Am Abend, es ist nicht zu glauben, scheint sich die Sonne nicht zur Ruhe legen zu wollen. Um Mitternacht ist es zwar dämmerig, aber es bleibt etwa so. Wir sind Zeuge des nicht enden wollenden Tages. Länger können wir nicht auf die Nacht warten, wir begeben uns vor Müdigkeit zu Bett.
Blick auf den Hafen in Helsinki
Danach folgen Tage mit langen, ermüdenden Spaziergängen, um die Stadt Helsinki zu entdecken. Und alles immer zu Fuß, mit unseren eigenen Sohlen tasten wir die Geschichte und Kultur dieser netten, hilfsbereiten Menschen ab. Wir verweilen im Hafen, wo Schiffe von weit her mit vielen Passagieren ankommen, von wo aus große “Blechtrommeln” in Richtung des weit entfernten Horizonts fahren. Flinke Möwen kreisen über uns; uns, den Fremden ihre Flugkunst demonstrierend.
Die russisch-ortodoxe Uspenski-Kathedrale im Hafen
Da hinten, auf dem felsigen Hügel erhebt sich die russisch-orthodoxe Uspenski-Kathedrale mit Zwiebeltürmen, um die alten Zeiten zu vergegenwärtigen. Nach unseren Entdeckungsgängen ruhen wir uns oft auf den steilen Treppen vor der Kathedrale am Senatsplatz aus, wo wir zwischen diskutierenden, musizierenden Studenten sitzen, die ihre Pausen auch hier verbringen.
Die Kathedrale am Senatsplatz …und etwas später
Unser weitester Fußmarsch bringt uns zum Denkmal von Jean Sibelius in eine riesige Parkanlage. Müde setzen wir uns im Schatten der Bäume hin, und in der angenehm kühl wehenden Brise glauben wir sein großes Werk die “Finnlandia” zu hören.
Der finnische Komponist Jean Sibelius
Seine Musik ist unser ständiger Begleiter, gleich in welchem Stadtteil wir uns befinden. Abends können wir von den Strapazen oft nicht einschlafen, wir greifen nach Büchern, und abwechselnd lesen wir einander etwas vor. Diesmal lesen wir nicht in der Kalevala, dem finnischen Mythos, das haben wir schon zu Hause getan, sondern aus der Dichtung des größten finnischen Schriftstellers, Aleksis Kivi. Mal rezitieren wir aus seinem Gedichtband “Heidekrautland”, mal lesen wir in dem heute immer noch gespielten Theaterstück “Heideschuster”, mal blättern wir in seinem Buch “Sieben Brüder”, das der erste finnischsprachige Roman ist.
Wir besuchen ihn auch, genauer gesagt sein riesiges Mamordenkmal vor dem Nationaltheater, unweit vom Hauptbahnhof. Mit ein paar Fotos nehmen wir ihn in unsere Reisenotizen auf.
Aus einem Museum raus, in ein Anderes rein. Unermüdlich. Innerhalb einiger weniger Tage müssen wir alles schaffen. Touristenschicksal!
Pennti Kaskipuro: Onions, Radierung, 1984
Im Museum für Finnische Kunst sind wir verwundert. Das geschah uns im Museum für Zeitgenössische Kunst nicht, wo “moderne, bzw. supermoderne Kunst” gezeigt wird. Aber das macht nichts, man entwickelt sich vielleicht noch, und dann fliegt man gezielt z.B. von Hamburg nach Helsinki, um dann im Museum für Zeitgenössische Kunst für teuren Eintritt die Schönheit von Müll und Abfall zu genießen. Ich bin noch nicht so weit, meine Frau “leider” auch nicht. So stöbern wir lieber im Reich der bewehrten Kunst, die unser traditionsreiches Kunstempfinden bereichert. Wir suchen nicht nach verrückten Sachen, sondern nach Bildern und Skulpturen, die klassische künstlerische Fertigkeiten aufweisen. Im Raum der Drucktechniken fallen mir schwarzfarbige Grafikblätter auf, die äußerst sorgfältig hergestellt worden sind. Die Feinheit der Grauabstufungen ist so differenziert, dass ich nach meinem Rundgang wieder zu diesen Blättern zurückkehre und sie erneut bewundere. „Ein wahrer Meister muss dies gemacht haben,” sage ich zu meiner Frau, die diese Stillleben auch faszinieren. Und dann sehen wir ähnliche Arbeiten von demselben Künstler in der Galerie G, wobei “G” Grafik bedeutet. In der Tat, diese Arbeiten sind Meisterwerke.
Pennti Kaskipuro: One and half gherkins, Radierung, 1978
In unserem Hotelzimmer greife ich nach dem Telefonbuch und suche nach dem Künstler der Radierungen, nach Pennti Kaskipuro. Meine Beharrlichkeit wird belohnt: Mit einem Anruf lande ich bei ihm im Atelier. Zunächst sprechen wir Englisch, später Deutsch. Der 70jährige Meister kann mich leider nicht empfangen, er ist krank. Wir lernen uns dennoch kennen, der Meister spricht langsam, hat aber doch Kraft, mir viel über seine künstlerische Laufbahn, über seine Erfolge und seine guten Studenten zu erzählen.
Pennti Kaskipuro: Egg and shell, Radierung, 1975
Auf seine Genesung kann ich leider nicht warten, am nächsten Tag muss ich schon nach Hamburg zurück. Ein paar Tage nach meiner Ankunft überreicht mir der Postbote ein Päckchen aus Helsinki: Pennti Kaskipuro, sein Lebenswerk in zwei Bänden.
Eifrig blättere ich immer wieder in diesen Büchern, in denen sich sein volles künstlerisches Schaffen ausbreitet.
Pennti Kaskipuro: Three potatoes etc., Radierung, 1971
Immer wenn ich diese Bücher anschaue, wird in mir der Wunsch stärker, diesen Künstler bei der Arbeit zu beobachten. Ich bin sicher, ich werde bald wieder nach Helsinki fliegen.