Kostbare Zeit

erschienen im Hamburger Abendblatt m 13. August 2011

Von Johanna R. Wöhlke

 

Es gibt viel zu loben in dieser Welt. Es gibt viel zu kritisieren in dieser Welt, immer wieder. Das ist keine Frage. Wo fangen wir an, wo hören wir auf! Versuchen wir mal die Quadratur des Kreises und verbinden Lob mit Kritik! Das geht nicht, meinen Sie? Aber natürlich geht das, das geht sogar perfekt!

Da ist zum Beispiel die Frau, die gerade auf ihren Bus wartet. Er ist verspätet und – das kann sie an einem digitalen Schild an der Bushaltestelle ablesen. Es sind genau 11 Minuten, so steht da. Nun weiß sie also, dass sie noch elf Minuten auf den Bus wird warten müssen. Ich lobe. Gleichzeitig denke ich: Welch ein Service auf hohem Niveau! Wir in diesem Teil der Welt können uns diesen Service leisten.

Da stehe ich am Geldautomaten meiner Bank und möchte Geld abheben, diesmal ein klein wenig mehr. Das geht nicht, „sagt“ der Automat sinngemäß – er hat kein Geld mehr. Ich muss in die Bank und mit dem mir schon lange nicht mehr bekannten Personal Kontakt aufnehmen. Meine Summe wird freigeschaltet, in 8 Minuten verfügbar.

Das ist doch wunderbar: Meine Bank schenkt mir 8 Minuten Zeit zum Nachdenken, Träumen, Unterhalten mit Passanten. Das ist nun wirklich lobenswert. Andererseits – seien wir ehrlich – hätte ich diese acht Minuten lieber dem Busfahrer geschenkt und dann wäre die Verspätung auf 3 Minuten geschrumpft. Ja, man kann beim Warten auf unlogische Gedanken kommen!

Zeit, Zeit, Zeit – wir „managen“ sie perfekt, unsere Zeit. Dann schmeißen wir sie als Luxusgut wieder zum Fenster hinaus, wie es uns gefällt. Diese Freiheit nehmen wir uns. Das ist unser Recht. Wenn die anderen uns unsere Zeit „stehlen“, reagieren wir sauer. Wenn wir sie uns selbst stehlen, ist alles erlaubt. Wollte ich loben und kritisieren? Ich wollte nur ein ganz klein wenig Ihrer kostbaren Zeit mit Gedanken über Zeit anfüllen – das war schon alles und, wie ich finde, natürlich sehr lobenswert!