erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Vor 50 Jahren endete die Entscheidungsschlacht von Dien Bien Phu mit der Niederlage der Kolonialherren
In Vietnam versuchten nach der Niederlage der japanischen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg sowohl die im März 1945 von den Japanern vertriebenen alten Kolonialherren, sprich die Franzosen, als auch das Kolonialvolk, sprich die Viet-Nam Doc-Lap-Dong-Minh-Hoi (Front für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams), kurz Viet Minh, das entstandene Machtvakuum zu füllen. Die Kompromißlösung vom 6. März 1946 lautete, daß die am Tage der japanischen Kapitulation, also am 2. September 1945, von den Viet Minh proklamierte Demokratische Republik Vietnam ein „freier Staat“ innerhalb der Französischen Union sein solle. Diese Kompromißformel konnte allerdings längerfristig den Krieg nicht verhindern.
Der französische Indochinakrieg begann ähnlich wie der Zweite Weltkrieg mit einer Kanonade durch ein Kriegsschiff. Während jedoch am 1. September 1939 die deutsche „Schleswig-Holstein“ mit der Westerplatte ein militärisches Ziel hatte, beschoß die französische „Suffren“ am 23. November 1946 mit dem Hafen von Haiphong ein ziviles. Entsprechend groß war die Zahl der Opfer. 6.000 Zivilisten kostete der sogenannte Haiphong-Zwischenfall, dessen erklärtes Ziel es war, „den Vietnamesen eine Lektion zu erteilen“, das Leben. Frankreich hatte seinen Indochinakrieg entfesselt.
Anfänglich befanden sich die Franzosen mit der materiellen Überlegenheit einer zusehends von den USA unterstützten Industrienation in der Offensive. Die Viet Minh mußten sich in das vietnamesisch-chinesische Grenzgebiet zurückziehen und in den Untergrund gehen. Sie profitierten allerdings davon, daß sie sich im Gegensatz zu den Kolonialherren in großen Teilen Vietnams wie der Fisch im Wasser bewegen konnten und sich auf dem chinesischen Festland die Rotchinesen unter Mao Tse-tung gegen die prowestliche Kuomintang unter Tschiang Kai-schek durchsetzten. Damit hatten die Viet Minh einen Ruhe- und Rückzugsraum, in dem sie reguläre Truppen aufstellen und ausbilden konnten, gewonnen. Die Vietnamesen gingen nun aus der Defensive in die Offensive über und ergriffen zusehends die Initiative. Zeitgleich und damit zweifellos zusammenhängend wird dieser Kolonialkrieg im Mutterland Frankreich zunehmend als „schmutziger Krieg“ kritisiert. Die Zeit schien für die Vietnamesen zu arbeiten.
In dieser Situation versuchte 1953 der frischernannte Oberkommandierende der französischen Indochinatruppen, General Henri Navarre, das Gesetz des Handelns an sich zu reißen und dem vietnamesischen Gegner eine Entscheidungsschlacht aufzuzwingen, in der er verbluten und sich die Zähne ausbeißen sollte. Hierfür hatte er sich das nordwestvietnamesische Dien Bien Phu ausgekuckt.
Hier errichteten die Franzosen mit Hilfe ihrer Fallschirmspringer ab dem 13. März 1953 einen weit vorgeschobenen Luftlandestützpunkt. Er sollte die Viet Minh an der Ausweitung ihres Einflusses auf das ebenfalls zur Französischen Union gehörende Laos hindern und wie ein Stachel im Fleische der Vietnamesen wirken. Das Tal von Dien Bien Phu, in dem sich die französischen Truppen festsetzten, ist rund 17 Kilometer lang und durchschnittlich sechs Kilometer breit. Es ist umsäumt von sanften Hügeln, an die sich steilere Hänge höherer Berge anschließen. Dort setzten sich die Franzosen jedoch nicht fest. Das widersprach dem klassischen militärischen Grundsatz, Höhen zu erobern und unter die eigene Kontrolle zu bringen. Entsetzt schrie der französische Staatsminister und vormalige Flieger-General Edouard Corniglion-Molinier: „Dien Bien Phu? Das ist doch, als ob man in der Mitte einer Suppenschüssel sitzt und der Feind ringsum oben am Rand.“ Doch gerade das sollte die Versuchung für die Vietnamesen um so größer machen, den Angriff zu wagen und sich damit ins Unglück zu stürzen, wie Navarre glaubte. Der französische General war nämlich fest davon überzeugt, daß es seinen Truppen gelingen würde, die ungünstige geographische Lage durch artilleristische Überlegenheit bedeutungslos zu machen.
Während die Dschungelfestung nämlich auf dem Luftwege mit Artillerie und Nachschub versorgt wurde, ging Navarre davon aus, daß es den Vietnamesen unmöglich sein würde, Geschütze auf die Berge zu transportieren und mehr als 20.000 Mann Belagerungstruppen mit Nachschub zu versorgen. Wie später die US-Amerikaner unterschätzte der Franzose die Vietnamesen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer technischen Ausstattung als mehr noch bezüglich ihrer ungeheuren Leidensfähigkeit, Einsatzbereitschaft und Improvisationskunst.
General Henri Navarre ging davon aus, daß die in seinen Augen aufständischen Vietnamesen die Belagerungstruppen ausschließlich mit Lastträgern würden versorgen können. Die Vietnamesen verfügten jedoch über hochbeinige, geländegängige Fahrzeuge des sowjetischen Typs „Molotowa“, und sie setzten Transportkolonnen mit bis zu 2.000 Fahrrädern ein, die mit Nachschub von bis zu 200 oder gar 300 Kilogramm beladen waren. Der vietnamesische Oberkommandierende Vo Nguyen Giap, der als studierter Geschichtslehrer in der Historie der alten Kolonialherren bewandert war, bezeichnete die Räder – nicht ohne Sinn und Verstand – als seine Taxis von der Marne.
In der Tat gewannen sie eine ähnlich legendäre Bedeutung. Nicht zuletzt wegen ihnen und der ungeheuren Zähigkeit der Vietnamesen standen den 16.000 französischen Soldaten im Kessel von Dien Bien Phu in den Bergen statt 20.000 Mann ohne Artillerie schließlich 50.000 Mann mit Artillerie gegenüber. Da half den eingeschlossenen Franzosen auch ihre kleine Luftflotte nichts mehr. Es kam, wie es angesichts dieses Kräfteverhältnisses wohl kommen mußte.
Am 13. März 1954 begannen die Vietnamesen mit der Eroberung Dien Bien Phus, die sie am 7. Mai 1954 erfolgreich abschlossen. Nach dieser Niederlage konnten die Franzosen ihre Kolonialherrschaft auf der Genfer Indochinakonferenz nicht mehr verteidigen. Laos und Kambodscha wurden unabhängig. Vietnam wurde vorerst am 17. Breitengrad geteilt in die souveräne Demokratische Republik Vietnam im Norden und einen zweiten vietnamesischen Staat im Süden, in dem die alte Kolonialmacht schnell von den Vereinigten Staaten verdrängt wurde.
Den Franzosen blieb nur die Erinnerung und später die Genugtuung, daß die US-Amerikaner, die sich schließlich geweigert hatten, Frankreich in dessen Indochinakrieg bis zur letzten Konsequenz zu unterstützen, in ihrem eigenen Vietnamkrieg ebenfalls an den Vietnamesen scheiterten.
Manuel Ruoff