Versucht man, das Deutschland zwischen 1933 und 1945 zu verstehen, gerät das leicht zu einem kaum zu bewältigenden Unterfangen. Selbst 65 Jahre nach Ende der unseligen Nazizeit sind zwar die Basisfakten aufgearbeitet, dennoch bleiben nach der Lektüre jedes Buches über das 3. Reich Fragen offen. Joachim Fest hat mit seinem Buch Speer, erstmals erschienen 1999, einen wichtigen Mosaikstein zum Gesamtverständnis geliefert.
Albert Speer, der Architekt Hitlers und Planer seiner gigantomanischen Bauten, später als Rüstungsminister in politischer Verantwortung, passt so überhaupt nicht in die Einheitsgarde der Vasallen des Diktators. Eher zufällig nach der Machtergreifung 1933 in den Bannkreis Hitlers geraten, avancierte er – auch durch eigene Zielstrebigkeit und Erfolgshunger – sehr bald zu einem der engsten persönlichen Vertrauten des sonst scheinbar zu keinerlei persönlichen Beziehungen befähigten Hitler. Er plante die monströse Architektur des Parteitagsgeländes in Nürnberg, inszenierte mit sicherem Gespür für Massenwirksamkeit und theatralische Suggestion Massenveranstaltungen wie die Olympischen Spiele 1936 oder die Parteitage in Nürnberg, blieb aber lange bei der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Dies änderte sich, als er 1942 zum Rüstungsminister berufen wurde. Nun organisierte er Arbeitsabläufe, steigerte die Produktion kriegswichtiger Güter immens und dehnte seinen Macht- und Einflussbereich immer mehr aus, sehr zum Missfallen der anderen Lenker des Unrechtsstaates – von Bormann über Göring und Goebbels bis zu Himmler.
Joachim Fest beschreibt Albert Speer in der gebotenen Ausführlichkeit und charakterisiert ihn als einen Außenseiter in der von Hitler und der NS- Partei geschaffenen Schreckenswelt, der stets seinem eigenen Willen folgte und sich selbst dem Diktator offen widersetzte. Besonders im Jahr vor dem endgültigen Zusammenbruch setzte er sich offen über die Befehle Hitlers, den immer stärker in das Reich eindringenden Truppen der Alliierten nur Verbrannte Erde zu hinterlassen. Seine Reisen ins Ruhrgebiet und nach Hamburg, wo er den Befehl Hitlers, alle Verkehrswege und Industrieanlagen vor dem Eintreffen der Alliierten zu sprengen, missachtete und aufhob, sind ausführlich beschrieben. Anders als viele andere Bücher über das Dritte Reich endet dieses nicht mit der Kapitulation 1945. Die Nürnberger Prozesse und Speers Zeit im Gefängnis in Spandau sowie sein Leben nach der Entlassung im Jahr 1966 bis zu seinem Tod 1981 werden chronologisch dokumentiert.
Die Außenseiterrolle Speers durchzieht den Text des Buches, ebenso Hitlers ungewöhnliche, von manchen als erotisch bezeichnete Zuneigung zu dem Architekten. Am Ende zitiert er einen Artikel aus dem Jahre 1944 von dem emigrierten Journalisten Sebastian Haffner, erschienen im Londoner Observer:
„Speer sei ein ziemlich selbstbewusster“ junger Mann, schrieb Haffner, und sicherlich keiner der auffälligen und pittoresken Nazis, sondern der erfolgreiche Durchschnittsmensch, gut gekleidet, höflich, nicht korrupt. In gewissem Sinne sei er inzwischen für Deutschland wichtiger als Hitler, Himmler Göring, Goebbels oder die Generale. Sie alle sind irgendwie nichts als Mitwirkende dieses Mannes geworden … In ihm sehen wir eine Verwirklichung der Revolution der Manager. Speer, hieß es weiter, symbolisiere einen Typus, der in steigendem Maße in allen kriegführenden Staaten wichtig wird: den reinen Techniker, den klassenlosen, glänzenden Mann ohne Herkommen, der kein anderes Ziel kennt, als seinen Weg in der Welt zu machen. … Gerade das Fehlen von psychologischem und seelischem Ballast und die Ungezwungenheit, mit welcher er die erschreckende Maschinerie unseres Zeitalters handhabt, lasse ihn und die jungen Männer seines Schlages äußerst weit gehen … Dies ist ihre Zeit. Die Hitler und die Himmler mögen wir loswerden. Aber die Speers, was auch immer mit ihnen geschieht, werden lange mit uns sein.“
Wer denkt bei diesem Zitat nicht an die technokratisch geprägten Politiker heutiger Prägung? Insofern vermittelt dieses Buch auch über den Zeit- Kontext hinaus wertvolle Denkanstöße.
Die Speer- Biographie liest sich flüssig und macht mit der genauen Analyse eines zerrissenen, aber dennoch zielstrebigen Menschen sehr nachdenklich. Ausführlich beschreibt Fest die aus autobiographischen Aufzeichnungen belegten Reflektionen eines der staatstragenden Männer des Dritten Reichs bei den Nürnberger Prozessen und während der Spandauer Haft über Schuld und Verantwortung, die er bis zu seinem Tod immer wieder öffentlich gemacht hat.
Fazit:
Ein überaus lesenswertes Buch für alle, die Geschichte nicht nur als Rekapitulieren von Vergangenem ansehen, sondern Muster erkennen wollen, die auch die Gegenwart beeinflussen.
Joachim Fest: Speer
- Verlag: Fischer (Tb.), Frankfurt; Auflage: 4., Aufl. (April 2005)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3596150930
- ISBN-13: 978-3596150939
- Größe: 19,1 x 12,6 x 3,5 cm
- Preis: 12,90 €