Donnerstagabend um halb acht in Blankenese. Die Straßen sind ziemlich leer, was möglicherweise an dem wichtigen Fußballspiel des HSV liegt. Dennoch finden sich rund 40 Menschen in der Buchhandlung Kortes ein, um die Lesung von Amelie Fechner aus ihrem Buch „Alltagsgedichte – Das pralle Leben“ zu hören. Lyrik ist noch immer nicht so tot wie sie geredet wird. Ich finde einen Platz in der zweiten Reihe, die Buchhandlung hat die Bestuhlung offen genug hingestellt, dass man hindurchgehen und die Bücherregale betrachten kann. Trotzdem sind die beiden behaglichen Räume gut gefüllt. Ich sitze mit gemischten Gefühlen hier. Mein Rezensionsexemplar kam wegen des Poststreiks erst heute an, ich konnte nur einen flüchtigen Blick ins Buch werfen. Dieser flüchtige Blick setzte jede Menge Gedanken in Bewegung. Gedanken über klassische Reimgedichte, Definitionen von Lyrik und an unzählige Diskussionen, die ich darüber schon geführt habe. Heute also wieder: Reimgedichte. Reimen ist wieder en vogue, die Slammer haben den Reim entstaubt und Lyriker wie der Buchpreisträger Jan Wagner etablierten Reimgedichte und klassische Gedichtformen auch auf einem anderen literarischen Niveau. Andererseits gibt es viele Reimdichter, denen man mit dem ästhetischen Wiesel von Morgenstern kommen möchte, das nur wegen des sich reimenden Kiesels im Bachgeriesel sitzt. Etwas mulmig ist mir deshalb schon. Ich schaue mich unauffällig um und sehe freudig-erwartungsvolle Gesichter. Viele Gäste scheinen die Autorin zu kennen. Auch einige Herren sitzen statt im Stadion heute im Publikum, einer davon der Layouter der Postkarten, mit denen Amelie Fechner begonnen hatte, ihre Gedichte unter die Leute zu bringen. Die Postkarten wiederum verkauften sich so gut, dass der Ellert & Richter Verlag Interesse an einem Lyrikband bekundete – fast eine unerhörte Begebenheit, wenn man den heutigen Buchmarkt ein bisschen kennt. Ein Verlag, der Gedichte herausgibt, ist eine Seltenheit geworden. Wie wir erfahren, steht das Buch sogar kurz vor der zweiten Auflage.
Amelie Fechners Lesung wird von Hilke Billerbeck mit eigenen Arrangements auf der Konzertgitarre begleitet. Die Gedichte erfahren durch den souveränen Vortrag Fechners, ihre sympathische und zugewandte Art, eine adäquate Präsentation. Die Nähe zum Publikum ist spürbar. Mit ihren subtilen Versen knüpft sie an Situationen und Empfindungen an, die wir alle kennen. Der reimende Gleichklang kann eine meditative, harmonische Grundstimmung erzeugen. Amelie Fechner hat ein gutes Gespür für Metrik. Die Gedichte, so sagt sie, kämen so zu ihr, „als würde es sie schon fertig geben.“ Fechner, die früher als Rechtsanwältin arbeitete und zuweilen journalistische Texte schrieb, ist seit drei bis vier Jahren mit Gedichten beschäftigt. Sie verarbeitet ganz persönliche Themen wie familiäre Beziehungen und Probleme und Situationen aus dem Alltag. Sie schreibt über ihre Schwester, die Pubertät ihres Kindes und ihr Verhältnis zu sich selbst. Dabei trifft sie den Nerv des Gegenübers und ihr Gedicht hört, wie Hilde Domin es ausdrückte, seinem Leser zu. Das kann einen tröstenden Effekt haben, zumindest aber einen berührenden. Ich höre, wie eine Frau hinter mir leise weint. Die Autorin hat auch Ironisches dabei, wenn sie etwa über Schubladen und Schnepfen dichtet, und das bekommt der Sammlung sehr gut. Mein Favorit ist „Neulich bei Edeka“, in dem diese gar nicht rebellisch wirkende Frau davon träumt, sich an einer Bekannten mit Fellstiefeln und Bommelmütze, die sich nicht an sie erinnert, zu rächen: „… ich ging zur Kasse, ohne Hast / nahm gehend mir ‘ne Apfelsine / die warf ich an den Kopf der Trine …“ [S. 49] Solche schmissigen Reime, die ganz persönlicher Fechner-Klang sind, kommen erfreulicherweise vor, werden jedoch an manchen Stellen durch bald darauf folgende abgegriffenere Reime entkräftet. Die Texte sind überwiegend in Paar- und Kreuzreimen gearbeitet. Nur vereinzelt setzt die Autorin Strophen ein. Bei dem guten Zugang zu sprachlicher Arbeit, den Amelie Fechner hat, sollte sie sich an Formen wie die Fünfzeilige Strophe oder gar das Sonett wagen, um die Möglichkeiten des Reimgedichts besser auszuschöpfen. Hin und wieder mit Mut zur Lücke auf Reime zu verzichten, Zeilen nicht nur um des Reimes willen zu setzen, mit anderen Reimarten zu spielen brächte fließende Leichtigkeit an Stellen, die durch das Bemühen, ein Reimwort zu setzen, etwas statisch wirken. Hier ist ihre erst vierjährige Praxis im lyrischen Schreiben spürbar. Vielleicht wirft auch ihr Vorbild Rilke mit seiner meisterhaften Metrik einen langen Schatten. Mascha Kaléko als weitere prägende Autorin klingt in einigen ihrer Gedichte an.
Dass sie Leichtigkeit hat, stellt Amelie Fechner spielend unter Beweis. Mit ihrem gelungenen Vortrag gleicht sie in der Lesung kleine Defizite wunderbar aus. Hilke Billerbeck geht behutsam musikalisch auf die Texte ein, bildet eine Art fortführende Klangcollage und unterstützt damit die Botschaft des jeweiligen Gedichts. Stets folgt auf ein Gedicht ein Musikstück, was jeden Text für sich stehen lässt und dem ganzen Vortrag Ausgewogenheit gibt.
Nach einem anstrengenden Tag so eine Lesung mit Musik zu erleben, in der atmosphärischen und gut sortierten Buchhandlung Kortes bei einem Glas Sekt, ist erholsam. Darf man das? Einfach mal an nichts anderes denken und einen schönen, positiven Abend mit „Alltagsgedichten“ und angenehmer Musik genießen? Ich finde, man darf. Meine Stimmung hat sich im Laufe des literarisch-musikalischen Vortrags deutlich gehoben, die „Alltagsgedichte“ haben mein leicht gestresstes Alltagsgefühl verdrängt.
Die Buchhandlung, in der ich gern noch länger durch die Regale und kleinen ansprechenden Räume gestöbert hätte, veranstaltet im Schnitt einmal monatlich Lesungen mit Bezug zu Blankenese und hat neben ihrem allgemeinen Sortiment eine kleine feine Kunst- und Architektur-Ecke. Und eine ansehnliche Auswahl an Lyrik, wie man es erwarten darf, wenn Gedichte dort gelesen werden, wie man es jedoch von vielen Buchhandlungen leider nicht mehr gewohnt ist.
Amelie Fechner liest zum Schluss noch zwei Gedichte von ihren Postkarten. Sie hat jetzt ein kleines Büro in Blankenese, wo sie meistens vormittags den Postkartenvertrieb organisiert und ihre Gedichte verfasst. Die Autorin hat mit diesen Karten und ihrem ersten Gedichtband einen ausgezeichneten Start gemacht. Man darf gespannt sein, was sie uns nach ihren „Alltagsgedichten“ präsentieren wird.
Postkarten von Amelie Fechner: www.feinezeilen.de
Amelie Fechner, Alltagsgedichte – Das pralle Leben, Ellert & Richter Verlag, 2014, 80 S. geb., € 11,95
Link zum Verlag: www.ellert-richter.de