
Respekt! Regisseur Paul Glaser hat den Mut, völlig unbekanntes Terrain zu betreten und einen ungewöhnlichen, zumal unblutigen Thriller mit vier brillanten Darstellerinnen und Darstellern auf die Bühne zu bringen.
In der Tat, „Anthropology“, geschrieben von der amerikanischen Erfolgsautorin Lauren Gunderson, ist eine veritable Herausforderung. Im Stück geht es um die jüngst so häufig beschworene künstliche Intelligenz, kurz KI. Wie sich diese auf unsere Gesellschaft auswirkt, welche Chancen und Gefahren sie birgt, wird in diesem, 2023 im Londoner Hampstead Theatre uraufgeführten Science Fiction-Thriller, eindrucksvoll dargestellt.
Dies vorab zum besseren Verständnis: Anthropologie, abgeleitet vom griechischen „Anthropos“, der Mensch, bedeutet soviel wie das Wissen über den Menschen in all seinen Facetten. Alles klar?
Der Plot…
Trauer, die nicht enden will
Merril, eine junge erfolgreiche PC-Spezialistin (Carolyn Maitland), befindet sich in einem Dilemma. Vergeblich sucht sie nach ihrer jüngeren Schwester Angie (Emma Langmaid) , die vor über einem Jahr spurlos verschwand. Wurde das junge Mädchen von Unbekannten entführt? Wir begegnen Merril in ihrem riesigen, mit Rechnern und blinkenden Bildschirmen ausgestatteten Büro irgendwo in Silicon Valley. In tiefster Verzweiflung.
Suche mit modernsten Hilfsmitteln

Da die Polizei die Suche nach der Vermissten bereits aufgegeben hat, hat Merril einen „Chatbot“, eine digitale Simulation, eingerichtet, um herauszufinden, ob Angie noch am Leben ist. So ist es ihr möglich, jederzeit mit der Schwester zu sprechen. Allerdings gibt die plötzlich auf dem Bildschirm sichtbare Angie keinen Aufschluss über ihren Aufenthaltsort. Die KI-Simulation sieht zwar aus und spricht wie das Original, ist jedoch nur ein Algorithmus, der häufig beim Sprechen den Faden verliert, alle Phrasen mehrfach wiederholt und schließlich ganz vom Bildschirm verschwindet.
Eine alte Liebe meldet sich und Nachrichten eines gewissen Bill tauchen auf
Raquel (Rachel Morris), Merrils langjährige intime Freundin, steht völlig unerwartet auf der Türschwelle und beschwört Merril, ihre Suche nach Angie weniger aufgeregt anzugehen. Als Merril widerspricht, verlässt Raquel das Apartment.
Plötzlich tauchen Nachrichten eines Bill Maplethorpe, des Ex-Mannes der Mutter der Schwestern Merril und Angie, Brin (Catherine McDonough), auf deren Handy auf. Dies ermöglicht KI Angie, Bills Adresse herauszufinden. KI Angie vermutet, dass Bill etwas mit dem Verschwinden der leibhaftigen Angie zu tun haben könnte. Merril wird aufgefordert, sofort nach ihrer kleinen Schwester zu fahnden.
KI hilft, einen Entführungsfall aufzudecken.

Nachdem alle Beteiligten die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, Angie je wiederzufinden, ist die Vermisste – oh Wunder – auf einmal wieder da. Leibhaftig. Etwas mitgenommen zwar nach über einem Jahr Gefangenschaft. Aber im Übrigen unversehrt. Nun sitzt sie auf einem Polizeirevier und überschüttet ihre sofort herbeigeeilte Mutter Brin mit Vorwürfen. Denn ist sie, die drogenabhängige verantwortungslose Mum, nicht schuld an dem Verbrechen? Immerhin war sie mit Bill verheiratet, diesem inzwischen toten Psychopathen, der Angie eingesperrt und ihr Schreckliches angetan hat. Sie wird nie in ihrem Leben dieses furchtbare Verlies vergessen, in dem sie gefangen gehalten wurde.
Zurück im normalen Leben
Merril beschließt, die PC-Simulation ihrer Schwester auf der Stelle zu löschen. „Stop, stop,“ befiehlt sie dem Computer, der sich sofort abschaltet.
Fazit: Merril und Angie werden die Schrecknisse der Vergangenheit begraben und sich mutig allen künftigen Herausforderungen stellen.
Aufatmen!

Kein Zweifel, „Anthropology“ ist starker Tobak, der dem Zuschauer einiges abverlangt. In erster Linie Aufmerksamkeit, damit kein Dialog, kein Wort verloren geht. Denn nur wer genau aufpasst, wird bis zum Schluss dieses Thriller-Dramas auf dem Laufenden bleiben. Auch für jene, die bislang von KI wenig bis nichts gehört, geschweige denn verstanden haben, ist „Anthropology“ ein einzigartiges Lehrstück dafür, wie künstliche Intelligenz unser aller Leben verändern kann, im Guten wie im Bösen.
Da ist zunächst die allumfassende Manipulation, deren Eigendynamik sich kaum einer entziehen kann. Wie war es doch noch mit Goethes „Zauberlehrling,“ der trotz des Verbotes seines Meisters aus Neugier die Zauberformel „einfach mal so“ anwendet und damit ein Chaos ohnegleichen auslöst. Wer erinnert sich aus fernen Schulzeiten nicht an die Zeilen: „Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben. Seine Wort und Werke merkt ich und den Brauch. Und mit Geistesstärke tu ich Wunder auch. Walle, walle mache Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe und mit reichem vollem Schwalle zu dem Bade sich ergieße.“ Als das ganze Haus abzusaufen droht, ruft der Zauberlehrling seinen Meister zu Hilfe, der dem Spuk schnell ein Ende bereitet. Heute muss man nur den richtigen Knopf des Computers drücken, damit wieder Ruhe im Karton herrscht. Es sei denn, die Technik spielt verrückt und erst der moderne Hexenmeister, vulgo IT-Fachmann, bringt Ordnung ins System.

„Anthropology“ ist zweifellos ein beeindruckendes zeitgeistiges Bühnenwerk, erdacht von einer Frau, die zu den erfolgreichsten Autoren Amerikas zählt. Allerdings hat Lauren Gunderson aus meiner Sicht den Plot etwas überfrachtet. Es fehlt kaum ein Klischee, das der Zeitgeist für sich beansprucht, darunter Drogensucht, Alkoholismus und Kindesmissbrauch. Dennoch, das Stück regt zum Nachdenken an, zumal die vier Darstellerinnen den Abend zu einem nachhaltigen Erlebnis gestalten. Etwas störend ist die durchgängige Fäkalsprache. Fast jeder Satz beginnt mit fuck, fucking oder shit. Aber auch dieses Vokabular ist eindeutig dem Zeitgeist geschuldet.
Die britische Kritik ist indes voll des Lobes: „Gunderson hegt einen verhaltenen Optimismus, dass KI viel Gutes bewirken kann, sofern sie weise angewandt wird,“ findet eine Kritikerin namens Julia Rank. Recht hat sie. Es kommt immer auf die Hände an, in die ein derartiges Werkzeug (tool) gelegt wird.
„Anthropology“ läuft bis einschließlich 5. Juli 2025.
Tickets unter der Telefonnummer: 040-227 70 89
oder online unter: www.englishtheatre.de
Die nächste Premiere nach den Theaterferien werden wir zu gegebener Zeit an dieser Stelle bekanntgeben.
Alle Fotos von Stefan Kock.