Von Hans-Peter Kurr
Die in Deutschland naturalisierte und verheiratete brasilianische Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin Ariane de Melo freut sich darüber, dass vor kurzem unter dem Titel „A História da Hospedaria na Estrada“ (Die Vergessene Geschichte der Herberge am Highway) ihr zweiter Roman in portugiesischer Sprache in Brasilien und Portugal erschienen ist.
Da de Melo seit zwei Jahren Mitglied der „Die Auswärtige Presse e.V.“ ist, freuen wir uns, an dieser Stelle – zum besseren Kennenlernen der begabten , fabulierfreudigen Kollegin – eine Kurzgeschichte aus ihrer Feder zu publizieren :
Violinschlüssel
Heute drang ihre Musik wieder durch das Fenster des Gefängnisses.
Ich weiß immer noch nicht, was sie spielt, aber es klingt wie Magie. Sie füllt mich und meine einsamen Tage mit Schönheit, und ich bete für sie, als Zeichen meiner Dankbarkeit. Es schmerzt mich, dass ich nicht weiß, wie sie heißt oder gar, wie sie aussieht. In meinen Träumen hat sie rote Haare, eine zarte weiße Haut und große karamellfarbene Augen. In meinen Träumen führe ich sie aus, wir dinieren, tanzen, lachen… Am Ende des Abends spielt sie ihre Geige für mich. Sie schließt dabei die hellen Augenlider, um die Melodie besser spüren zu können, und mein Herz ist dann so voller Bewunderung, dass ich kaum noch atmen kann.
Ich weiß nicht, wo genau sie ist, von diesem Verlies aus kann ich nichts erkennen, aber manchmal, wenn sie ihre Saiten streicht , weint sie; das höre ich genau. Sie schluchzt stimmlos, wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Ich fühle ihre Pein, als wäre sie die meine; so hart treffen mich ihre Tränen. Oh, wer bringt dich zum Weinen, schöner Engel? Sage es mir ,und ich werde ihn baumeln lassen, wie ein Ketzer! Wenn ich doch bloß noch Offizier wäre! Aber ein Offizier bin ich, weiß Gott warum, nicht mehr.
Ich gehe die hölzernen Wände tagtäglich entlang, in der Hoffnung, ihre Schwachstellen zu finden, auszubrechen, um der Welt zu erzählen, dass ich nichts verbrochen habe, dass ich unschuldig bin. Dann würde ich an jeder Tür der Stadt lauschen, bis ich meine Geigerin gefunden hätte!
Ich schreie häufig, aber sie ignorieren mich alle. Nie sehe ich ein Gesicht, dessen Mund mir erklären kann, weshalb ich in Gefangenschaft leben muss. Ich höre Schritte, sie sind so nah, aber ich sehe nie die dazugehörigen Füße. Das schöne Holzgefängnis hat keine Türen. Auch keine Gitterstäbe, oder Ketten. Lediglich die „S“-förmigen Fenster an der Decke, durch die, die lebensrettenden Klänge meines Engels zu mir gelangen.
Ich bete laut; meine Stimme hallt durch den leeren Raum, schlägt die braune Vertäfelung mit Wucht und Eifer, trifft jedoch nur meine eigenen Ohren. Ich bin heiser und müde. Ich weiß nicht, wie ich hier gelandet bin. Ich weiß nicht einmal, wo das Hier ist!… Ich habe nur diese schrecklichen Erinnerungsfetzen an jene Frau, die man eine Hexe nannte, die ich auf den Scheiterhaufen warf. Sie spuckte unverständliche Worte in meine Richtung. Sie sagten mir, ich sei verflucht….
Es ist wieder dunkel, und meine Schläfen schmerzen. Die Musik verstummt. Die Geigerin ist fort. Mir kullern dicke Tränen der Einsamkeit über das Gesicht. Der Boden bewegt sich unter mir. Immer dieses seltsame Schaukeln. Ich rutsche erneut über das Holz. Stillstand. Stille.
„Du musst dich von der Gesellschaft sehen lassen, Isabelle! – sagte ihre Mutter, als sie die schwere, weiße Tür des Musikzimmers hinter sich schloss.
„Aber, wenn die Musik doch das einzige ist, das mir Freude bereitet – lächelte Isabelle ihr strahlenstens Lächeln. und brachte die Mutter zum Lachen.
„Du bist unverbesserlich, Kind! Dein armer Vater verzweifelt noch an Ausreden für deine Verehrer. Wir müssen uns ständig Neues einfallen lassen.
Sie gingen Seite an Seite den Flur entlang, Richtung Speisesaal.
„Was soll ich bei diesen Langweilern und ihren noch langweiligeren Geschichten? Es ist fast so, als wären sie alle nur ein einziger Mann, die Geschichten sind immer dieselben. Vater braucht keine neuen Ausreden, eine einzige genüg. Danke, Mama, aber lieber verbringe meine Abende mit Johann und Wolfgang Amadeus. Sie sind leidenschaftlich und können meinen Ruf keineswegs Schaden. “
Die Mutter hielt einen Augenblich inne, angesichts des unverschämten Benehmens ihrer Tochter. Dann lächelte sie und legte liebevoll einen Arm über Isabelles Schulter.
„Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht ans Heiraten denkst, dennoch frage ich mich, ob du in Zukunft nicht etwas in deinem Leben fehlen wird. Es gibt so viele gute junge Männer, die bereit sind, einem so schönen Mädchen, wie dir, den Hof zu machen. Hast du keine Sehnsucht nach der Liebe, mein Kind? Die hat jeder.“
Isabelle warf den Kopf auf den Arm ihrer Mutter, wobei ihr die roten Locken, wie aufsteigender Flut, auf die Brust fielen. Ihre karamellfarbenen Augen dachten verträumt nach.
„Weißt du, Mama? Irgendwas sagt mir, dass die größte Liebe, die ich je bekommen könnte, in die hölzernen Wänden meiner Geige gefangen ist.“
Ende