Rezension zu Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens.
Klett-Cotta, Stuttgart, 2017, Neuauflage 2019
Die Autorin, langgediente Psychoanalytikerin und Lehrstuhlinhaberin für Entwicklungspsychologie an der Mainzer Universität, legt einen reichen Band zur weiblichen Psyche vor. Nach der Altersentwicklung unterteilt, werden unter Einbeziehung aktueller Forschungsliteratur die phasenspezifischen Besonderheiten vom frühesten Kindes- bis ins Erwachsenenalter dargelegt und ausführlich die familiendynamischen Implikationen wie auch speziell die Eigenheiten der Mutter-Tochter-Beziehung erörtert.
Problembereiche weiblicher Entwicklung bis ins Erwachsenenalter
Dem über 400 Seiten starken Werk merkt man die langjährige praktische und forscherische Erfahrung an, und nicht nur Kollegen und Kolleginnen, die auch Kinder behandeln, auch interessierten Laien, die die sehr spezifischen Problembereiche weiblicher Entwicklung bis hinein ins Erwachsenenalter nachvollziehen möchten, kann dieser Band empfohlen werden.
Erfreulich ist dabei einerseits der Bezug auf die zur Zeit aus der Mode gekommene Triebtheorie, die auch notwendig ist, um dem Trend zur Auflösung der Psyche in bloße Beziehungsaspekte entgegenzuwirken. Dennoch ist die Beziehungsdimension des Psychischen in den Ausführungen der Autorin immer vorhanden, so wie auch die somatischen Aspekte von Weiblichkeit stets beleuchtet werden. So beschreibt Seiffge-Krenke eindrucksvoll die Eigenarten von Prä-Adoleszenz und Adoleszenz; der gar nicht so selten auftretende Fall von Unterbauchbeschwerden im Jugendalter führt beispielsweise häufig zum Drängen von Müttern auf operativ-technische Intervention bei ihren Töchtern. Hier gibt der Band klaren Einblick in die psychosomatische Gemengelage und die Familiendynamik.
Es dominieren hier nicht Säuglingsforschung oder akademische Psychologie, sondern konsequent psychodynamische Konzepte. Wiederum muss angemerkt werden, dass zwar ein beträchtlicher, doch eben nur ein Teil der Psychoanalyse des Mädchens vertreten ist, die schon in Frankreich an einigen Stellen anders beschrieben wird. So beklagt die Autorin die ex-negativo-Definition des Weiblichen durch viele klassische Triebtheoretiker – was nicht automatisch heißt, dass das Mädchen mehr als der Junge ein Mängelwesen ist; ein Fehlschluss, dem nicht wenige Analytiker unterliegen. Die Negation bezieht hier aus dem Negierten ihre Kraft; es gibt dazu verschiedenste Überlegungen und gelungene Richtigstellungen (vgl. Fellmann & Redolfi 2017). Zudem ist aus der Praxis gut bekannt, wie weibliches Empfinden sich im Körperlichen konstellieren kann und dass die Bedeutung des Phallus nicht bloßer Theorie-Fetisch ist. Selbst der Phallus, der Penis plus die psychische Vorstellung von Mangel, ist aber ohne eine gute Portion Strukturalismus nicht zu verstehen.
Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens wird in diesem Band jedoch in vielen Facetten behandelt, die zu einem breiten Bild führen und auch ins Detail gehen. So findet auch die Rehabilitierung der Urethra als psychosexuelles Organ ihren Platz. Wiederum bleibt die gesellschaftliche Dimension etwas unterrepräsentiert, so zum Beispiel wenn es um die Frage nach der Konzeption eines Ich geht, das mit gesellschaftlichen und anderen Strebungen konfrontiert wird, die im Individuationsprozess aufeinanderprallen. Man könnte fragen: wo ist das je, wo das moi? Kategorien, die nicht nur bei Ärzten des Seelendunkels auftauchen, sondern etwa auch im gut beleumundeten symbolischen Interaktionismus eines George Herbert Mead.
Manche neuen und alten Problemstellungen wie die der repressiven Entsublimierung (vgl. Kroll 2018; Pfaller 2009) müssten einer Integration zugeführt werden, anstatt, wie es der Band an manchen Stellen tut, die durchaus fragwürdige Möglichkeit menschlicher Vollständigkeit zu suggerieren. So wie wir uns alle vorstellen können, was mit Identität gemeint ist, so schwierig, ja vermutlich unmöglich ist dieses Konzept, und nur vor pragmatischem Hintergrund ist es halbwegs nützlich. Personale Identität, die, wenn überhaupt, eben einmal im Sinne eines Selbst in adaptiver Bewegung zwischen den Polen Totalität und Diffusion (Straub 2017) zu verstehen ist, trifft nicht nur auf Deprivation, sondern auch auf Verwerfungen der lebensweltlichen strukturellen Ordnung, die Depravation genannt werden dürfen.
Wo ist das Irrationale?
Als ergänzende Fragestellung bleibt ebenso offen, wo eigentlich das Irrationale, das Widersinnige ist, das sowohl in, aber auch außerhalb des methodologischen Individualismus zu finden ist und auch in der Praxis erscheint. Gewiss fühlen wir uns einer rational-empirischen Taxonomie verpflichtet, doch auch die therapeutische Praxis wird mit den Verwerfungen der Postmoderne konfrontiert. Und so bleibt das psychoanalytische Mindestziel der Ablösung infantiler Bindungen (Stuttgarter Gruppe 1995) ähnlich unterbetont wie die Diagnostik der Auflösung struktureller Ordnung, die eine Neubestimmung der Subjektposition verlangt, die zwischen Weltlosigkeit und Welthaltigkeit pendelt, aber keinen Anspruch auf irgendeine Legitimation stellt. So stellt die Dezentrierung des Subjekts womöglich nicht die Lösung, sondern das Problem dar (vgl. Egloff 2015).
Vielseitige Zugänge zu weiblichem Erleben
Zudem gibt es Performanz-Aspekte, die auf Trieb-Objektbeziehungs-Konstellationen hinweisen, in denen der psychoanalytische Akt (Schmid 2001; Egloff 2012) Transformationen herbeiführt oder anstößt. Daher ist dieses Konzept von enormer Bedeutung auch für Behandler, die nicht genuin analytisch arbeiten. In Ansätzen zur Performanz ist dies in Seiffge-Krenkes Band vorhanden. Die große Stärke liegt aber eher in den Grundlegungen weiblicher Sozialisation und Persönlichkeitsbildung sowie den vielseitigen Zugängen zu weiblichem Erleben auf leiblich-seelischer Ebene, und dies sehr gut lesbar. Historische und literarische Fall-Vignetten geben dem Band dazu eine leichte Note und bieten eine fundierte Psychologie und Psychopathologie des Weiblichen in Form einer engagierten Bestandsaufnahme der klinischen psychoanalytisch-entwicklungspsychologischen Praxis. Dennoch läuft es darauf hinaus, dass manche Konzeptionen des Psychischen neu durchdacht werden müssen. Im Grunde hat die Psychologie gleichermaßen mehr Biologie und mehr Soziologie nötig.
Literaturhinweise:
- Egloff G (2012). Objektbeziehung und Performanz – zur relationalen Dynamik der Libido. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, Jg. 61, 7, S. 497-511.
- Egloff G (2015). Integrative Psychoanalyse. In: Janus L, Kurth W, Reiss H, Egloff G (Hg.). Verantwortung für unsere Gefühle. Mattes, Heidelberg, S. 301-333.
- Fellmann F, Redolfi E (2017). Aspects of Sex Differences: Social Intelligence vs. Creative Intelligence. In: Advances in Anthropology, Jg. 7, 4, S. 298-317.
- Kroll A (2018). Aktuelle Perspektiven zu Sozialisation und Kindheit (Rezension zu Egloff G (ed.), Child-Rearing: Practices, Attitudes and Cultural Differences, New York, 2017). In: Deutsches Ärzteblatt PP, Jg. 16, 7, S. 332.
- Pfaller R (2009). Die Sublimierung und die Schweinerei. In: Psyche, Jg. 63, 7, S. 621-650.
- Schmid M (2001). Der psychoanalytische Akt. In: Gondek HD, Hofmann R, Lohmann HM (Hg.). Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk. Klett-Cotta, Stuttgart, S. 49-73.
- Straub J (2017). Personale Identität. Vortrag, 31. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP), Der Wandel der Identitätsstrukturen und Beziehungen im Laufe der Geschichte, Heidelberg, 17. März 2017.
- Stuttgarter Gruppe (1995). WSPO analytische Psychotherapie, Kinder und Jugendliche.
Auszüge aus dieser Rezension sind erschienen im Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, Gablitz/AT, 2018; 19 (1), 45 und in gyn – Praktische Gynäkologie, Hamburg, 2019; 24 (4), 339-340