Von Maren Schönfeld
Auf dem antiken Konsolentisch steht ein Bild von Walter Kempowski mit einer Teetasse in der Hand. Neben dem Bild eine Kerze, die Hildegard Kempowski immer dann anzündet, wenn sie im Teepavillon sitzt, vor sich den Buchständer auf dem runden Tisch und mit einem Buch wie das von Lutz Hagestedt, in dem sich Texte wie „Die lakonischen Gedichte Kempowskis und die Lyriktheorie Benns“ finden. Dass sie nur noch lesen möchte, sagt sie manchmal. Und in den Garten schauen: Der Ausblick in die großen Büsche, das Vogelhaus vor dem Fenster. Die große Freude, die Vögel zu beobachten, aber dazu ist nicht viel Zeit im Haus Kreienhoop, in dem sich Literaturinteressierte und Schreibende begegnen können. Walter Kempowski hat es selbst geplant und sich „darüber genauso viele Gedanken gemacht wie über jeden meiner Romane“. Draußen am Zaun im Schaukasten wird zum spontanen Klingeln eingeladen. Die vordere Tür ist nicht abgeschlossen. Unversehens steht man im Flur der Hausherrin gegenüber, die gern mal eine Szene aus einem Kempowski-Roman anspricht. „Aus welchem war das noch gleich?“ Gäste werden durch das ganze Haus geführt, sehen keine museale Welt, sondern das aktuelle Lebensumfeld dieser Frau, die nicht zum Thema macht, wobei man sie gerade gestört hat. „Was haben Sie denn von Kempowski gelesen?“ Da hängen Familienbilder an der Tür, die Wäsche weht neben dem Hühnergehege im Wind. Gäste dürfen Bücher aus den Regalen nehmen, wenn sie versprechen, sie wieder richtig einzuordnen. Ob man hier mal übernachten möchte? „Kommen Sie doch mal für eine Woche oder zwei! Dafür ist das Haus doch da!“, sagt Frau Kempowski resolut. „Ich will hier ja nicht alleine leben.“
„Alles, was ich bin, bin ich durch Walter“, antwortet sie, wenn man sie fragt, wo sie eigentlich stand und steht neben dem Schriftsteller. Und: „Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung.“ Das könnte man für Understatement halten, wenn man sieht, was sie liest, womit sie sich beschäftigt, was für ein wacher, zeitgenössischer Geist sie ist. Aber es ist kein Understatement, sondern passt zu einem Menschen, dem jede Selbstdarstellung fern liegt.
Im Haus Kreienhoop gibt es keinen Anrufbeantworter und keine Plastikdosen, dafür mehrere Geschirrservice und Stoffservietten mit Serviettenringen. Übernachtungsgäste bekommen für die Dauer ihres Aufenthalts einen silbenen Serviettenring mit gemangelter Serviette aus Damast. Geputzt wird mit umweltfreundlichen Mitteln, gekauft auf dem Wochenmarkt. Hildegard Kempowski ist ein „Käsefan“ und manchmal ist es ein Segen, wenn plötzlich ein paar Gäste auftauchen und beim Essen der vielen Sorten helfen. In der Abendrunde im Innenhof lässt sie sich aus den Arbeiten der jungen Hildesheimer Stipendiaten vorlesen, die im Haus einen Schreibaufenthalt verbringen. Ihrer Miene ist weder Miss- noch Gefallen abzulesen. Sie sagt nicht viel, fragt manchmal etwas, aber alle merken an ihrer Konzentration, dass sie genau im Thema ist. Die Gäste vertiefen sich in ein lebhaftes Gespräch und vergessen dabei die Gastgeberin, bis diese unvermittelt aufsteht: „Ich gehe jetzt ins Bett, gute Nacht!“ Es ist stimmig, dann zusammen zu bleiben, auch bis spät in die Nacht, während sie oben unter dem Dach im kleinsten Zimmer des Hauses schläft.
Spaziergänge mit dem Hund, das riesige Anwesen mit dem Gärtner in Schuss halten, immer noch Manuskripte von Walter korrekturlesen, die zur Veröffentlichung anstehen, Veranstaltungs- und Belegungsplanung und immer wieder die ein- und ausgehenden Menschen begrüßen, das Haus erklären, das Werk Kempowskis vorstellen und, vor allem, bei den Literaturnachmittagen und Spontanbesuchsrunden aus Kempowskis Büchern vorlesen, was sie fast akzentuierter und betonter, ironischer vollbringt als ihr verstorbener Mann selbst. Sie kann auch unwirsch werden, auf Distanz gehen, eine barsche Antwort geben, z. B. wenn Leute gar nichts von Kempowski kennen oder nervende Fragen stellen wie, wer denn hier Staub wischt bei dem ganzen Glas.
Ob sie auch schreibe? „Na, das fehlte ja noch!“
Früher war sie im Hintergrund dieser Organisation Kreienhoop mit Kempowskis Literaturseminaren, wenn 70 Gäste kamen, heute ist sie die Hauptperson und will es nicht sein. „Walter ist immer hier, in seinen Büchern, in diesem Haus“, sagt sie – und wirklich glaubt man, er käme jeden Moment aus dem Büchergang.
Wenn nur ein Gast da ist, lädt Hildegard ihn in den Teepavillon ein. Zu zweit kann man sich mit ihr in vielfältigen Gesprächen verlieren, „verquatschen“, wie sie sagt. Starker schwarzer Tee in der silbernen Kanne, Kluntjes und Sahne mit Löffel im Kännchen. Vor dem Fenster die Vögel im Vogelhaus, das Licht wird dämmerig. Plötzlich sagt sie: „Punkt. Nun machen wir Pause und ich gehe mit dem Hund.“ Gleich kann man sie am Pavillon vorbeigehen sehen. Sie lernt Gedichte auswendig, um sie auf ihren Spaziergängen herzusagen. Auf dem Beistelltisch liegt das Buch, in dem sie gerade liest, oder ein Manuskript. Nachher wird sie wieder hier Platz nehmen und sich der Lektüre zuwenden. Wenn kein Besuch kommt.