Unterwegs auf heißen Pfaden: Ukraine

Ein zerstörter Teil Odessas. Foto: Cropp

Das neue Jahr ist jung, so mag es noch angebracht sein, ein glückliches und erfolgreiches 2025 bei bester Gesundheit zu wünschen – besonders in einer Welt von Unruhen und Kriegen. Um uns herum politische, wirtschaftliche, finanzielle und gesellschaftliche Unsicherheiten. Doch wir lassen uns durch diese Unsicherheiten nicht lähmen! Wir werden das Jahr mit Zuversicht begegnen. Kümmern wir uns um die Lösungen, nicht um die Probleme. Bleiben wir optimistisch! Und stimmen Fernando Sabino zu: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“ Das werden, das müssen wir uns zurufen!

Ja, es waren Optimismus und Wissensdrang, was mich bewegte, ausgerechnet in die Ukraine zu reisen. Geplant war eine Lesung aus meinem Buch „Zwischen Hamburg und der Ferne“ im Goethe-Institut, in Kiew … doch dann kam alles ganz anders:

Ein Flix-Bus brachte mich nach 32 Stunden in die quirlige Hauptstadt Kiew mit seinen drei Millionen Einwohnern. (Allein um die zehn Stunden wurden wir an der polnisch – ukrainischen Grenze aufgehalten.)  Später im Hotel hieß es: „Können wir Ihnen ein Zimmer im sechsten Stockwerk anbieten, oder lieber eines parterre?“ Der besseren Aussicht wegen, wählte ich das in luftiger Höhe. Als Sirenen heulten, hieß es Bombenalarm. Luftschutzeinrichtungen seien aufzusuchen. Da war ich mit der Zimmerwahl nicht mehr so glücklich.

Kiew: Auf dem Maidan Platz, wo den Gefallenen gedacht wird. Foto: privat

In der Lawrske Straße 16 befindet sich das Goethe-Institut, ein repräsentatives, gelb angestrichenes Gebäude. Herr Tsiur, der Lehrgangsleiter, empfing mich mit seiner Sekretärin im Foyer. Beides Einheimische, die ein gutes Deutsch sprachen. Sie zeigten mir die geräumige, fabelhaft ausgestattete Bibliothek, in der gewöhnlich Lesungen stattfinden. „Zur Zeit werden Sprachkurse nur online, oder per Fernunterricht angeboten und durchgeführt, Aus Gründen der Sicherheit müssen wir Menschenansammlungen vermeiden,“ erklärte Tsiur. Und etwas verlegen und kleinlaut gestand er, dass Lesungen derzeit nicht zu verantworten seien. „Der Krieg, das verstehen Sie doch!“, fügte er hinzu. Natürlich verstand ich das. Die Information kam nur etwas überraschend.

Ein Erlebnis von über zwei Wochen

Schon mal im Land, disponierte ich um. Nie hätte ich erwartet, das aus der Ukrainefahrt ein Erlebnis von über zwei Wochen werden könnte! Erst einmal besuchte ich die wichtigen Sehenswürdigkeiten Kiews: Das Höhlenkloster, die Mutter-Heimat-Statue, das Goldene Tor. In der St. Volodymyr’s Kathedrale geriet ich in eine Messe und erlebte die tiefe Gläubigkeit vieler Ukrainer. Auf dem berühmten Maidan Platz, dem der einstigen Massenproteste, standen Panzersperren und auf einem fahnengeschmückten Areal wurde der gefallenen Soldatinnen und Soldaten gedacht. Ein Ort der Besinnung und Trauer, bisweilen vom Sirenengeheul, gestört … Doch Kiews Geschäftigkeit ließ sich dadurch nicht beeindrucken.

Soldat: „Die Proteste von damals, eine Revolution der Würde.“ Foto: Cropp

„Die Proteste von damals,“ gemeint waren die schweren Auseinandersetzungen auf dem Maidan Platz von vor zehn Jahren, „ waren eine Revolution der Würde und das Bekenntnis zu Westeuropa“, sagte mir ein Soldat im Kampfanzug, der gerade von der Front kam.

Zwei Tage später befand ich mich, nach einer Siebenstunden-Busfahrt, in Odessa. Einst war der Ort am Schwarzen Meer eine der mondänsten Hafenstädte Europas. Ursprünglich eine griechische Kolonie. 1830 wurde der aus Frankreich geflüchtete Emmanuel Richelieu erster Gouverneur der Stadt. Und hier wirkte auch der vom Zar Nikolaus I. verbannte Alexander Puschkin. Der berühmte Schriftsteller war rasch von dem Ort begeistert und verkündete: „In Odessa atmet man ganz Europa!“ –  Ich atmete nur Staub und Ruß zerbombter Gebäude des letzten Beschusses! Beim russischen Raketenangriff waren viele Bewohner getötet, wichtige Anlagen zerstört worden.

Wieder nächtlicher Bombenalarm: du drehst dich im Bett um und schläfst weiter.

Mit dem Hilfstransport gen Osten

William Sharp, pensionierter Richter aus Oregon, und den Arzt Justin Forster aus Boston, sie traf ich an der Bar des Holiday Inn Odessa. William vertrat eine Hilfsorganisation aus seinem Wohnort Eugene. Er hatte ein stattliches Sümmchen an Dollar mitgebracht und war im Begriff Hilfsgüter für Soldatinnen, Soldaten und Zivilisten im Kampfgebiet einzukaufen. Beide erschienen mir nach eine Weile des Aus- und Abfragens vertrauenswürdig. Also beteiligte ich mich tags darauf an den Einkäufen und der Verpackung von Medikamenten, Verbandszeug, medizinischen Geräten und Winterkleidung. Mit einem geliehenen Pickup wurden die Güter transportiert.

In der St. Volodymyr’s Kathedrale ist die tiefe Gläubigkeit der Ukrainer zu spüren. Foto: Cropp

Unser Weg führte erst einmal gen Osten durch ein Gebiet weiter Steppen und brach liegender Weizenfelder, durch die einstige Kornkammer der früheren Sowjetunion, nach Cherson. Der Hafenstadt am Dnepr, wo Fürst Gregor Potemkin seine letzte Ruhestätte hat. Jener Potemkin, der seiner Zarin Katharina II. „Potemkinsche Dörfer“ vorgeführt haben soll. Cherson ist übrigens die Patenstadt von Kiel.

Der Ort war zuvor erobert worden. Neun Monate stand Cherson unter russischer Okkupation mit schlimmer Auswirkung! Bereits Homer (8. Jh. v. Chr.) beschrieb, die um Cherson lebenden Kimmerier als wildes Reitervolk, am Eingang zum Hades, der Unterwelt, der ewigen Finsternis. Auch der Geschichtsschreiber aus der Antike Herodot (um 490 bis um 420 v. Chr.) war in diesem Gebiet unterwegs gewesen. Auf seinen Spuren gings für uns auf heißen Pfaden tiefer und tiefer in den Osten, in die „Finsternis“ hinein, in Richtung Donetsk.

Luftalarme wurden intensiver. Die Zerstörungen ringsum verheerender. Granateinschläge kamen näher. Ausgebrannte Panzer, liegengebliebene Militärfahrzeuge, zerstörte Häuser und Bombentrichter markierten unsere Strecke. Eine Strecke, die aus trichterübersäten Straßenabschnitten und unbefestigten Pfaden bestand. Ein Kontrollposten stoppte uns. Mit gemischten Gefühlen harrten wir der Ereignisse … Ein Wachhabender warnte vor der Weiterfahrt. Erkannte schließlich unsere Absicht und ließ passieren.

Das Ende der Reise

Zwei Tage später mussten wir in dem Örtchen Chernihivka erneut halten. Dieser Posten war unerbittlich. Eine Weiterfahrt wäre unverantwortlich. Was einzusehen war. Irgendwo klinkte eine Drohne eine Granate aus, die in unmittelbarer Nähe explodierte. Hauptmann Yaroslav Kyrylo war ein umsichtiger Mann, der englisch, sogar einige Brocken deutsch sprach. Über unsere Lieferung war er hocherfreut und dankbar. Er versprach eine gerechte Verteilung an seine Leute und bedürftige Zivilisten. Beim Ausladen hatten wir ein gutes Gefühl.

Kyrylo trat zu mir und fragte, was denn der alte Mann so weit im Osten suche. „It’s not the right place for you.“ – „Ich bin ein neugieriger Journalist mit Helfersyndrom“, war meine Antwort. Er lächelt verschmitzt unter seinem Stahlhelm und meinte: „If you have sons, send them over.“ Als Vater von zwei Söhnen ging mir diese Hilfe dann doch zu weit!

Bevor wir die Rückfahrt antraten, saßen wir mit ihm, Hauptmann Kyrylo, und anderen Offizieren und Mannschaften der Kompanie in einem verfallenen Gebäude beisammen, diskutierten und spekulierten bis tief in die Nacht über den Ausgang des Krieges. Zwischendurch rumste es von nah und fern. Eine Kapitulation konnte und mochte sich niemand vorstellen, aber an einen Kampf bis zum Sieg über Putins Überfall glaubte auch keiner so recht. Wurden doch die Kräfte der Verteidigung an den Fronten von Tag zu Tag schwächer. Man schaute nun gebannt auf Trump und die Resultate aus kommenden Verhandlungen … Optimisten mögen Worte wie diese trösten: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“

 

Anmerkung der Redaktion: Der Verfasser dieses Berichts wird am 27.01.2025 um 19 Uhr in der Hauptkirche St. Michaelis seinen Text „Aus der Hölle, ein letzter Brief“ vorlesen. Die Lesung erfolgt im Rahmen der alljährlichen Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocausts. Lesen Sie hierzu bitte unsere Pressemitteilung: https://die-auswaertige-presse.de/aus-der-hoelle-ein-letzter-brief/

Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegen Putins russischen Neo-Imperialismus?

Demonstranten am Tag der Invasion vor dem Brandenburger Tor in Berlin / Foto: privat

„Zeitenwende“ als politische Reaktion auf Putins Invasion in die Ukraine
Die neue Bundesregierung hat auf die völkerrechtswidrige Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine mit einer ungewöhnlich scharf gehaltenen Regierungserklärung reagiert.  Die mit „Zeitenwende“ begründete Erklärung zur Verhängung schwerwiegender Wirtschaftssanktionen, zur Schaffung der Energieunabhängigkeit von Erdgas- und Erdöllieferungen aus der Russischen Föderation (RF) und zur Erhöhung der Rüstungsausgaben durch Bildung eines 100 Mrd. € Fonds fanden sogar die Zustimmung der Opposition. Nach den Raketenangriffen auf die Ukraine prüft die Bundesregierung die Errichtung eines deutschen Raketenabwehrschirms nach dem Modell Israels.

Groß-Demonstrationen auch in Berlin gegen Putins Invasion  

Fast zeitgleich zur denkwürdigen Bundestagssitzung demonstrierten Hundertausende in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern, am Rande des sowjetischen Ehrenmals und in der Nähe der Botschaft der RF, gegen Putins militärische Invasion und forderten den umgehenden Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Bereits am Invasionstag fanden sich spontan Demonstranten am Brandenburger Tor.

Der Einmarsch der russischen Verbände hat mittlerweile zu einer millionenfachen Fluchtbewegung der ukrainischen Bevölkerung nach Mitteleuropa geführt, die auch in der Bundesrepublik Schutz sucht und findet, so in Hamburg, München und in Berlin. Solidarität und Hilfsbereitschaft der West-Europäer zu den Ost-Europäern sind bemerkenswert.

Putins russischer Neo-Imperialismus eine „Zeitenrückwende“

Der Westen hat der „Zeitenrückwende“ in der russischen Politik unter Putin nach den Reformern Jelzin und Gorbatschow zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl ukrainische Gebiete bereits seit 2014 besetzt gehalten werden und trotz der Warnungen Polens und Litauens. Diese außenpolitischen Fehler räumt jetzt auch Bundespräsident Steinmeier ein.

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 hatte Putin den von Gorbatschow eingeleiteten Zerfall der Sowjetunion kritisiert und eine Revision angedeutet. Mit Rücksichtnahme auf die RF verhinderten Bundeskanzlerin Merkel und der Präsident Frankreichs  auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest eine weitere Osterweiterung. Damit wurde die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens blockiert, während die weniger schutzbedürftigen Länder Albanien und Kroatien aufgenommen wurden. In einem aktuellen Bild-TV-Interview kritisiert der ehemalige russische Ministerpräsident unter Putin, Kassjanow, diese Rücksichtnahme als „Einladung“ für Putins Aggressionspolitik.

Demonstranten am Tag der Invasion vor dem Brandenburger Tor in Berlin / Foto: privat

„Der Spiegel“ erläutert in einer Sonderausgabe Monate vor (!) der Invasion den Machtanspruch Putins, der mit seinem Neo-Imperialismus seinen kommunistischen Vorgängern Lenin und Stalin sowie den früheren Zaren im Bunde mit der russisch-orthodoxen Kirche nachzueifern scheint, nicht aber den Reformern Gorbatschow und Jelzin. Das belegt das rücksichtslose Vorgehen der russischen Armee gegen die Ukraine unter Inkaufnahme von zivilen Opfern und mit der Zerstörung ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen und Krankenhäusern.

Putins scheint seine geopolitische „Zeitenrückwende“ an den 1945 in Jalta auf der Krim von Stalin, Roosevelt und Churchill festgelegten russisch-sowjetischen Einflusszonen gegenüber dem Westen zu orientieren. Die „rote Linie“ des späteren kalten Krieges bildete die Oder. Die baltischen Staaten, die Ukraine und der Kaukasus wurden der russisch-sowjetischen Einflusszone zugeordnet. Das Deutsche Historische Museum in Berlin hat zu dieser Thematik umfassende Zusammenstellungen publiziert.

„Zahnlose“ Vereinte Nationen trotz völkerrechtswidriger russischer Invasion   

Nach der Charta der „United Nations“ (UN)  ist nicht nur der Angriff auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Einrichtungen sondern auch die Invasion in die Ukraine völkerrechtswidrig. Putin missachtet die international anerkannte und zwischen der RF und der Ukraine 1991 vereinbarte Souveränität der Ukraine.

So fordert Artikel 1 der UN-Charta „to maintain international peace and security“ and „to take effective collective measures for the … removal of threats to the peace”.  Der für die Verhängung von Sanktionen gegen die völkerrechtswidrige Invasion in die Ukraine angerufene Sicherheitsrat der UN und die UN-Vollversammlung, haben mit großer Mehrheit die Invasion Putins verurteilt. Der Internationale Gerichtshof der UN hat angeordnet, dass die RF ihren Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort einstellt. Die UN überprüft auch, ob beiderseits Kriegsverbrechen begangen wurden.

Die gegen die russische Aggression möglichen militärischen Sanktionsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrats  können jedoch gegen das Veto der RF nicht verhängt werden. Bemerkenswert ist, dass diese Vetoklausel des Artikels 3 der UN-Charta 1945 auf der Konferenz in Jalta auf der Krim auf Wunsch Stalins mit Roosevelt und Churchill vereinbart worden war. Hier wäre zu prüfen, ob das Veto-Recht der RF dann auszusetzen ist, wenn das Sicherheitsratsmitglied selbst den verbotenen Angriffskrieg führt.

Ein UN-Mandat wird derzeit durch das Veto der RF blockiert, sodass die von Präsident Selenskyj geforderte unmittelbare militärische Unterstützung der Ukraine ausgeschlossen ist. Eine  NATO-Intervention nach Art. 5 ist nach NATO-Generalsekretär Stoltenberg ebenfalls ausgeschlossen, da die Ukraine kein NATO-Mitglied ist. Das gilt auch für einen gegenseitigen militärischen Beistand nach Art. 42 EU-Vertrag, solange die Ukraine nicht Mitglied der EU ist.

Putin unterschätzt Unabhängigkeitswillen und Widerstandskraft der Ukrainer

Putin hat seine Invasion in die Ukraine nach Auffassung von BBC und CNN fehleingeschätzt. Die Ukrainer leisten unerwartet heftigen Widerstand. Die russischen Truppen werden von den meisten Ukrainern keineswegs als Befreier begrüßt, wie 2014 teilweise auf der Krim und in der östlichen Ukraine oder etwa gegen Ende des zweiten Weltkriegs.

Sowjetisches Ehrenmal am Rande der Demonstration nunmehr ohne Kränze / Foto: privat

Der Präsident der RF und sein militärischer und politischer Führungskreis haben die historische Tatsache ignoriert, dass die meisten Ukrainer unabhängig von russischer Bevormundung sein wollen, die unter Stalin zu großer Hungersnot geführt hatte. Trotz des militärischen Ungleichgewichts ist eine Kapitulation, wie sie Polit-Philosoph Richard D. Precht als rational empfiehlt, für die Mehrheit der Ukrainer keine vertretbare Lösung.

 

Historische Konflikte um die Souveränität der Ukraine

Putin bestreitet zuletzt auch in seiner Ansprache vor der Invasion die staatliche Souveränität der Ukraine. Die Auseinandersetzung zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine hat nach Ansicht von Historikern eine längere Tradition, die auf die Konflikte zwischen dem Großfürstentum Kiew und dem Großfürstentum Moskau zurückdatiert werden kann. Involviert in die umstrittene ukrainische Unabhängigkeit waren nicht nur Litauen, Polen und die Habsburger Monarchie sondern auch Deutschland in beiden Weltkriegen. Die Komplexität des Unabhängigkeitskampfes der Ukraine erläutern Zusammenstellungen des Deutschen Historischen Museums.

Historiker Jörn Leonhard erinnert in seinem Weltkriegsband „Die Büchse der Pandora“ daran, dass die Unabhängigkeit der Ukraine erstmals in einem separaten Friedensschluss im Februar 1918 mit den Mittelmächten anerkannt und militärisch gegen Russland durchgesetzt wurde zur Sicherung von Getreidelieferungen. Im folgenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk bestätigte Lenin die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine und anderer Staaten, wie Finnland, Polen, Litauen und Georgien, von Russland. Nach der Annullierung dieser Verträge im Versailler Friedensvertrag und nach Abzug der Mittelmächte besetzte Putins Vorbild Lenin die Ukraine und gliederte sie als „autonome“ Sowjetrepublik in die von Russland dominierte UdSSR ein.

Das Dilemma der deutschen Sanktions- und Integrationspolitik

Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Konflikts, der westlichen Sanktionen und der Flüchtlingsströme für die EU und die Bundesrepublik sind schwer einschätzbar. Über zu erwartende wirtschaftlichen Verschlechterungen durch den Krieg, durch Pandemie, Energiekrise und Inflation hat der Wirtschaftssachverständigenrat jetzt ein Sondergutachten erstellt. Durch die hohe Energieabhängigkeit von der RF steht die deutsche wie die europäische Sanktionspolitik vor einem Dilemma. Nach Ansicht von Wirtschaftsverbänden hätte es schwerwiegende Folgen für die Unternehmen, Arbeitnehmer und Haushalte, wenn Putin als Reaktion auf die westlichen Sanktionen die Ausfuhr von Erdgas und Erdöl nach Deutschland und in die EU ad hoc aussetzen würde. Entsprechend hätte ein Einfuhrstopp für die europäische Wirtschaft erhebliche Negativauswirkungen.

Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Berlin / Foto: privat

Auch in der Flüchtlingsaufnahme stehen Deutschland und die EU vor einem Dilemma. Die europäische Solidarität gegenüber den Flüchtlingen aus Osteuropa ist groß, aber trotz der seit 2014 bestehenden Ukrainekrise waren keinerlei Vorbereitungen für solch einen Notfall getroffen worden. Die neuerliche Flüchtlingsbewegung trifft die EU-Länder ebenso unvorbereitet wie zuvor die Corona-Pandemie. Bei der Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge sollte nicht übersehen werden, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine keine Einwanderer sind und dass ihnen die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre ukrainische Sprache und ihre Kultur zu pflegen und in ihren gewohnten Bezugsgruppen weiterzuleben, was digital erleichtert wird.

Nach Ansicht der Zukunftsforscher Edward Glaeser und David Cutler (Survival of the City) fehlt es auch in Europa am vorausschauenden Ausbau von staatlichen Institutionen und der Schaffung von Reserven an Versorgungsgütern und an Schulungen in den Behörden, um auf derartige Notlagen schnell staatlich reagieren zu können.

Garantien für eine langfristige Friedenssicherung und Abrüstungsverhandlungen

Für Vereinbarungen zu einer langfristigen Friedenssicherung liegen die Interessen der RF und der Ukraine, auch historisch bedingt, sehr weit auseinander. Der Neutralitätsstatus von Schweden und Finnland könnte eine Option sein. Den Friedensverhandlungen sollten auch Abrüstungsverhandlungen der NATO mit der RF und China folgen. Bedenklich ist aber, dass sich Putin bisher nicht an die zwischen der RF und der Ukraine vereinbarten und international anerkannten Grenzen der Ukraine und die Charta der UN hält.