
Die neue Premiere am English Theatre of Hamburg.
Clifford Deans brillante Inszenierung eines brisanten Theaterstoffs, das mit dem renommierten Pulitzer-Preis geadelt wurde, auf den Brettern des English Theatre. Dieses Drama hält die Zuschauer bis zur letzten Sekunde in Hochspannung. Nur vier Schauspieler stehen auf der Bühne. „Doubt“ ist ein Stück, das von den außerordentlich intensiven Dialogen zwischen den Protagonisten lebt.
Sind katholische Geistliche pädophil?
Jene Geschichte, die hier in knapp zwei Stunden erzählt wird, ist aus heutiger Sicht ziemlich banal. Denn längst haben wir uns an
Schlagzeilen gewöhnt, die den (angeblichen) Missbrauch junger Männer durch Geistliche der allein selig machenden katholischen Kirche thematisieren. Es gibt immer wieder Aufmacher, die nicht nur auf den Titelseiten der Boulevardblätter, sondern auch in seriösen Presseorganen für Furore sorgen. Allerdings hat der amerikanische Erfolgsautor John Patrick Shanley die Handlung in das Jahr 1964 verlegt. Noch dazu in die katholische Schule St. Nicholas im New Yorker Stadtteil Bronx. Wenn man auch seinerzeit den Begriff „No Go Area“ noch nicht benutzte, war dieser Distrikt bereits in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Gegend, in der „man“ eigentlich nicht wohnte. Dennoch, Pater Flynn (Brian Tynan), ein aufgeschlossener Priester irischer Herkunft, hat es sich nun einmal in den Dickschädel gesetzt, seinen Schülern ein guter Lehrer und sogar ein Freund zu sein. Davon profitiert in erster Linie Donald Muller, der einzige schwarze Schüler in St. Nicholas, der jedoch die ganze Zeit über unsichtbar bleibt.
Nervenkrieg der Antipoden

Wir sehen Pater Flynn, in kostbare Talare gehüllt, auf der Kanzel, wie er seiner Gemeinde erfrischend menschlich ins Gewissen redet. Und dies immer mit einem spitzbübischen Zwinkern in den Augenwinkeln. Ebenso locker sieht er die sportliche Erziehung seiner Zöglinge, die er zu Kampfgeist und Fairness beim Basketball ermuntert.
Die Gegenspielerin dieses mit seiner Zeit gehenden Kirchenmannes ist Schwester Aloysius (Jan Hirst), die Schulleiterin von St. Nicholas, eine vom Leben enttäuschte Nonne alter Schule, die dem reformatorischen Geist Pater Flynns nicht nur skeptisch, sondern offen feindselig gegenübersteht. Sie, die einst mit einem den Heldentod im Zweiten Weltkrieg gestorbenen Soldaten verheiratet war, steht treu im Dienst der ultrakonservativen katholischen Kirche. Bereits ihr strenges Äußeres – schwarze Nonnentracht und eine Haube, unter der sich nicht ein einziges Haar hervorstiehlt – verrät ihre unbeugsame Haltung. Ein gefundenes Fressen also, als die Novizin Schwester James (Naomi O’Taylor) ihr in einfältiger Loyalität verrät, Pater Flynn habe ein privates Gespräch mit Donald Muller geführt, und dieser Schüler habe nach Alkohol gerochen. Sofort verdichtet sich der Verdacht bei Schwester Aloysius, der Priester unterhalte eine unkeusche Beziehung zu seinem Schüler.
Dieser Zweifel – oder besser – dieses Misstrauen beruht auf einem durch nichts fundierten Verdacht. Reicht es etwa nicht, dass Pater Flynn längere Fingernägel hat, als es sich für einen Geistlichen ziemt? Spricht es nicht Bände, dass er drei Stück Zucker in seinen Tee nimmt und gar weltliche Weihnachtslieder mit seinen Zöglingen singt? Ist Pater Flynn etwa pädophil? Zwischen Schwester Aloysius und Pater Flynn entbrennt ein Nervenkrieg. Auf der einen Seite die durch nichts in ihrem tief verwurzelten Misstrauen gefangene Nonne, auf der anderen ein junger Kirchenmann, der seinen Schülern in jeder Lebenslage helfen möchte. Dies gilt besonders für den schwarzen Zögling Donald Muller, dessen Hautfarbe per se schon problematisch ist.
Eine Mutter kämpft für ihren Sohn

Eine der Schlüsselszenen in „Doubt“ ist der Dialog zwischen Schwester Aloysius und Mrs. Muller (Angelena O’selle), der Mutter Donalds. Die stolze schwarze Frau sieht sich den herablassenden Anschuldigungen einer selbstgerechten weißen Patriarchin ausgesetzt, die sich durch nichts von ihrer vorgefassten Meinung abbringen lässt. Sie droht, Donald von der Schule zu werfen. Zum Showdown kommt es später zwischen Schwester Aloysius und Pater Flynn, der in tiefer Verzweiflung, seine Unschuld zu beweisen, in Tränen ausbricht. Für die strenge Nonne jedoch kein Grund, irgendeine Form von Empathie zu zeigen, sondern nur grimmige Genugtuung und das Gefühl, sie habe doch gleich gewusst, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmen könne.
Kein Happy End, aber viele Zweifel
Es kommt, wie es kommen musste. Pater Flynn muss gehen. Er wird zwar an eine andere Schule versetzt, und – oh Wunder – sogar in eine höhere Position befördert. Haben die anderen Glaubensbrüder und -schwestern trotz aller Widersprüche am Ende doch gemerkt, dass Flynns Reformgeist der Sache viel dienlicher ist als sture Prinzipienreiterei? Schwester Aloysius bleibt allein mit ihren Zweifeln zurück. Und der Zuschauer fragt sich, ob vielleicht doch etwas dran war an ihrem Verdacht gegen den Pater. Wäre es nicht möglich, dass dieser so schuldig ist wie Kain und uns alle mit einem Glanzstück seiner Schauspielkunst hinters Licht führte? Da zitieren wir einen Grundpfeiler unserer Rechtsprechung: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten!
Das Schlusswort überlassen wir heute Bert Brecht: „Und somit sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Résumé: Ein großer Theaterabend, an dem die vier Akteure sämtliche Register ihres Könnens zogen. Allen voran Pater Flynn, der trotz seines klerikalen Habits so elegant und leichtfüßig daherkommt, auf Augenhöhe mit seiner Widersacherin, einer verbitterten Schwester Aloysius, die nicht gewillt ist, auch nur einen Zoll von ihrer vorgefassten Meinung abzuweichen. Großes Lob für „Pater“ Brian Tynan und Jan Hirst, die die Schwester Aloysius bereits zum zweiten Mal auf der Mundsburger Bühne mit Bravour meisterte. Naomi O’Taylor verlieh der Rolle der noch nicht im Glauben gefestigten naiv-wankelmütigen Novizin Schwester James ebenso Statur wie Angelena O’selle, die die Rolle der um die Ehre ihres Sohnes kämpfenden Mrs. Muller eindrucksvoll verkörperte.

Jedem, der „Doubt“ nicht mehr als zeitgemäß empfindet, sei empfohlen, sich an den zum Teil haarsträubenden Verhältnissen in unserer gegenwärtigem „postmodernen“ Gesellschaft zu orientieren. Da wird verdächtig und bei oft sehr zweifelhafter Beweislage nach Lust und Laune vorverurteilt, dass sich die Balken biegen. Es hat sich außer der Mode auch in den letzten Jahrzehnten leider nichts geändert.
Liebe Zuschauer, genießen Sie einen inspirierenden Theaterabend in vollen Zügen.
„Doubt“ läuft bis einschließlich 12. April 2025.
Tickets unter der Telefonnummer 040-227 70 89 oder online unter www.englishtheatre.de
Nächste Premiere: “Anthropology“ von Lauren Guderson am 5. Mai 2025