Text und Fotos: Maren Schönfeld
Am 11. Oktober hat Roswitha Quadflieg in der Ausstellung „Ansichtssache“ (Kunstforum der GEDOK Hamburg) aus ihrem Buch „Das kurze Leben des Guiseppe M.“ gelesen und das Projekt vorgestellt. Verarbeitet Hanna Malzahn Urbanität aus ganz verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Entstehungsarten bildlich, so bringt Roswitha Quadflieg mit ihrem der Reportage nahen Buch eine (An-)Sicht auf die Geschehnisse in einer Großstadt – Berlin – ein, die Fragen aufwirft und betroffen macht: Welche Seiten hat die Stadt, von denen wir nichts mitbekommen? Welche Rolle spielen Parallelgesellschaften, die sich gebildet haben und derer die Politiker sich eher nicht annehmen? Wie ist es möglich, dass in unserer aufgeklärten Gesellschaft derart archaische Gewalttaten passieren, und zwar ständig?
Als die Autorin aus den Medien erfuhr, dass ein junger Mann zu Tode gekommen war, weil er von zwei anderen jungen Männern gehetzt wurde, dachte sie an den plötzlichen Unfalltod ihres jüngsten Bruders. Wie es sich anfühlt, plötzlich einen geliebten Menschen zu verlieren, hatte sie selbst zu spüren bekommen, auch wenn ihr Verlust nicht durch ein Verbrechen begründet war. Sie ging deshalb zu einer Zusammenkunft, initiiert von der Familie des Opfers, bei der Laternen entzündet wurden. Dort kam ihr die Idee, über den Vorfall zu schreiben. Denn Nachrichten, die wir täglich hören, rauschen so vorbei und berühren uns nicht. Sie berühren uns erst, wenn es um Menschen geht, die wir kennen. Dann ist das Geschehen plötzlich ganz nah. Quadflieg wollte den Opfern eine Stimme geben. Das ist ihr wahrlich gelungen.
Mit Unterstützung der Mutter des Guiseppe M. befragte sie Familienmitglieder, Freunde und Lehrer, führte einfühlsame Gespräche ohne Aufnahmegerät, schrieb Erinnerungsprotokolle. Zwanzig Stimmen kamen zusammen. Aus der ersten Idee, ein Hörspiel zu schreiben, ergab sich die thematische Struktur, aus der die jetzt vorliegende Collage entstand. Der Versuch, auch mit dem Täter zu sprechen, scheiterte an dessen Ablehnung; seine Nachricht auf Roswitha Quadfliegs Anrufbeantworter fand indes Eingang in das Buch.
Die Autorin tritt ganz hinter den Stimmen ihrer Gesprächspartner zurück, ihr Verdienst besteht in der sorgfältigen Recherche, Komposition und Strukturierung des Buches. Nur in der schmalen Nachbemerkung bezieht sie Position und gewährt Einblick in ihre Motive: „Nicht nur Guiseppe und sein kurzes Leben, sondern das Lebensgefühl einer jungen Generation, Gedanken über Immigration und Integration, über Täter und Tat, über den Tod, kommen hier ‚zu Wort‘.“ (S. 114)
Die Autorin erzählte und las vor, unaufgeregt und sachlich, aber sichtlich berührt und innerlich beteiligt. Im anschließenden lebhaften Gespräch mit den Gästen kamen Fragen über gelungene oder nicht gelungene Integration und Parallelgesellschaften auf, die zeigten, dass das Thema hochaktuell ist; auch wenn der Tod Guiseppe M.s bereits sechs Jahre zurückliegt. Die Opfer- und Täterbetrachtung seitens der Justiz stieß sowohl bei Quadflieg als auch beim Publikum auf Unverständnis, denn die beiden Verfolger kamen mit Bewährungsstrafen davon.
Eigentlich nach Berlin gegangen, um dort „Kultur zu machen“, fand sie sich im Rahmen der Recherchen in einer Seite der Großstadt wieder, zu der sie vorher keinen Zugang gehabt hatte: junge Leute mit Migrationshintergrund, die in einer ganz anderen Welt lebten als sie. Sie habe sehr viel gelernt durch das Projekt, so die Autorin, halte bis heute engen Kontakt zur Familie und kümmere sich aktuell um ein geflüchtetes Mädchen aus Kuweit.
Bei einer Lesung mit verteilten Rollen in einem Gymnasium nahe dem damaligen Tatort beeindruckten die Schüler Roswitha Quadflieg mit der Intensität, mit der sie sich die Geschehnisse zu eigen machten. Einige Schüler waren kurz zuvor mit Sterbefällen in ihrem eigenen Umfeld konfrontiert worden und konnten sich sehr gut in die Gefühlslage der Opferfamilie hineinversetzen. Dass dieses Buch nicht längst Eingang in den Schulunterricht gefunden hat, ist nicht zu begreifen. Es wirft Fragen auf, die zu diskutieren wir in einer demokratischen und sozialen Gesellschaft aufgefordert sind. Dabei verzichtet Roswitha Quadflieg auf Polemik und andere fragwürdige Methoden zum Erheischen von Aufmerksamkeit, und gerade das macht dieses Projekt so eindrücklich. Wer das „Echolot“ von Walter Kempowski kennt, könnte „Das kurze Leben des Guiseppe M.“ als Ergänzung, Fortführung in der Gegenwart verstehen; nicht zuletzt, weil Quadflieg mit dem angehängten „Kalender der Gewalt“ (S. 116) über den Zeitraum von drei Jahren – bis zum dritten Todestag des Opfers Guiseppe Marcone – Straftaten im Raum Berlin von Tätern bis zum Alter von 29 Jahren dokumentiert, bei denen die den Tätern unbekannten Opfer mit Körperverletzungen und Raubdelikten versehrt wurden. Auch hier enthält sie sich jeder Wertung und verleiht den für sich sprechenden Daten damit herausragende Kraft. Dass dieser Kalender 10 klein beschriebene Buchseiten umfasst, kann keinen Leser kaltlassen. Man fragt sich beunruhigt, wie wohl ein das Bundesgebiet umfassender Kalender der Gewalt aussähe.
Die Familie Marcone indes pflegt keinen Hass und hat keine Rachegedanken. Sie hat kein Rechtsmittel gegen das milde Urteil eingelegt, sondern eine Stiftung zur „Aufklärungs- und Präventionsarbeit mit Jugendlichen“ gegründet, „um auf die Gewaltproblematik aufmerksam zu machen, Ursachen zu erkennen und zu verhindern“ (guiseppemarcone.de/blog). Von dieser Familie könnten alle lernen, egal woher sie kommen und welcher Nationalität und Religion sie angehören.
Roswitha Quadflieg wünscht sich Gedenkhinweise auf Gewaltopfer an den entsprechenden Orten, damit diese Seite der Großstadt ins Bewusstsein ihrer Bewohner gelangt und die überfällige gesellschaftliche, offene Auseinandersetzung in Bewegung kommt. Am Tag der Zivilcourage, der jährlich am 17. September begangen wird, kämpft sie gemeinsam mit der Guiseppe Marcone-Stiftung um Anerkennung der Opfer von Gewalt.
Roswitha Quadflieg: Das kurze Leben des Guiseppe M., Transit Buchverlag, Berlin 2016, 125 S.
Autorenhomepage: www.roswithaquadflieg.de