Als Joachim Frank die Kurzgeschichten und Erzählungen seines Bands „Farben in wechselndem Licht“ schrieb, dachte er ganz bestimmt nicht daran, dass wir es mit einer Corona-Pandemie zu tun bekämen. Und so erscheinen die unterhaltsamen, zum Nachdenken anregenden oder auch zum Lächeln verführenden Erzählstücke über das Lesevergnügen hinaus in einem besonderen Licht.
Da konnte man noch reisen, ohne in Quarantäne zu müssen. Man ging ganz selbstverständlich ins Café, man kam sich nah und von „Munaschu“ ist keine Rede. Damit hat Joachim Frank mit seinem Buch zunächst in den Fokus gerückt, wie unser Leben vor Corona aussah, was für uns selbstverständlich gewesen ist und was wir nun schmerzlich vermissen. Das thematische Spektrum der Erzählungen spart jedoch auch Krankheit nicht aus, sondern gibt einfühlsam Einblick in Folgen einzelner Schicksale, die Menschen wie dich und mich heimsuchen. Dabei folgt der Autor dem Motto „Weniger ist mehr“, konzentriert sich auf wenige, markant gezeichnete Charaktere und wenige Begebenheiten, die, von den Figuren unaufdringlich reflektiert, in den Lesern fortwirken dürften.
Das in fünf Kapitel unterteilte Buch (Reiseperlen/Abschiede/Blickwinkel/Take it easy/Weihnachten) deckt breite Leserinteressen ab. Das Reise-Kapitel beschränkt sich nicht auf Schilderungen von Örtlichkeiten, sondern bringt auch einige geschichtliche Hintergründe und setzt sich mit Klischees und Vorurteilen auseinander, ohne zu werten. Im Kapitel „Abschiede“ erzählt Joachim Frank einfühlsam von Wendepunkten, die bedrücken oder erleichtern. Berührend ist die Szene einer Männerfreundschaft zwischen einstmals sportlich aktiven Männern, von denen der eine nur mehr ein Schatten seiner selbst ist. Das Ungesagte nimmt hier den meisten Raum ein, die Geschichte berührt sehr. Eine originelle und interessante Perspektive nimmt der Autor in den Geschichten „Inferno“ und „Ansichten eines Gemäldes“ ein, indem er sich in der erstgenannten Erzählung in den Maler Egbert van der Poel (1629-1684) hineinversetzt, dessen Schaffen sich nach einem Feuerinferno dramatisch veränderte, und in der letztgenannten gar aus der Perspektive des Gemäldes schreibt.
Bedrängnisse und Fettnäpfchen, die im Alltag nicht immer zu umschifft werden können und vor allem denjenigen, die das Ganze von außen betrachtet, viel Heiterkeit bringen, birgt das Kapitel „Take it easy“. Augen auf beim Beschenken der Ehegattin, möchte man dem Protagonisten der Geschichte „Fit in den Frühling“ zurufen.
Schließlich kommt die Sammlung mit dem aus einer etwas längeren Geschichte bestehenden Schlusskapitel wieder in der Gegenwart an, denn es geht auch hier um ein Weihnachten, das ganz anders als geplant verläuft. So wie es in diesem Jahr 2020 unvorhergesehenerweise sehr vielen Familien gehen dürfte, hat in dieser Geschichte nicht eine Krise von außen, sondern von innen alles in der Hand. Wird die Familie das Fest noch retten?
Die Sammlung kurzer Prosastücke von Joachim Frank ist wie geschaffen für diese Zeit: Sie unterhält, regt zum Nachdenken an, erheitert und gibt gute Impulse. Wenn man täglich eines der kurzen Werke liest, hat man 14 Tage lang etwas von dem Buch. Fangen Sie doch Weihnachten damit an.
Joachim Frank wurde 1952 in Hamburg geboren. In Prisdorf und Schweden lebend, schreibt er Erzählungen und Kurzgeschichten, die er in mehreren Einzeltiteln sowie in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien veröffentlicht. Unter den Preisen, die er bekommen hat, sind der Kurzgeschichtenpreis der Hamburger Autorenvereinigung (2016) und der Preis des Erwin-Strittmatter-Vereins (2019).
Joachim Frank: Farben in wechselndem Licht, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2020
Es ist ein alter Hut. Viele Bürger halten sich nur ungern an die einfachsten Verkehrsregeln. Wie oft muss ich erleben, dass ein Auto noch über die Kreuzung vor meinem Haus „nagelt“, wenn die Ampel schon längst auf Rot umgesprungen ist. Auch vor Zebrastreifen drosseln manche Fahrer nur ungern das Tempo. Häufig muss man beherzt ausschreiten, um sie noch rechtzeitig zum Halten zu bewegen.
Und wie steht es mit den Fußgängern, die nicht selten geduldig vor Ampeln ausharren müssen, bis sie endlich die Straße überqueren dürfen, auch wenn weit und breit kein Fahrzeug in Sicht ist? Ich gestehe, dass ich in so einem Fall nicht immer auf grünes Licht warte, solange keine Kinder in der Nähe sind. Dem Nachwuchs gegenüber zeige ich mich stets als vorbildliche Verkehrsteilnehmerin.
Zumindest bis gestern Mittag. Die Sonne blendete mich, als ich in der Nähe des Harburger Bahnhofs bei Rot schnell über eine Straße lief. „Rotgänger, Todgänger, Grüngänger leben länger“, erschallte ein mehrstimmiger Kinderchor hinter mir. Wie vom Schlag gerührt drehte ich mich um. Da standen vier etwa zehnjährige Schulmädchen am Straßenrand und drohten mir mit dem Finger. Mein Gott, die lieben Kleinen hatte ich ganz übersehen! „Entschuldigt“, stammelte ich verlegen. „Aber da habe ich wohl geschlafen. Kommt ja mal vor.“
„Sollte es aber nicht“, entgegnete das Größte von den Mädchen streng. „Erwachsene erzählen uns doch immer, wo es langgeht. Dann müssen sie aber auch Vorbilder sein.“ Wo Kinder recht haben, haben sie recht. Also schwor ich hoch und heilig, nie wieder bei Rot über die Straße zu gehen. Das versöhnte die jungen Damen offenbar, die sich mit einem freundlichen „Tschüs, und noch einen schönen Tag“, von mir verabschiedeten. Ich habe mir übrigens gelobt, dieses Versprechen niemals zu brechen. Großes Indianerehrenwort!
Diese Glosse erschien bereits im Hamburger Abendblatt
Foto: Michael_Luenen, Pixabay
Schreiben kann erfüllen, befreien, berauschen und glücklich machen, aber sich auch als schwierige Angelegenheit entpuppen. Wie fängt man an, über was und in welcher Form soll man schreiben, wie überwindet man Schreibblockaden? Maren Schönfeld möchte mit ihrem neuen Buch hierzu Hilfestellung leisten, aber nicht nur das. Sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Autoren hat sie zahlreiche Tipps und Übungen zusammengetragen, die unmittelbar in die Kreativität führen und dazu einladen, rund um das Thema Schreiben Neues zu entdecken und auszuprobieren. Das erste von insgesamt drei Kapiteln beinhaltet 32 Übungen, die als Schreibimpulse mit teils spielerischem, teils reflektorischem Charakter helfen sollen, in den Schreibprozess zu kommen. Dazu gibt es Anregungen, wie man im hektischen Alltag regelmäßige, kleine Auszeiten zum Schreiben finden kann.
Das zweite Kapitel enthält umfangreiche Anleitungen zum autobiografischen Schreiben, während es im letzten Kapitel um das Thema Lyrik geht. Hier werden unterschiedliche Gedichtformen aus der klassischen Poesie vorgestellt, wie Tanka, Haiku, Sonett, Fünfzeiler, Elfchen und Rondell, dazu Scherz- und Nonsenspoesie, wie Limerick, Leberreim und Klapphornvers. Beispiele zur konkreten Poesie, sowie verschiedene Schreibspiele und Hinweise zu weiterführender Literatur runden das Buch ab.
Wie in allen Disziplinen helfen auch beim Schreiben handwerkliche Kenntnisse enorm, sich besser ausdrücken und weiterentwickeln zu können. Diesbezüglich hat das Buch einen großen Fundus zu bieten. Die fast zwanzigjährige Erfahrung der Autorin als Schreibcoach und Dozentin in der Erwachsenenbildung sind das große Plus des Buches. Die Tipps sind praxisnah und haben sich im Rahmen langjähriger Schreibkurse bei einer großen Teilnehmerzahl bewährt. Der einfühlsame und motivierende Schreibstil macht das Werk zum großen Lesevergnügen.
Fazit: Das Buch wird seinem Titel vollends gerecht und ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Autoren ein äußerst nützlicher Begleiter, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Eine klare Kaufempfehlung!
Taschenbuch : 112 Seiten
ISBN-10 : 3947911432
ISBN-13 : 978-3947911431
Abmessungen : 11.5 x 0.9 x 18.4 cm
Herausgeber : Verlag Expeditionen
Eine Wanderung auf dem Klaus-Groth-Weg Spätestens seit dem Gottesdienst zur Beerdigung von Helmut Schmidt ist nicht nur Hamburgern der Name Klaus Groth geläufig. Hatte doch Schmidt selbst verfügt, man möge die Vertonung von Groths plattdeutschem Gedicht „Min Jehann“ im Michel singen.
Groths bekanntestes Gedicht ist jedoch wohl die kurze Ballade von „Lütt Matten de Has“, in der der böse Fuchs den gutgläubigen Hasen verspeist. Weitgehend unbekannt jedoch ist Groths Prosawerk „Min Jungsparadies“, in dem er Kindheits- und Jugenderinnerungen aus dem kleinen Dithmarscher Ort Tellingstedt beschreibt. Nach wie vor berühren diese Aufzeichnungen vom Glück und Leid des Erwachsenwerdens den Leser und lassen ihn an eigene Erfahrungen zurückdenken.
Groth ist in jungen Jahren häufig vom Elternhaus in Heide zu Fuß nach Tellingstedt gewandert, um dort Onkel und Tante zu besuchen und jugendliche Freiheit zu genießen.
Tellingsted weer wit nog, dat man nich jüs mit sin Botterbrot inne Hand sik hineten kunn doch weert ok nich so wit, dat nich en Jung mit sin egen Been un Handstock, as de Tellingsteder sän, dar hin harrn much, wenn´t ok en Reis weer vun enige Stunn.
Diesen mittlerweile gut ausgeschilderten Klaus-Groth-Wanderweg kann man nun selbst nachgehen, auf den Spuren des großen Dithmarscher Dichters. An einigen Tagen im Jahr wird eine geführte Wanderung angeboten. So auch am 28. Juli 2020. Einheimische, Touristen, drei zugereiste Hamburger und ein Hund fanden sich am Startpunkt in Süderholm ein. Es herrschte allerbestes Wanderwetter, Sonne und Wind, weißblauer Himmel (wie bei uns zuhause, merkte ein bayrisches Ehepaar an).
Nach einer kurzen Einführung in die Biografie Groths und der beruhigenden Auskunft, dass es nicht darum gehe, möglichst schnell möglichst viel Strecke zu machen, sondern den Zweiklang von Landschaft und Poesie zu genießen, ging es los.
Der Weg führt durch Wald, Moore und Wiesen und bietet immer wieder weite Ausblicke in die unaufgeregte Dithmarscher Landschaft. Gerade für großstadtgeplagte Hamburger eine Erholung für die Seele. Der ortskundige Führer machte während der gut dreistündigen Wanderung immer wieder auf landschaftliche und historische Besonderheiten aufmerksam und rezitierte Texte von Groth. So bekamen die Teilnehmer das Gefühl, ganz dicht auf den Spuren eines Dichters zu wandeln.
Am Endpunkt, in Tellingstedt, wurde eingekehrt. Döner, Pizza und Eis brachten die müden Wanderer, zwei ausgezeichnete Würstchen den Hund wieder in Form. Und an allen Tischen fiel der Satz: Nächstes Jahr bin ich wieder mit dabei.
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Eine hochdeutsche Übersetzung vom „Jungsparadies“ erscheint demnächst im elbaol verlag hamburg.
Erst vergisst sie ein Kind aus ihrer Gruppe auf dem Spielplatz und dann fährt ihr auch noch so ein Modepüppchen ins Auto – die Woche fängt ja gut an!
Als Leserin bin ich sofort in der Geschichte, die so temporeich beginnt. An der Seite der Erzieherin Iris geht es, zeitweilig mit einem Eierlikör gestärkt, weiter durch deren turbulente Tage, eben wie im echten Leben. Vor der Lokalkulisse Hamburgs erzählt Autorin Lilo Hoffmann die Ereignisse zweier sehr verschiedener Mitbewohner – von denen eine das Modepüppchen werden wird – und die Erlebnisse der Hauptperson Iris. Deren Freund Alex war am Anfang ganz hinreißend und ist nun eher ins Vage abgedriftet, bevor er sie mit einer nicht vorhersehbaren Lebenswendung überraschen wird. Neben Modepüppchen Dana, ihres Zeichens Radiomoderatorin und mit schrägen Typen bekannt, kommt Iris sich manchmal wenig hip vor, bis sie herausfindet, dass da auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Eierlikör-Tradition ihrer Großmutter bildet eine stabilisierende Konstante für Iris und erfreut die Leserin gleichermaßen. So treibt das Leben Iris in diverse lustige und weniger lustige Situationen, es geht um Abschiede und (neue) Freundschaften, um dumme und schöne Zufälle. Iris gibt sich keine Mühe, die hippe Großstädterin zu geben, sondern schaut mit sympathischer Verwunderung und vielleicht ein wenig heimlicher Verehrung Danas Treiben zu. Sie verbiegt sich nicht, sondern bleibt sich treu und verweigert sich auch mal, wenn es ihr zu bunt wird. Ich habe dieses Buch gern gelesen, mit Iris mitgefiebert und ihr das Beste gewünscht, das sie meiner Meinung nach unbedingt verdient hat. Eine wunderbare Lektüre zur Entspannung, vielleicht mit einer Tasse Kaffee – oder einem Eierlikör.
Lilo Hoffmann: Wenn das Chaos perfekt ist
Verlag Tinte & Feder, 2020, 283 Seiten
Taschenbuch und E-Book
Vor fast genau 21 Jahren lernte die Verfasserin dieser Zeilen – noch mitten im Studium und ersten lyrischen Versuchen zaghaft Raum gebend – den großen, ihr jedoch unbekannten Peter Rühmkorf auf einem Literaturseminar im Hause Kempowski kennen. Der schlaksige Autor saß mit einer Zigarette und einem Glas Wein an einem kleinen, runden Tisch auf der Empore im Spiegelsaal und hob an, aus seinen Gedichten zu lesen; ein rhythmischer, musikalischer Vortrag aus einem Guss, mit Humor und Tiefe, manches Lachen blieb im Halse stecken. Der Klang seiner Verse in dem ihm eigenen Hamburger Slang und mit der leicht angerauhten Stimme zog in Bann, auch die kniffligen Reime fielen auf, noch lange vor der dann folgenden Analyse der Texte auf dem Papier. Die nahm natürlich nicht Peter Rühmkorf vor – der hatte anderes zu tun mit den ganzen Damen, die ihn in den nächsten Stunden umringten. Hausherr Walter Kempowski zog sich bald ins Schlafgemach zurück, während die Heldenverehrung in der so genannten Lotterecke bis tief in die Nacht weiterging – bis wann genau und wie sie endete, wer weiß?
Grappa in Ottensen
Jedenfalls ergab sich Gelegenheit, dem berühmten Poeten, der gar nicht so weit entfernt von der aufstrebenden Lyrikerin wohnte, einige Bücher abzukaufen und sogar ihm wiederum mit klopfendem Herzen und leicht hibbeliger Hand ein Lyrikmanuskript zu überreichen, ihm tatsächlich das Versprechen abzuringen, das Gedichtete zu lesen und zu kommentieren. Seine Widmung im Buch „Außer der Liebe nichts“ lautete: „auf einen Grappa in Ottensen“. Leider kam es nie dazu. Man reiste zurück nach Hamburg, jeder in seine Ottensener Stube, und es verging die schweigende Zeit. Doch dann, als damit kaum noch gerechnet werden konnte, kam ein mit Schreibmaschine getippter Brief mit dem Absender Övelgönne 50. Jedes kleine o war ein Loch im Papier und die großen Buchstaben hopsten nach oben aus der Reihe. Dieser Brief war frech! Es war von „klavieren hier und da“ die Rede und davon, dass es an noch der eigenen, unverkennbaren Stimme fehle. Aber: Vereinzelt anerkennende Bemerkungen, in Witzigkeit gekleidet das Ganze, und am Ende dann doch unglaublich motivierend. Das Klavieren kann man doch nicht auf sich sitzen lassen! Insgesamt war es, gleichsam im Sound seiner Gedichte, eine nicht unfrohe Botschaft. Aber Grappa trinken wollte ich mit dem nicht mehr. Jetzt musste ich erst mal schreiben, schreiben, schreiben …
Laß leuchten! – völlig neues Konzept einer Ausstellung
Es gab keine weitere Begegnung zwischen uns. Aber die Lektüre und Analyse seiner Gedichte, das wiederholte Anhören seiner Lesung auf CD und natürlich dieser freche Brief, das alles hat mein Schreiben und mich geprägt und vorangebracht. Eine Weile nun standen die Bücher im Regal, bis im letzten Jahr die Einladung von der Stiftung Historische Museen Hamburg kam. Diese Ausstellung ist rundum ein Meisterwerk. Die Modernität, die Rühmkorfs Gedichte unter anderem ausmacht, hat das Altonaer Museum zusammen mit der Arno Schmidt Stiftung in Präsentation umgesetzt. Rühmkorf war mit seiner Poetik immer einen Schritt voraus.
Dem Konzeptteam ist es mit digitalen Medien, Bild und Ton, eingebettet in einen wunderbar gestalteten Raum mit Teppich und Mini-Sofas, ebenfalls gelungen. So etwas gab es noch nie. Die Ausstellung beginnt mit dem Werk, dahinter steht der Mensch, also folgen nach den Gedichten und den Installationen, die Besucher zum Mitmachen animieren, erst die Räume mit Rühmkorfs Lebensdaten. Imposant der Turm aus Archivkisten, den Rühmkorf dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vermacht hat. Sehr viele Aspekte und Stationen seines literarischen, politischen und persönlichen Lebens werden beleuchtet. Man hätte etwas mehr über Eva Rühmkorf und das gemeinsame Wirken und Leben erfahren können. Am Ende erwartet die Besucher ein in Dauerschleife laufender Film aus der „Lyrik & Jazz“-Produktion. Auch da war Rühmkorf wegweisend.
Ins Gästebuch hat jemand geschrieben, dass die Ausstellung der Werke des Fotografen Fide Struck der Rühmkorf-Ausstellung nicht ebenbürtig sei, was bedauert würde. Aber diese Ausstellung, die von der Arno Schmidt Stiftung mitfinanziert wurde, zeigt eben, was möglich wäre, wenn Museen ein anständiges Budget hätten, statt mit immer mehr Einsparmaßnahmen konfrontiert zu sein. Das sollte doch nachdenklich stimmen und mehr Menschen animieren, die Freundeskreise der Museen zu unterstützen.
Einzigartige Dichtung
Peter Rühmkorf hat mit seiner Art zu dichten die Lyrikwelt geprägt. Die Mischung aus Eloquenz und Schnoddrigkeit, mit der er die großen Themen des Seins und Vergehens bearbeitete; das Reimen über verschiedene Sprachen hinweg, die Musikalität seiner Gedichte – all das wirkt über seine Lebenszeit weit hinaus. Für die Lyriker hat er diverse Einblicke in seine Arbeitsweise hinterlassen, die spannend und inspirierend sind. Denn er, dessen Poeme so leichtklingend daherkamen, hat an jeder Silbe strengstens gefeilt.
Leider dauert die Ausstellung nur noch bis zum 20. Juli. Es lohnt sich, sie noch anzusehen, und es lohnt sich sehr, Rühmkorf zu lesen.
Öffnungszeiten:
Montag 10 – 17 Uhr / dienstags geschlossen / Mittwoch bis Freitag 10 – 17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr
Eintrittspreise:
8,50 Euro / ermäßigt 5 Euro / freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren
Im Juni waren Ritterspiele angesagt: König Artus in Mitten seiner Tafelrunde. Zumindest Prinz Eisenherz wollte jeder sein. Vorher wurde Cowboy und Indianer gespielt. Meist kämpften dann General Custer gegen Sitting Bull. Im April war „Kippel Kappel“ dran, dabei wurden regelmäßig mehrere Fensterscheiben in der Neuen Wöhr und dem Albers-Schönberg-Weg zerschlagen. Eigentlich gingen gar nicht so viele Scheiben drauf, weil die meisten Straßen Barmbeks mit Ruinen umsäumt wurden.
Ruinen waren der spannendste Spielplatz. Ein Spielplatz, den uns Eltern und Lehrer der Schule Fraenkelstraße fast täglich aufs Neue verboten haben. Natürlich hielten wir uns nicht an die Mahnung. Doch zur Not hatten wir immerhin noch den Stadtpark, um uns auszutoben. Wir, das war eine Gang von 15 „Blutsbrüdern“, was den eingeschworenen Haufen nicht hinderte, sich bisweilen auch mal untereinander ordentlich zu zoffen. Die Gang stammte aus meiner Straße, dem Albers-Schönberg-Weg, der Neuen Wöhr und „harten Jungs“ aus den Nissenhütten und Baracken um den Theodor-Rumpel-Weg.
Wir Jungs aus dem erhaltenen viergeschossigen Block bewunderten die Barackler. Sie waren stärker, hart im Nehmen, schneller, hatten die besten Spielideen. Wären sie nicht in unserer Gang gewesen, wir hätten die Straßenschlacht neulich gegen die Dennerstraße glatt verloren. Addi und sein kleiner Bruder Rolf kämpften, wie die meisten Barackler, barfuß, mit Pfeil und Bogen, und Katapulten, die besser und weiter schossen als unsere. Sie luden die Schleudern gleich mit Steinen, während wir mit Erbsen schossen. Als Karl, dem Anführer der Dennerstraße, ein Auge ausgeschossen wurde, mischte sich die Polizei ein. Aber wir hatten gewonnen und zogen wie Helden durch die Gassen, respektiert und geachtet. Weder auf dem Schulhof noch auf den abendlich-dunklen Straßen trauten sich gegnerische Jungs uns anzugreifen.
In Barmbek herrschte im Juni 1951 gespenstische Ruhe. Unsere Gang suchte das Abenteuer mal wieder in den Trümmern. Dort machten die Barackler die tiefsten und geheimnisvollsten Verstecke aus … Als Georg, mein rechter Banknachbar in der 5 B, wegblieb und am nächsten Tag Paul, machten uns die Spiele in den Ruinen doch Angst. Georg und Paul waren unter den Trümmern begraben worden. Mein bester Freund Paul, mit dem ich nach der Schule am Stadtparksee Ringkämpfe austrug, weil wir das stärkste Team sein wollten, war jetzt tot!
Ein toller Spielplatz!
Addi bestimmte, die Ritterspiele zu verlegen. Und zwar in den Stadtpark. Dorthin, wo die Rhododendren am dichtesten standen. Ich war, zwar in Hamburg geboren, erst vor einem Jahr mit meinen Eltern aus Wenzendorf vom Land in die Stadt gezogen. In unserem Dorf gab ich bei den Jungs den Ton an, und es gefiel mir ganz und gar nicht, dass Addi uns herumkommandierte, auch wenn er der Boss war. Alle folgten ihm. Missmutig trottete ich mit. Bewaffnet mit Schildern aus Türblättern oder breiten Dachlatten und Schwertern, spitz und scharf geschnitzte Besenstiele, im Hosenbund Holzdolche, so zogen wir die Alte Wöhr hinunter, am S-Bahnhof Stadtpark vorbei, zum Park. Erwachsene schüttelten entgeistert die Köpfe. Was heckten die Gassenjungs Barmbeks denn da schon wieder aus?
An der Saalandstraße begann der Stadtpark. Unweit davon, am Wasserturm (dem heutigen Planetarium), standen die großen, dichten Rhododendren in prächtiger Blüte, weiß und rot. Vor dem Blätterwald machten wir halt, schauten uns verstohlen um. Auf ein Zeichen von Addi schlüpften wir ins Dickicht wie Füchse in den Hühnerstall. Der Rhododendrenwald umschloss uns wie ein mächtiger, schummrig-grüner Dom. Natürlich war es verboten in den Rhododendren herumzutoben. Doch wir wollten nicht toben, wir wollten als König Artus Ritter die Feinde aus Thule verjagen. Jetzt musste ich Addi Recht geben, in den Rhodos des Stadtparks konnte man Thule am besten verteidigen! Erst einmal schwärmten wir aus und erkundeten zwei geeignete Bäume. Einen als Burg Camelot für die Ritter um Artus und Prinz Eisenherz. Einen als Lager für die Feinde. Ein Rhodobaum mit oberschenkeldicken Stämmen, in tief roter Blüte, wurde die Burg König Artus. Addi ließ zwischen die Äste eine Wolldecke spannen und hockte sich auf seinen Helm, einen weißen Nachttopf, den er seinem jüngsten Bruder weggenommen hatte.
„Hoffentlich ist euer Lager bald fertig!“ rief er in meine Richtung. Ärgerlich schaute ich zu ihm rüber, wie er da unter dem Baldachin saß und sich wie ein King aufführte, sich wahrscheinlich irre mächtig fühlte. Addi hatte sich mir nichts dir nichts zu König Artus erklärt, und mich mit sieben Jungs zu den bösen Hunnen. Das brachte mich auf die Palme!
Auf in den Kampf
„Los, lasst uns diesen Busch als Lager nehmen, dann greifen wir an und schmeißen die Ritter aus der Burg“, machte ich meinen Freunden Mut. Der Rhodostrauch war etwas schüttern, und die mitgebrachte Pappe nur notdürftig als Dach zu befestigen. Als Feldlager der Hunnen, die anzugreifen hatten, reichte es allemal. Addis Ritter, immerhin acht „Recken“, hatten leichtsinnigerweise ihre Waffen abgelegt und sich zur Beratung um Artus geschart, als wir mit wildem Geheul aus dem Gestrüpp brachen und über die Gegner herfielen. Im Kampfgetümmel versuchten wir die Ritter umzuwerfen und mit dem Schwert auf die Brust gedrückt, in Schach zu halten. Bei Vieren gelang das auch. Sie lagen auf dem Rücken, wie umgeworfene Suppenschildkröten und jammerten. Addi hatte jetzt den Pisspott auf dem Kopf, Schwert und Schild am Körper und drosch wie ein Berserker auf zwei meiner Angreifer ein.
Wenn Rhododendren weinen
Besenstiele krachten gegeneinander und barsten. Derbe Stöße wurden mit den Schildern abgewehrt. Schläge und Stöße prasselten schmerzhaft auf Arme und Oberkörper. Addi wurde der Helm weggeschlagen. Gerade bekam er einen Hieb auf den Kopf. Wir waren mitten im Schlachtengetümmel und es machte einen mords Spaß. Rechs und links flogen Blüten und kleine Äste durch die Luft. Dicke Äste knackten, wenn einer dagegen flog. Zartere Rhodos sahen bald aus wie gerupftes Federvieh. Einige der eben noch kampfunfähig liegenden Ritter hatten sich befreien können, aufgerappelt und warfen sich brüllend und fechtend auf meine kleine Horde wilder „Hunnen“. Besenstiele knallten gegeneinander, und es klang wie das „Singende Schwert“ von Prinz Eisenherz, der drei Gegner gleichzeitig abwehrte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Burg jetzt unbewacht war. Ich rief: „Peter!“ und zeigte nach rechts. Er kapierte sofort. Wir stürmten zur Burg, unter den Baldachin. Damit war die Tafelrunde eingenommen worden. „Gewonnen!“ stießen wir aus. Addi ließ vom Gegner Werner ab, und schlug zerknirscht einige Zweige nieder. Mit unserer so plötzlichen Einnahme hatte er nicht gerechnet. Keinesfalls wollte er sich geschlagen geben. „Revanche!“ keuchte er, „ihr müsst uns noch mal angreifen.“ „Nee, Addi, jetzt sind wir die Ritter. Ihr greift an,“ widersprach ich. „Was willst du? In die Burg? Ich bleibe König Arthus, klar!“ „Du bist und bleibst `n Arschloch!“ brüllte ich zurück. In aller Ruhe legte Addi jetzt Schwert und Schild aus der Hand und kam auf mich zu, cool wie Garry Cooper in High Noon. Den Film hatten wir uns erst gestern im Gloria Palast angesehen. Hernach fühlte sich jeder wie ein als Ritter verkleideter Revolverheld.
Kräftemessen
Addis Augen waren kleine Schlitze und kalt wie die einer Otter. „Was bin ich?“ zischte er. Er war zwar nur wenig größer als ich, aber ein erprobter Schläger, der nicht lange fackelte. Seine Position in der Gang hatte er sich erkämpfen müssen. Der Knabe kannte n’e Menge Tricks. Klar, er durfte alle Comics lesen, die da so im Umlauf waren. Schundhefte, Tarzan, Tom Prox, Akim und viele mehr, die mir meine Eltern regelmäßig wegnahmen. Sie würden verderben, hieß es. Addi war die Lektüre ein theoretisches Rüstzeug, ein „Schatz“, der mir bitter fehlte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihm mein Schwert gegen die Brust zu stechen und den Schild auf den Kopf zu dreschen. Unfair, aber wirkungsvoll. Doch dann merkte ich: an diesem Nachmittag, im grünen Blätterwald der Rhododendren des Hamburger Stadtparks ging es um mehr, als ums Kräftemessen. Da bot sich eine Chance, an die Spitze zu gelangen. Den Angeber Addi Weiß ins zweite Glied zu klopfen. Und das musste auf faire Weise geschehen. Zumal seine beiden „Leibburschen“ sich sofort auf mich stürzen würden. Ich war allein. Mein Freund Paul in den ewigen Jagdgründen, und die anderen hatten, wenn es um den Boss ging, sowieso die Hosen voll.
„Sag’ das noch mal, Würstchen!“ drohte er jetzt dicht vor mir. „Affenarsch!“
Meine Größe und Statur sind nicht gerade furchteinflößend. Allein schnelles Handeln und rasches Zuschlagen hatten dem anfangs als dämlich eingestuften Dorfjungen einen respektablen Platz im oberen Drittel in der Hierarchie der Barmbeker Straßengang verschafft. Diese Position galt es in jedem Fall zu verteidigen! Ich ballte meine Fäuste, spannte die Muskeln, zielte auf sein Kinn. Da spürte ich seinen rechten Fuß hinter meinen Beinen. Ein kurzer, harter Stoß, ich lag auf dem Boden. Als ich mich aufrappelte, spürte ich einen schmerzhaften Schlag auf der Nase. Blut tropfte auf meinen neuen Pullover. Augen tränten. Ich hangelte mich an einem Rhodostamm nach oben und bekam einen zweiten Schlag aufs rechte Auge. Damit war ich außer Gefecht.
„Die Hunnen greifen wieder an – klar! Der Wolf kann als Verwunderter im Lager rumliegen!“ höhnte Addi triumphierend. Ich kroch in unser Feldlager und versuchte die blutende Nase zu stillen. Schon tobten zwischen Büschen und Bäumen die Verteidigungs- und Eroberungskämpfe in aller Heftigkeit. Blüten flogen umher wie Daunen aus einer aufgerissenen Bettdecke von Frau Holle.
Ordnungshüter
Plötzlich rief jemand: „Uddels!“
Im Nu war der Kampfplatz verwaist. Ein Polizist rannte Addi hinterher – ergebnislos. Dabei flog ihm der Tschako vom Schädel. Ein anderer baute sich über mir auf. „Na Bürschchen, dich nehmen wir jetzt mal mit auf die Wache!“ Werner krabbelte aus seinem Buschversteck und stellte sich zu mir. Wenigstens einer, der mir beistand.
„Ah, da haben wir ja noch einen Übeltäter!“ Im nächsten Moment wurde Werner am Kragen gepackt und festgehalten. Der Schupo, der Addi nicht fassen konnte, packte nun mich am Schlafittchen und stellte mich auf die Beine. Dass meine Nase heftig blutete, kümmerte den Polizisten nicht, lediglich, dass seine feine, dunkelblaue Uniform durch Blut verfleckt wurde, machte ihn wütend, und so zerrte er mich barsch aus den Rhododendren, die Alte Wöhr hinauf. Werner, ebenfalls im festen Polizeigriff, trabte ergeben vor mir her.
Auf der Wache gab`s n’e ordentliche Standpauke vom Revierleiter, der schließlich auch unsere Namen und Adressen erfragte, was mir überhaupt nicht gefiel, da ich mir die Reaktion der Eltern verdammt gut ausmalen konnte. Nach einer Stunde hörten wir bekannte Stimmen. Werners und mein Vater waren, wie verabredet, eingetroffen, um uns in Empfang zu nehmen. Als wir aus dem Nebenraum, oder war es schon die Zelle? geführt wurden, lasteten böse Blicke auf uns. „Hier haben Sie Ihre Früchtchen!“ meinte der Revierleiter, „und passen Sie künftig besser auf sie auf. Die Rechnung über die zerstörten Rhododendren bekommen Sie von der Stadtparkverwaltung.“ Vater verabreichte mir eine deftige Ohrfeige. Das gefiel den Uddels, als erste erzieherische Maßnahme. Ob Werner auch eine einfing, weiß ich nicht. Er wurde gleich zum Ausgang gezerrt.
Ob die Eltern wirklich eine Rechnung von der Parkverwaltung bekommen haben und wenn, wie hoch diese ausfiel? Ich habe es auch nie erfahren. War mir auch wurscht. Schlimm war, dass ich 14 Tage Hausarrest bekam. Der einzige Trost daran war, dass mein blaues Auge kaum beachtet, abklingen konnte. Mit dem musste ich mich zwar in der Schule zeigen, Gott sei Dank aber nicht bei meiner Gang. Addi hätte mich damit mächtig aufgezogen.
Mit „Kampfplatz Stadtpark“ erinnert sich der Autor an seine spannende, aber bisweilen auch raue Kindheit (zehnjährig) nach dem Krieg in Barmbek, am östlichen Rand des Hamburger Stadtparks.
35 Jahre nach dem Abitur fährt Barbara zu einem Klassentreffen in ihre Geburtsstadt Gleiwitz. Bei einem Abstecher in den Vorort ihrer Kindheit ist es wie ein Déjà vu, als sie zwei Mädchen im Garten spielen sieht. Es erinnert sie an ihre Gemeinschaft mit ihrer Freundin Hanna, deren Großmutter Anfang der 1990er Jahre hierher zurückgekehrt ist. Aber was ist aus Hanna geworden?
Die Freundinnen hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. So wird Kathrin von K., Hannas Großmutter, nicht nur die Vergangenheit wieder aufleben lassen, sondern auch die Gegenwart lebendig machen und die Kindheitsfreundinnen wieder zusammenführen. Hanna, die sich nach dem Tod ihres Sohnes in ein Kloster zurück gezogen hat, und Barbara, die selbst einen querschnittsgelähmten Sohn hat, finden zu ihrer alten Freundschaft zurück. Renate Gandor-Glodny zeichnet ein einfühlsames Porträt von Menschen verschiedener Generationen, die Widrigkeiten in ihrem Leben überstehen müssen. Barbaras Sohn Alexander hat sich in einem geistigen Kosmos aus Literatur verschanzt und sich damit, ähnlich wie Hanna, in seinem Schmerz isoliert. Barbara lebt nur noch für Alexander und meint, kein Recht mehr auf ein eigenes Leben zu haben, solange es Alexander schlecht geht. In der wiedererstandenen Gemeinschaft der Freundinnen, ergänzt durch die Großmutter und Alexander sowie durch Andreas, der behutsam in Barbaras Leben tritt, erstarken die einzelnen Persönlichkeiten und finden zu einem tiefen Zusammenhalt. Wie der Buchtitel es schon benennt, ist diese Geschichte ein Plädoyer für Mut und Zuversicht, dass auch in den vermeintlich dunkelsten Momenten von irgendwoher ein Licht kommt und dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Gerade in der heutigen Zeit baut diese Art Lektüre die Leserinnen und Leser gewiss auf und entlässt sie mit einem positiven Gefühl.
Renate Gandor-Glodny wurde 1944 in Posen geboren und lebte bis zu ihrer Ausreise 1979 nach Hamburg in Gleiwitz/Gliwice. Sie studierte am Polytechnikum in Gliwice und schloss das Studium als Dipom-Ingenieurin ab. Seit 1960 schreibt sie, zunächst Gedichte, später auch Prosatexte und journalistische Texte. Sie ist außerdem freie Übersetzerin und Journalistin.
Renate Gandor-Glodny: Steh auf und geh Verlag Tredition, Hamburg 2012
Nicht umsonst beginnt das neueste Buch von Maren Schönfeld, der preisgekrönten Lyrikerin, mit einem Gedicht: „Du hast mir den Rücken gebeugt, mir im Nacken gesessen, meine Träume aufgezehrt, mir die Zeit gestohlen…“ Schon die ersten Zeilen von „Strategie des Schmerzes“ treffen den Leser mitten ins Herz. Da schreibt eine Autorin, die es von frühester Kindheit an lernen musste, mit teilweise unerträglichen Schmerzen zu leben. Da, wie Maren Schönfeld bereits im Vorwort anmerkt, Krankheit in unserer Gesellschaft als Störfaktor wahrgenommen wird, stellt der Umgang mit einem chronischen Leiden, gegen das bis heute kein wirksames Medikament entwickelt wurde, eine fast übermenschliche Herausforderung für die Betroffenen dar. Aber das Buch der Autorin mit dem etwas sperrigen Titel „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“, soll all jenen Mut machen, die sich bereits in ihr Schicksal ergeben haben und resigniert meinen, man müsse das Leiden halt so hinnehmen. Dass dies nicht so ist, beweist dieses schmale Werk auf jeder seiner 148 Seiten.
Odyssee durch Arztpraxen
Die in Kapitel 1 geschilderte gesundheitliche Geschichte der Autorin beschreibt ihre schier unendliche Odyssee durch die Praxen von Orthopäden, Physiotherapeuten, Allgemeinmedizinern und Schmerztherapeuten. Verblüfft sind alle über die enorme Beweglichkeit ihrer Patientin, die zudem noch regelmäßig Yoga treibt. Doch gerade diese „Hypermobilität“, die einer der Ärzte schließlich diagnostiziert, ist Maren Schönfelds Problem. Hier liegt der Schlüssel, der der Patientin ihr Krankheitsbild in einem anderen Licht zeigt und sie nach Rücksprache mit Fachleuten darin bestätigt, dass ihre Strategien, mit den Schmerzen zu leben, die einzig richtigen sind.
Akribisch blättert Maren Schönfeld ihr Leben vor uns auf, beginnend mit ihrer Geburt im Jahre 1970. Nachdem die Großmutter feststellt, dass ihr neun Monate altes Enkelkind zwei verschieden lange Beine hat und verschiedene Ärzte sich dieses Problems annehmen, beginnt eine unendliche Leidenszeit für das kleine Mädchen. Nur ein paar Stichworte: Die diagnostizierte Hüftdysplasie und linksseitige Hüftluxation erfordern nicht nur ständiges Röntgen, sondern auch Spreizhosen und Eingipsung bis zur Taille. Schlimmer geht’s nimmer. Oder etwa doch? Der aufmerksame Leser wird auf den folgenden Seiten eines Besseren belehrt und wundert sich darüber, was ein Mensch – zumal ein so junger – alles aushalten kann.
Maren Schönfeld protokolliert in den folgenden Kapiteln, wie sie trotz aller Widerstände und Schmerzen ihr Leben gemeistert hat. Es muss nicht betont werden, dass sie es in der Schule, wo Sport immer eine übergeordnete Rolle spielte, nicht leicht hatte. Da Maren langsam ist, wird sie nolens volens von den Mitschülern als Letzte in eine Mannschaft aufgenommen und mit Hand- und Medizinbällen attackiert, wenn sie im Tor steht. Aber Schwamm drüber, denn die Autorin hat einen wachen Verstand und kompensiert all diese Widrigkeiten mit ihrem Interesse an Literatur. Während andere laufen, springen und turnen, verschlingt sie Bücher von Erich Kästner, Christine Nöstlinger, Astrid Lindgren, Otfried Preußler und anderen Autoren. Ein gutes Beispiel dürfte Astrid Lindgren, die geistige Mutter von Pipi Langstrumpf, gewesen sein, die bekanntlich mit dem Schreiben ihrer weltweit berühmten Werke begann, als eine längere Krankheit sie ans Bett fesselte.
Zwischengedichte
Und da sind wir bereits bei einem weiteren Aspekt von „Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ – Maren Schönfelds wunderbaren Gedichten, die sie zwischen die Kapitel über ihre Krankheitsgeschichte eingestreut hat. Nicht immer leichte Kost, wie das folgende Gedicht „An der Angsthand“ beweist:
Gehen
kleine Schritte
die Angsthand hält
das klopfende Herz
keine Angst sagt die Angst
ich bin ja da lasse dich nicht
(S. 100)
Vom Alltag mit chronischen Schmerzen
In Kapitel 7 schildert Maren Schönfeld ihren Alltag mit „benennbarem“ und „unbenennbarem“ Schmerz. Sie weist darauf hin, dass alles Benennbare von anderen akzeptiert und mit Ratschlägen bedacht wird, während der Leidende mit dem nicht benennbaren Schmerz ganz allein ist und keine Hilfe von außen erwarten kann: „Du gehst durch tiefste Täler und stehst irgendwann wieder oben, und nebenbei lebst du dein Leben, spielst deine Rollen, und vielleicht ist das für andere Menschen das Hauptleben“, schreibt sie. Noch tiefere Einblicke in das zum Teil grausame Erleben der Betroffenen gewährt Maren Schönfelds Gedicht „Schmerz pur“ auf Seite 105.
Das vorletzte Kapitel dieses aufrüttelnden Buches beinhaltet alphabetisch geordnete „Praktische Stärkungen von A bis Z“, beginnend bei Arbeit, über Bewegung, Disziplin und Experimentieren bis W wie Wärme. Zu Z ist ihr nichts eingefallen, dafür aber zu gerade für die Damenwelt wichtigen Themen wie Kleidung, Kosmetik, Kultur und Schuhe. Letzteres dürfte jedoch ein Problem darstellen für jene Frauen, die gern auf sogenannten high heels herumstöckeln, auch wenn die Füße schmerzen. Maren Schönfelds Credo lautet: “Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir nur Schuhe tragen, in denen wir so gut wie möglich gehen können.“ Gut gebrüllt, Löwin. Aber sei’s drum.
Zu guter Letzt noch ein paar wertvolle Tipps von A bis Z im Hinblick auf mentale Stärkungen: Von Annehmen und Achtsam sein bis Zutrauen. Dem letzten Punkt, der sich eingehend mit dem Fortschritt der Medizin und besseren Behandlungs- und Heilungsmethoden als im Jahr des Heils 1970 befasst, sollte besondere Beachtung geschenkt werden. Denn hier keimt Hoffnung für alle Betroffenen auf.
Wer sich durch Maren Schönfelds Buch „durchgeackert“ hat, ist um viele Erkenntnisse reicher. Es dient auch als Anleitung für uns “Gesunde“, die nur hin und wieder eine Schmerztablette nehmen, sich in die Welt jener hinein zu versetzen, die tagtäglich mit zum Teil unerträglichen Schmerzen leben müssen. Es ist daher jedem zu empfehlen – ob Schmerzpatient oder nicht. Ein wenig Demut hat noch keinem geschadet. Dieses Buch ist nicht nur wegen seines klaren verständlichen Stils lesenswert, sondern beeindruckt besonders dadurch, dass die Autorin trotz ihres Leidensdrucks an keiner Stelle in Larmoyanz verfällt.
Die Lesung fand am 12. Juli in den Bethanien-Höfen der Evangelisch-Methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf auf Einladung der Hamburger Autorenvereinigung statt. Sabine Witt, die Vorsitzende der HAV, leitete die Veranstaltung gewohnt souverän.
„Wenn du Schmerzen hast, gehe langsam“ ist im Verlag Expeditionen erschienen, hat 148 Seiten und kostet € 6,90 als Taschenbuch und als E-Book € 3,99.
ISBN: 978-3-947911-07-3
An diesem Abend des 11. April schwieg die Orgel. Wo sonst Präludien von Bach und Buxtehude erklingen, erfüllten afrikanische Dschembé-Rhythmen die Kirche der Evangelisch-methodistischen Gemeinde in Hamburg-Eppendorf. Die Hamburger Autorenvereinigung hatte zu einer Lesung aus den neuesten Werken Ihres Mitglieds Wolf-Ulrich Cropp geladen.
In seinem Buch „Im Schatten des Löwen“ entführt uns der Autor in den Süden Afrikas – nach Simbabwe, Botswana und Namibia. Als der Mann mit der kecken weißen Mütze auf dem Kopf zu lesen beginnt, kann man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Die Reise ins Reich des Robert Mugabe, sozusagen in die „Höhle des Löwen“, erfordert schon eine gehörige Portion Mut. Die völlig irrationalen Vorschriften in diesem Land versteht kein Europäer. Man kann völlig grundlos von der Polizei festgenommen und eingekerkert werden, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Wie das folgende Beispiel zeigt:
„In den Morgenstunden meiner Verhaftung, Arrestierung …. bin ich einfach zu spät aufgewacht“, schreibt Cropp. Dass nun ausgerechnet ein Marabu, ein Unheil verkündender Vogel, der sich von Aas ernährt, vor der Zelle hockt und ihn beäugt, verheißt nichts Gutes. Wie soll der „Delinquent“ nur dieser Hölle entkommen? Aber der Autor kennt seine Tricks. Gerade wenn es spannend wird, blockt er ab. Honi soit qui mal y pense. Wer Näheres wissen will, soll halt das Buch erwerben und lesen, wie er sich schließlich aus dieser misslichen Lage befreite.
Abenteuer auf dem Schwarzen Kontinent
Eine kleine Indiskretion sei an dieser Stelle erlaubt. Auch im sozialistischen Paradies des Herrn Mugabe wirkt Bakschisch wie ein Sesam öffne dich. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis war Cropps Weg frei für veritable Abenteuer auf dem Schwarzen Kontinent. Manche unter ihnen ließen dem Zuhörer das Blut in den Adern erstarren. Selbst jenes aus zweiter Hand wie das Schicksal der Reptilienforschers Dr. Jonas Hamilton, der nach Einbruch der Nacht im Sambesi von einem etwa fünf Meter langen Krokodil angegriffen wurde und in dessen mit Knochen, Fell und Kot übersäten Höhle landete. Nur mit Mühe konnte er sich trotz einer schweren Verletzung ans Ufer schleppen, wo ihn helfende Hände fanden und ins nächste Hospital schafften. Während eines Aufenthaltes in der Psychiatrie erhängte sich der schwer traumatisierte Mann später. Hat Wolf Cropp sich etwa durch diese Horrorgeschichte von seinen gefährlichen Abenteuern zu Lande und auf dem Wasser abhalten lassen? Mitnichten. Ganz im Gegenteil, denn bereits am nächsten Tag ruderte er mit seinen Begleitern „ins Inselgewirr vor den (Victoria) Fällen; vorbei an Princess Christian Island, Princess Victoria Island schließlich Livingstone Island“. Und dies trotz aller Gefahren, die in der Tiefe des Flussbettes lauerten. Denn noch gefährlicher als Krokodile sind die Flusspferde – Hippopotamus, im Plural kurz Hippos – die gern einmal mit ihren massigen Körpern unter die Boote tauchen und sie zum Kentern bringen. Wer einmal das aufgerissene Maul eines solchen Ungeheuers gesehen hat (im Buch zu besichtigen auf Seite 78), erkennt, welch tödliche Verwundungen dessen riesige Hauer anrichten können. Dennoch, die Flussfahrt geriet zu einem wunderbaren Ausflug, der im Victoria Falls Hotel mit einem festlichen Dinner gekrönt wurde. Als Hauptgericht wurden Steaks vom Krokodil gereicht. Nach Auskunft des Autors eine Delikatesse, zart wie Geflügel, nur ungleich würziger. Den Nachtisch an diesem Abend servierten die beiden leidenschaftlichen Musikerinnen der Gruppe Toubaba in Form einer getrommelten Eigenkomposition. Hinreißend!
Jenseits der Westwelt – Wasser – Wüste – Eis
Der zweite Teil der ebenso kurzweiligen wie spannenden Lesung war Ausschnitten aus „Jenseits der Westwelt– Wasser – Wüste – Eis“ gewidmet. Wiederum ein erstaunliches Buch, das den Leser auf die Reisen – oder besser – Expeditionen des Autors in die unterschiedlichsten Klimazonen dieser Welt mitnimmt. Hier hatte Cropp das Kapitel über Sitten und Gebräuche der Mursi im Süden Äthiopiens ausgewählt. In diesem riesigen Gebiet mit seinen Savannen und hohen Bergen gelten Frauen als besonders begehrenswert, wenn sie Tellerlippen haben, deren „Besitz“ eine langwierige und schmerzhafte Prozedur voraussetzt. Wer also schön sein will. muss leiden. Wolf Cropp schildert diese barbarische (Un)sitte in seinem Buch sehr detailliert. Jungen Mädchen am Ende der Pubertät wird die Haut unter der Unterlippe ausgeschnitten, zwei untere Schneidezähne werden gezogen, und die erste kleine Scheibe wird eingesetzt. Diese Scheiben – wahlweise aus Ton oder Holz – werden über einen längeren Zeitraum immer größer, wobei auch die Unterlippe ausgedehnt wird, bis sie die Größe eines Tellers erreicht hat. Gott sei Dank schwindet dieser Brauch, der, wie die Mursi sagen, nur das Erwachsen- und Älterwerden symbolisiert, immer mehr aus dem Alltag der Menschen. Junge Mädchen verweigern sich heute dieser grausamen Prozedur, die ihre Mütter und Großmütter noch klaglos ertragen mussten.
Fazit: Ein sehr gelungener Abend mit einem Autor, der die seltene Gabe besitzt, seine eigenen Werke flüssig ohne übertriebenes Pathos zu lesen und der das Publikum vom ersten Augenblick in seinen Bann schlägt. Wolf-Ulrich Cropp ist Schriftsteller und Forscher in Personalunion und steht ganz in der Tradition eines Alexander von Humboldt, der gleich ihm die Welt bereiste, um sie zu erkunden und die verschiedenen Ethnien zu verstehen, ohne die Menschen anderer Kulturkreise zu bevormunden oder ihnen unsere westliche Zivilisation überstülpen zu wollen. Wolf Cropp beeindruckt durch seine Art, jedem, den er auf seinen ausgedehnten Reisen trifft, freundlich und einfühlsam zu begegnen.
Es liegt ihm fern, Sitten und Gebräuche zu kritisieren – selbst wenn sie ihm noch so befremdlich erscheinen. Sicherlich ist das auch einer der Gründe, warum er von seinen waghalsigen Abenteuern kreuz und quer durch alle sechs Kontinente stets unversehrt zurückgekehrt ist. Wolf Cropps Fangemeinde wünscht sich noch viele weitere spannende Bücher, die allerdings einen Nachteil haben. Nämlich den, dass es sie (noch) nicht als Hörbücher gibt. Über dieses Thema sollten seine Verlage einmal gründlich nachdenken.
„Im Schatten des Löwen“, erschienen bei DuMont, kostet Euro 14.99
„Jenseits der Westwelt“, erschienen bei Kadera, kostet Euro 26,–
Zum Lyrikband „Global ins Affental“ von Rüdiger Stüwe
Mit einem gewissen Herrn Fiek, dessen Namen auf Ansage der Mutter in die Länge zu ziehen war – die Kinder gehorchten in diesem Fall aufs Wort – (Aufs Wort, S. 11) beginnt der Gedichtband des Lyrikers Rüdiger Stüwe aus Schleswig-Holstein. Und daran, dass die Kinder in diesem Fall gehorchten, ist sogleich zu erkennen, dass sie ansonsten eher aufmüpfig waren. Die Aufmüpfigkeit hat der Schriftsteller sich bewahrt und in seine meist kurzen, immer prägnanten Verse verstrickt. Mit wachem Verstand, scharfem Blick und einer Portion Ironie – die manchmal ins Tragische geht – betrachtet Rüdiger Stüwe sein Umfeld mit den weniger oder mehr bekannten Zeitgenossen. Er widmet sich dem (eigenen) Älterwerden oder, nennen wir es ruhig beim Namen, dem Verfall mit tragikomischer Note: „Noch immer / sehe ich mich / hoch zu Ross / Windmühlenflügel // bekämpfend doch / meine Figur / ähnelt schon lange / Sancho Pansa.“ (Gravierende Veränderung, S. 18).
Fünf Kapitel umfasst der Gedichtband, dessen Bandbreite von freien Gedichten über Lautgedichte im Stile Jandls bis zu Kinderversen – nicht nur für Kinder – reicht. Er versammelt Aphorismen, Haiku und Limericks. Diese Formen verbindet Rüdiger Stüwe auch mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens und bezieht Position zu von ihm empfundenen Missständen regional und global. Das stumme Paar, das jeweils zum eigenen Smartphone redselig wird und damit das Kaffeegartenpublikum erfreut (Moderne Kommunikation, S. 70); das Trumpeltier, von es dem unverblümt heißt: „ (…) Mit alternativen Fakten / bringst du den all so Beknackten / sicher nicht zu Fall. (…)“(Trumpeltier, S. 72) bis hin zum Nachbarn, der mit seinem im Wind schellenden Klangspiel die Nachbarschaft in den Wahnsinn treibt (Gegenlärm, S. 68) – Rüdiger Stüwe nimmt all das wahr und lenkt die Leseraufmerksamkeit auf diese kleinen oder auch größeren Momente und Situationen, mit denen wir alle zu tun haben und die uns angehen, ob wir wollen oder nicht.
Ich würde ihn als Realpoet bezeichnen: Rüdiger Stüwe sagt, was ist, er nimmt kein Blatt vor den Mund, er verzichtet auf Schnörkel und Brimborium, seine Sprache ist eingängig und eloquent. Oftmals habe ich gegrinst, manchmal blieb mir das Grinsen auch weg. Und wann dem Lyriker die Wutwurzel schnurzel ist, das möge der geneigte Leser selbst herausfinden (Wutwurzel schnurzel, S. 84).
Rüdiger Stüwe: Global ins Affental, Donat Verlag, Bremen 2018
Biografie: Geboren in der Kalten Heimat, vor den Russen geflohen mit Mutter und Bruder; verschlagen ins idyllische Heidedörfchen Schneverdingen, wo die Häuser noch nummeriert waren und die Leute sehr fromm, jedenfalls war die Kirche immer voll; das färbte nicht sehr ab, nach krummer Schullaufbahn und anschließender Flucht ins Schülerheim (in Hermannsburg) Industriekaufmann gelernt (Hanomag Hannover); eigentliche Lehre auf dem Fußballplatz und im Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt Hannover; nach der Desertation als kaufmännischer Angestellter ins Lehrfach (Deutsch und Geschichte) ging es mit der Firma bergab, zur Zeit ist sie in japanischer Hand (Kommatsu); Lehrerlaufbahn, die letzten 18 Jahre an einer Gesamtschule, überzeugter Anhänger einer gemeinsamen Schule für alle Schüler bis zum 10. Schuljahr; heute als Schriftsteller lebend in Ellerbek, Mitglied im deutschen Schriftstellerverband (VS), im Literaturzentrum e.V. Hamburg, in der Hamburger Autorenvereinigung und im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.
Es gibt Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Denn sie zu lesen ist, als öffneten sich neue Räume, die entdeckt, betrachtet und bewohnt werden wollen; die lebendig werden durch den neuen Bewohner, der sich in ihnen bewegt. So ein Buch ist „Bodenkunde“ des Lyrikers André Schinkel aus Halle. Seine Gedichte erschließen sich nicht schnell, sie fordern Beschäftigung, auch mehrfache, sie verlangen ihren Lesern etwas ab. Und wer sich darauf einlässt, dem öffnet sich der Sprach- und Bildkosmos des Schriftstellers Schinkel in einer Weise, die einen verändert. Ja, diese Gedichte können etwas verändern im eigenen Weltbild, sie lassen einen neuen, anderen Blick zu – beispielsweise auf Sepien, jene Tintenfische, die man womöglich überhaupt noch nie betrachtet haben mag. Im gleichnamigen Zyklus verwendet, bringt mich die Lektüre der Gedichte zunächst in die Recherche nach dem Meeresgetier, und auch wenn das nicht wichtig ist, zeigt es die sorgfältige Wahl der Metapher: In der Homöopathie wird die Substanz Sepia u. a., wenn der Kranke „eine gewisse emotionale Distanziertheit und Kühle“[1] zeigt, und auch bei Frauenleiden. Es ist nicht wichtig, um diesen starken Zyklus zu verstehen, aber es zu wissen, verleiht ihm noch mehr Tiefe als er ohnehin schon mitbringt. Heute noch Liebesgedichte schreiben, über unglückliche Lieben zumal – ein Wagnis, dünnes Eis. So vieles schon tausendfach gesagt, kaum eine Metapher, die nicht bereits irgendwo verwendet wurde. Aber bei André Schinkel ist alles neu, dicht, „rastlos und atemlos“[2], düster verzaubert durch das Sepienthema und dabei so anerlebbar, nachfühlbar, verstörend schön: „(…) Das ist es, was ich von dir behalte: das Leuchten der / Sepien-Sprossen im Rausch, im bebenden Quirlen solch / Endloser Schwärme in der Brackschicht des Wassers; (…)“[3]
Lesen, immer wieder, leise und laut, nur diese sieben Gedichte des Sepien-Zyklus, und von ihnen umgeben, umschlossen sein, sich in der dichten Sprache bewegen und merken, wie sich einige Verse von selbst ins Gedächtnis einbrennen und sich allein rezitieren. Damit habe ich das Buch begonnen, nachdem ich André Schinkel im März 2018 in Leipzig daraus lesen hörte. Fast genau ein Jahr später habe ich natürlich das Buch mehrmals durchgelesen, all die thematisch unterschiedlichen und breit gefächerten Gedichte, die seinen archäologischen Hintergrund ebenso widerspiegeln wie seine weiteren Tätigkeiten, vieles verbirgt sich zwischen und hinter den Zeilen. Dieses Buch werde ich nie „durchhaben“, glücklicherweise, denn diese Gedichte bleiben ein Raum, der sich für mich geöffnet hat und den ich jederzeit wieder aufsuchen kann. Seine Opulenz, die Sperrigkeit der lyrischen Komposition, die dafür sorgt, dass man sich an manchen Gedichten durchaus ein bisschen abarbeiten muss, hier und dort ein Wort nachzuschlagen hat und überlegen darf, wie dieses und jenes Poem sich in der Beziehung zum Autor und dann zum Leser stellt – das sind für mich die Freuden der Lyrik. Zwischendurch finden sich an konkrete Poesie angelehnte sowie dem Tanka-Maß entsprechende Gedichte, die einen Kontrapunkt oder vielleicht eher einen weiteren Raum hinter dem Raum bilden, in jedem Fall aber die poetische Bandbreite abbilden.
[1] www.homöopathie-online.info [2] SEPIA, II, S. 18 [3] SEPIA, VII, S. 23
André Schinkel wurde 1972 in Eilenburg geboren, er wuchs in Bad Düben und im Bitterfelder Raum auf. 1988 bis 1991 erlernte er den Beruf eines Rinderzüchters mit Abitur. Er studierte ein Jahr Umweltschutztechnik und danach an der halleschen Universität Germanistik und Archäologie, 2001 erwarb er den Grad eines Magister artium. Seit 2005 arbeitet Schinkel als freier Autor, Lektor, Übersetzer, Herausgeber und Redakteur – so leitet er die Redaktion der Literaturzeitschrift oda – Ort der Augen und ist Redaktionsmitglied der Marginalien. Texte von André Schinkel wurden in siebzehn Sprachen übersetzt, er nahm an Autorentreffen und Poesiefestivals in Italien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Belgien, Bulgarien, Armenien, Bergkarabach teil und wurde als Stadtschreiber in Halle, Ranis und Jena tätig. Seit vielen Jahren arbeitet André Schinkel als Autorenpate, Dozent und Workshop-Leiter an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Seine Arbeit wurde wiederholt mit Preisen und Stipendien geehrt, so u. a. mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis, dem Joachim-Ringelnatz-Förderpreis, dem Walter-Bauer-Preis und dem Harald-Gerlach-Stipendium des Landes Thüringen. Seit 2016 gibt er die Edition Muschelkalk im Wartburg-Verlag Weimar heraus. Schinkel ist Mitglied des PEN, der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt und der Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in Halle (Saale) und ist Vater zweier Töchter.
Albert Camus´ “Der erste Mensch“ im Altonaer Theater
Was verbindet die bundesweite Initiative zur Alphabetisierung und Grundbildung (AlphaDekade) mit dem Text eines Literaturnobelpreisträgers? Warum begleitet AlphaDekade den Schauspieler Joachim Król auf einer Tournee? Nachdem Król im Altonaer Theater aus Albert Camus´ unvollendet gebliebenen Roman „Der erste Mensch“ gelesen hat, sind diese Fragen beantwortet.
„Der erste Mensch“, Camus´ intimster und persönlichster Text, erzählt die Geschichte seiner Kindheit. Einer vaterlosen Kindheit – Lucien Camus fällt 1914, ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes, im 1.Weltkrieg – im Armenviertel von Algier. In einer Wohnung, die nur das Allernotwendigste enthält und in der meist brütende Hitze herrscht. Camus´ Familie besteht aus einem gutmütigen, halbdebilen Onkel, einer dominanten Großmutter, deren bevorzugtes Erziehungsmittel der Ochsenziemer ist, von dem sie häufig Gebrauch macht, und seiner fast tauben, sanften Mutter. Einer Analphabetin, deren Wortschatz keine 500 Wörter umfasst und die dem Kind als abgewandte, schweigende Figur am Fenster in Erinnerung bleibt. Eine Kommunikation mit ihr ist beinahe unmöglich. Der kleine Junge liebt diese sanfte, abwesende Mutter und sehnt sich nach ihrem viel zu seltenen Lächeln.
Und doch ist es auch eine Kindheit wie im Paradies. Geradezu hymnisch schreibt Camus immer wieder von der Schönheit des Lichts, vom Schwimmen im Meer, von der Sonne, von Freundschaft und der Abwesenheit falschen Überflusses, von seiner Freude am Dasein unter dem heißen afrikanischen Himmel. „Das Elend hinderte mich daran zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“
Das Wunder der Bildung
Diesen Satz hätte Camus so nie formulieren können, nie wäre er zu Papier gebracht worden, hätte es nicht einen Lehrer gegeben, der sich seiner annahm. Louis Germain gelang es, die strenge Großmutter davon abzubringen, den 10-Jährigen als Hilfsarbeiter zu verdingen, damit er etwas zum Familieneinkommen beitrage. Unentgeltlich half Germain seinem Schützling bei der Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium, unterstützte und ermutigte ihn.
Als der Schauspieler Joachim Król diese für Camus´ Entwicklung so wichtige Passage das erste Mal las, hat er an seine eigene Biografie gedacht: „Ich war ein Bergarbeitersohn in den sechziger Jahren im Ruhrgebiet. Und genau wie bei Camus kam eines Tages ein Lehrer zu uns und bat meinen Vater zum Gespräch. Was zum Ergebnis hatte, dass meine Eltern mich aufs Gymnasium gehen ließen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Nach Feierabend ist dieser engagierte Lehrer zum Hausbesuch gekommen und hat wesentliche Weichen für mein Leben gestellt.“
Der junge Camus erlebt den von Louis Germain erkämpften Eintritt in die höhere Schule zunächst als Verlust. Die Welt der Bildung und des Bürgertums ist ihm fremd. Wenn Klassenkameraden von Koffern voller alter Briefe, Kleider und Spielsachen auf den Dachböden der elterlichen Häuser, von Fotoalben und ihrer Familiengeschichte erzählen, bleibt er stumm. Armut, so begreift er, hat keine Zeit. Wer Tag für Tag ums materielle Überleben kämpft, beschäftigt sich nicht mit Vergangenheit oder Zukunft, weiß nichts von Politik und fernem Weltgeschehen. Wer in eine solche Familie hineingeboren wird, ist wie „der erste Mensch“. Ein Mensch ohne Wurzeln, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit, nirgendwo zuhause.
Camus´ Lehrer wiederum sind irritiert von seinem familären Hintergrund. Ein Haushalt ohne Bücher oder Zeitschriften, Erziehungsberechtigte, die keine Unterschrift leisten können – was für das Kind selbstverständlich und normal ist, löst bei ihnen Befremden aus. Unübersehbar jedoch ist das Talent und der Lernwille, ja, die Lerngier und Lesewut ihres scheuen neuen Schülers.
Camus Text, er selbst hat ihn als sein Hauptwerk bezeichnet, blieb unvollendet. Nach seinem Autounfall im Januar 1960 fand man neben dem tödlich Verletzten eine schwarze Ledermappe; darin das handgeschriebene Manuskript mit Anmerkungen und Verbesserungen. Und der Widmung an seine Mutter: „Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können.“
Kopfkino, das unter die Haut geht
Joachim Król erzählt die bewegende Kindheitsgeschichte unterstützt von fünf Solisten des l’orchestre du soleil. Die vom Komponisten Christoph Dengelmann eigens für seinen Vortrag komponierten Melodien greifen Elemente algerisch-französischer Pop- und Volksmusik auf. Sie begleiten, interpretieren und unterstützen die Rezitation.
Den Zuhörern, Król selbst wäre es am liebsten, wenn „die Leute von einem Kopfkino“ sprechen würden, geht die Aufführung unter die Haut.
Und so erfüllt sich hoffentlich der Wunsch von AlphaDekade, die Aufführung möge Theaterbesucher für das Thema Alphabetisierung sensibilisieren. Wie notwendig dies ist, zeigt die Tatsache, dass jeder siebente Erwachsene in Deutschland ein funktionaler Analphabet ist und zwar einzelne Wörter und Sätze lesen, nicht aber zusammenhängende – auch kürzere – Texte verstehen kann.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek erklärte zum Auftakt der Tournee: „Die Familie, der Kollege, die Lehrerin des Kindes oder die Betreuungsperson im Jobcenter – sie alle können, wie Louis Germain, Mutmacher sein, wenn sie eindeutige Anzeichen erkennen, Betroffene ansprechen und an die richtige Stelle weiterleiten.“
Nicht aus jedem Kind kann ein Nobelpreisträger werden, aber von der Teilhabe an zahlreichen Bereichen des öffentlichen Leben sollte niemand auf Grund mangelnder Lese- und Schreibkenntnis ausgeschlossen bleiben. Wir brauchen viele Louis Germains. Könnten wir selbst einer sein?
DAP-Mitglied Lilo Hoffmann hat einen Roman geschrieben, der kürzlich im Verlag „Tinte & Feder“ erschienen ist. Titel: Das Glück ist selten pünktlich.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Psychotherapeutin Julia, die ohne Vorwarnung von ihrem Mann Steffen wegen einer anderen Frau verlassen wird. Plötzlich steht sie vor den Ruinen ihres Familienlebens. Aber eine Pause gibt es nicht für Julia – die Patienten brauchen sie, Geld muss verdient werden und ihre pubertierende Tochter Lena findet ganz eigene Wege, um mit der neuen Situation umzugehen.
In all dem Gefühlschaos merkt Julia bald, dass so eine Trennung durchaus gewisse Vorzüge hat, und sie beschließt, ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen: mit Nachbar Hannes, der überraschend gut tanzen kann, bei einem Glas Whiskey, im Sportstudio… und mit dem charmanten Sascha. Die Frage ist nur: Was will Julia wirklich? Und mit wem?
Übrigens, die Geschichte spielt unter anderem in den Hamburger Stadtteilen Blankenese, Altona, Othmarschen und Eppendorf. Der Roman ist auf Bestellung erhältlich in allen Buchhandlungen sowie im Internet.
Der Reisebürokaufmann Rainer Neumann, der von Berufs wegen in seinem Leben ständig in der Welt unterwegs war, hat auf humorvolle Art und Weise besondere Erlebnisse, die unterhaltsam oder auch skurril waren, aufgeschrieben und ein Buch mit dem Titel „Passiert. Notiert. Bedacht. Gelacht.“ veröffentlicht.
Da der Autor in Hamburg lebt, kommt in dem Band auch die Heimat nicht zu kurz. So berichtet er unter anderem von Menschen, die er an Alster und Elbe, in Barmbek und in St. Georg traf. Besonders gern erinnert sich Rainer Neumann an seine Begegnung mit Siegfried Lenz. Mit ihm trank er einst in Othmarschen den ersten Aquavit seines Lebens und diskutierte mit dem bekannten Schriftsteller über so manches literarische Werk.
Rainer Neumanns Buch trägt den Untertitel „Alltagsgeschichten von nebenan und unterwegs“. Dazu meint der Autor: „Wer aufmerksam ist, kann Ungewöhnliches überall entdecken.“
Die zu Papier gebrachten Beobachtungen sind im Kadera-Verlag erschienen und können in allen Buchhandlungen bestellt werden.
Es ist bruttig heiß, und das schon seit Monaten. So verwöhnt von der Sonne waren wir doch noch nie – oder zumindest ziemlich selten. Wo sonst über ständigen Regen und niedrige Temperaturen geschimpft wurde, wird jetzt über die lähmende Hitze gemeckert. Ja, es ist wirklich heiß an diesen Tagen unter dem Canis Major, dem Sternbild des Großen Hundes. Und erfrischende Regenfälle und angenehme Kühle sind in naher Zukunft nicht zu erwarten.
Erinnern wir uns doch einmal an unsere Schultage im Hochsommer. Bei 28 Grad Celsius war Hitzefrei angesagt. Zeigte das Thermometer lediglich schlappe 27 Grad, wurde von dem Mutigsten der Klasse kräftig auf dasselbe gehaucht und dem Lehrkörper triumphierend aufs Pult gelegt. Aber der brave Mann oder die brave Frau – je nachdem, wer gerade die Klassenaufsicht führte – ließ sich nicht täuschen, schlug das Thermometer herunter und verkündete kühl den wahren Wärmegrad. Pech gehabt. Da musste bei hohen Temperaturen weiter gelernt und geschwitzt werden. Denn Klimaanlagen waren noch Zukunftsmusik. Continue reading „Hundstage“
Am 23. Juli begann der 18. Meisterkurs für Liedgestaltung mit einem Eröffnungskonzert im Schloss vor Husum. Feride Büyükdenktas (Mezzosopran) und Ulf Bästlein (Bassbariton) sangen Lieder von Johannes Brahms, Gustav Jenner, Anton Bruckner und Martin Plüddemann, begleitet von den Pianisten Charles Spencer und Hedayet Djeddikar. Susanne Bienwald erzählte vom Netzwerken im 19. Jahrhundert.
Wie hieß er gleich? Plüddemann? Kennen Sie nicht? Keine Angst – die rund 80 Gäste des Konzerts hatten diesen Namen auch noch nicht gehört. Ganz im Gegensatz zu Ulf Bästlein, dem gebürtigen Husumer, in Graz lebend. Er hat sich den unbekannten, vergessenen Komponisten der Liedkunst verschrieben, und sein derzeitiges Projekt heißt Gustav Jenner. Bästlein möchte Jenners Kompositionen mit Konzerten und einer CD zu neuer Aufmerksamkeit verhelfen und teilte bereits in seiner Eröffnungsrede mit, dass er sein Preisgeld aus dem Hans-Momsen-Preis, den er dieses Jahr erhält, komplett in dieses Projekt investieren wird.