Wann ist Draußen Drinnen? Oder: Eine fürsorgliche Belagerung. Neun Haiku von Tomas Tranströmer 1959

In jeder Rezension dieser neun Haiku aus dem Gefängnis (aus: Tomas Tranströmer, „Das große Rätsel“, Carl Hanser Verlag, Münschen, 2005) ist es wichtig, zwei externe Betrachtungsweisen auf ein Leben in einer zweckgemäß verschlossenen Anstalt – in diesem spezifischen Falle im Jugendgefängnis Hällby, Schweden – zu beachten:
erstens, die des Bericht erstattenden personalen Erzählers;
zweitens, die sich entwickelnde Betrachtungsweise der Lesenden, insofern sie sich mit der Anstaltsroutine und den dortigen Vorkommnissen beschäftigen, wobei sie möglicherweise die unausgesprochenen Voraussetzungen von Freiheit in der Gesellschaft und wer diese genießt, infrage zu stellen beginnen.Den Lesenden fällt es vielleicht allmählich auf, in welchem Grad diese Freiheiten in Wirklichkeit von angewöhnter Einwilligung in den Status quo abhängig sind.

Acht der neun Haiku beschreiben Vorkommnisse im Gefängnis und deren Folgen: ein Fußball, über die Gefängnismauer getreten, bereitet „plötzliche Verwirrung“, d.h. wird zu einem unlösbaren Problem für die „Insassen“, die keine Möglichkeit haben, den Fußball zurückzuholen. Etwas, das „draußen“ selbstverständlich wäre. Spiel und Spaß vorbei!

Inwiefern die Lesenden ein Gefühl des Unbehagens beim Lesen verspüren, wird davon abhängen, ob sie sich im Voraus bewusst waren oder mittlerweile gemerkt haben, ob oder in welchem Grad ihr eigener Status und ihr Selbstbewusstsein in Akzeptanz von eben diesem Status quo eingebettet sind.

Eine zweite Befassung mit den Haiku belohnt – oder bestraft – die Lesenden mit Stoff zum Nachdenken über die Definition von habeus corpus. In allen neun Haiku wird die Annahme, dass Freiheit nichts anderes bedeute als Bewegungsfreiheit, durch den Ton des personalen Erzählers als falsch angedeutet. Anfänglich mögen sich die Lesenden wohl im Gegensatz zu den „Insassen“ als frei, unschuldig und daher per se diesen überlegen empfinden. Die Gefängnismauer ist ausschließlich für die „Insassen“ die erste und letzte Barriere gegen körperliche Freiheit.

Beim im zweiten Haiku vorkommenden Aktivismus – „Sie toben …/um die Zeit in rascheren/Trab zu scheuchen“- könnte es sich um den Verlust der Entscheidungsfreiheit der „Insassen“ darüber, wie sie ihre Zeit zwischen Pflicht und Erholung strukturieren, handeln. Doch könnte es nicht auch die Oberflächlichkeit und Leere der Anstrengung, nur Materielles zu erwerben, als Selbstzweck symbolisieren? Im Gegensatz zu Paulus’ Aussage 1 Kor. 13, 1 „ … hätte (ich) aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.“ (Bibelserver EU Einheitsübersetzung 2016)

Was beschwören die „Tätowierungen“ und „Falsch buchstabierte Leben“ des dritten Haiku? Versinnbildlichen sie individuellen Protest gegen die Armseligkeit der Gesellschaft und den oft unverschuldeten sozial unzulänglichen Hintergrund der „Insassen“? Waren Bildung, soziale Korrekturmaßnahmen hier nicht die eigentlichen Versager? Tätowierungen können allerdings zweierlei demonstrieren: entweder Aussteigerprotest, Mitgliedschaft einer (manchmal kriminellen) Gruppe, – oder, wie bei manchen indigenen Völkern, soziales und kulturelles Ansehen. Wie sehen die „Tätowierungen“ der Lesenden aus und wie „buchstabieren“ sie ihr Leben?
Gefängnis ist oft ein künstliches, steriles und manisches Umfeld, sodass „der Ausreißer“ in Haiku vier, unter Zwangsentzug von der Natur leidend, einen zum Scheitern verdammten Ausbruch versucht hat. Sein paranoides Sammeln von „Pfifferlingen“ ist Überkompensation, typisch für Menschen, denen das, was für deren psychisches Gleichgewicht und Wohlergehen unentbehrlich ist, vorenthalten wird.
Vielleicht spiegelt die Zwangslage des „Ausreißers“ den Verlust an moralischem Gleichgewicht in der Gesellschaft, das Ergebnis der Zwangsaneignung von einem unerbittlichen Erwerbs- und Erfolgsdrang wider, der uns der natürlichen und ethischen Instinkte beraubt, uns sogar in die Regeln der Plünderung für die Jagd nach Staus einweiht. Wir können nur auch zu „Ausreißern“ werden, wenn wir unreflektierte, giftige Gier, der so viele Kulturen als Erfolg applaudieren, bewusst ablehnen und es uns klar wird, dass unser „Gefängniswärter“ uns innewohnt. Das heißt Treue zu einem System, das unsere menschliche Natur wiederholt degradiert und zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Wieder spiegelt das sterile Umfeld der „Insassen“ drinnen die menschliche „Freiheit“ draußen.

Haiku fünf, sieben und acht versinnbildlichen den Mechanismus der Internierung: Werkstätten, Wachttürme, Lampen an der Gefängnismauer vereiteln die Natur. Nacht wird für die „Insassen“ künstlich zum Tag gemacht. Jedoch weckt die personale Erzählerperspektive auch vielleicht die Erkenntnis, dass „die Welt da draußen“ oft zu wenig Zeit für ungestörte Ruhe und Reflexion übrig lässt, sondern immer gegenwärtig ist und die Psyche beschäftigt. Aufdringlich selbst im unbewussten Zustand des Schlafs.

In Haiku neun ist Internierung: „eine Mutter aus Stein“, die gegen Unabhängigkeit und die Einwilligung in eine Art „fürsorgliche Belagerung“ (Dank an Heinrich Böll) bietet. Hat das nicht eine Besorgnis erregende Ähnlichkeit mit Tendenzen in modernen Demokratien?
Ein einziges Mal, in Haiku sechs, bedient sich der Erzähler des „Wir“. Die „Insassen“ und andere stehen auf dem „Anstaltshof“ und die Jahreszeit ist neu, doch nicht anders! Den Lesenden ist bis hierhin vielleicht der Gedanke gekommen, dass der Sinn und Zweck eines Gefängnisses auch darin besteht, den „Unschuldigen“ den Zugang zu den „Schuldigen“ zu verwehren. Die meisten „Unschuldigen“ auf der Welt wollen sich nicht von ihrer „Freiheit“ befreien! Sich von der Freiheit befreien? Unkritische Akzeptanz von nicht zu bändigendem Materialismus und „Wachstum“, religiösen und politischen Ideologien und institutionalisierten Ungerechtigkeiten bildet die oft unsichtbaren „Backsteine“ der Gefängnismauer. Und was ich nicht sehe bzw. nicht weiß, macht mich bekanntlich nicht heiß. Es ist oft vorteilhafter, selber „ein zusätzlicher Backstein in der Mauer“ (Dank an Pink Floyd) zu werden als aus diesem „fürsorglichen“ Gefängnis auszureißen.

Zur Person:
Der schwedische Lyriker Tomas Gösta Tranströmer wurde am 15. April 1931 in Stockholm geboren und starb dort am 26. März 2015. Im Jahr 2011 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein Gesamtwerk, das zwölf Gedichtbände umfasst, wurde in über 50 Sprachen übersetzt.

Gedichte in neuem Gewand: Das lyrische Foyer

Fritz Sebastian Konka. Foto: Markus Schwochert

Die Zeiten, in denen Gäste ehrfürchtig und still einer Literaturlesung folgen und anschließend schüchtern eine Frage an die Schriftstellerin richten, scheinen vorbei zu sein. Während die Besucherzahlen bei klassischen Lesungen immer mehr zurückgehen, können andere Arten der Buchvorstellung wachsende Publikumszahlen verzeichnen. Beim Konzept „Das lyrische Foyer“ sind Schriftsteller und Gäste gleichermaßen gestaltende Elemente, denn die Reflexion der Texte durch die Leserschaft, in diesem Fall Zuhörerschaft, hilft nicht nur beim Erschließen der Inhalte, sondern ermöglicht einen für beide Seiten bereichernden Austausch. Für die schreibende Zunft ist es eine wertvolle Gelegenheit, die Wirkung ihrer Lyrik kennenzulernen.

Das Konzept hat der Autor Fritz Sebastian Konka, eine „prägende Person der Hamburger Literaturszene“ („Die Zeit“ v. 30.03.23), entwickelt. Wir haben ihn zum Interview eingeladen.

DAP: Fritz, wie bist du darauf gekommen, „Das lyrische Foyer“ zu veranstalten?

Fritz Sebastian Konka: Im Frühjahr 2022, anlässlich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, war die Anthologie „Antikriegslyrik“ des Trabanten Verlags erschienen. Ich bin dort auch mit einem Gedicht vertreten. Durch Lesungen mit dem Buch wollte ich Spendengelder für die Ukraine sammeln. Ich fragte bei der Kunstklinik an, ob sie eine solche Spendenlesung veranstalten wolle. Leider hatte das Team um die Geschäftsführerin Rika Tjakea keine Kapazitäten. Rika schlug mir aber vor, die Lesung in Eigenregie in der Kunstklinik durchzuführen. Das tat ich und holte mir den Schlüssel, baute alles auf, inklusive Ton und Beleuchtung, moderierte und las selbst. Mein Tatendrang beeindruckte Rika. Kurze Zeit später fragte sie mich, ob ich nicht regelmäßig Lesungen in der Kunstklinik veranstalten wolle. Wollte ich und entwickelte das Konzept für das lyrische Foyer. Wir erhielten Förderungen für das Konzept und seitdem, September 2022, gibt es diese Reihe.

DAP: Bei der Programmgestaltung gehst du nach einem besonderes Verfahren vor, indem sich Tandempartner zu einem Thema bilden, bitte erläutere das doch einmal näher.

FSK: Ich mag den Austausch, das Miteinander-in-Kontakt-Gehen. Daher stehen die Abende des lyrischen Foyers jeweils unter einem Thema. Dieses wählen regelmäßig die beiden Lyriker:innen, die auf dem Sofa der Kunstklinik Platz nehmen, zusammen aus. Zu diesem Thema kann jede:r, der/die mag, Gedichte auf Instagram beisteuern. Drei Autor:innen dieser Gedichte werden eingeladen, ihr eigenes Gedicht und das einer anderen Autor:in, die/der ebenfalls auf der Bühne steht,  vorzutragen. Dies erleichtert und fördert den Austausch untereinander und schafft unterschiedlichste Blicke auf ein- und dasselbe Thema. Mir gefällt das.

Paulina Behrendt beim Das lyrische Foyer Festival. Foto: DAP

Neben der regelmäßig wiederkehrenden Veranstaltungsreihe an einem Freitagabend gibt es nun auch die Wochenendveranstaltung „Das lyrische Foyer Festival“. Mit einer Mischung aus Workshops von Yoga über Schreibwerkstätten bis zu PR-Maßnahmen für Autoren, Lesungen und Konzerten werden auch Menschen angesprochen, die mit dem Schreiben gerade beginnen oder noch gar nicht angefangen haben, sich aber einen Einstieg wünschen. Das Festival vom 5. bis 7. Juli bot beispielsweise einen Workshop namens „Schreiben im Schwarm“ unter der Leitung von Marta Marx an. Die Verfasserin dieser Zeilen hat an dem Workshop teilgenommen. Marta Marx beeindruckte durch eine sehr einfühlsame Herangehensweise und das Eingehen auf die individuelle Situation und Schreiberfahrung der Teilnehmerinnen. Nach einer kurzen Einführung ging die Gruppe in den Eppendorfer Park und verfasste, jede für sich, ein Minutenprotokoll über einen Zeitraum von 20 Minuten. Alle Sinneseindrücke waren gefragt, Geräusche, Gerüche, Gefühle und natürlich alles, was sich im Blickfeld tat. Die Teilnehmerinnen saßen dicht nebeneinander, tauschten sich während des Schreibens jedoch nicht aus. Das anschließende reihenweise Vorlesen, strukturiert nach den jeweiligen Minuten, in denen geschrieben wurde, offenbarte ein Kaleidoskop aus Beobachtungen desselben Schauplatzes. Abgesehen davon, dass dies eine großartige Übung zum Thema Beschreiben in der Literatur ist, hatten die Teilnehmerinnen auch die Möglichkeit, am Projekt „Parallelprotokolle“ der Kunsthalle Below in Mecklenburg-Vorpommern teilzunehmen, die aus den Minutenprotokollen thematisch sortierte Hefte erstellt und herausgibt.

Beeindruckend ist auch, dass die Mitwirkenden anlässlich des Festival-Wochenendes nicht nur aus dem Hamburger Raum, sondern aus der gesamten Bundesrepublik angereist waren.

Nach jedem Tandem-Lesepaar antwortete der Singer-Songwriter Max Prosa mit einem eigenen Gedicht auf die Texte des Lesepaars und sang einige seiner berührenden Lieder, setzte sich dazu ans Klavier oder spielte Gitarre. Diese Präsentationen sorgten für eine nahezu magische Verbindung der ganz unterschiedlichen Beiträge über den ganzen Abend hinweg.

DAP: Fritz, du verfügst offensichtlich über ein sehr großes Netzwerk. Wie hast du es aufgebaut?

FSK: Über Instagram. Es ging los in der Corona-Zeit mit dem Projekt „Lockdownlyrik“, das Fabian Leonhard, der Gründer des Trabanten Verlags, ins Leben gerufen hatte. Ich lernte nach und nach, mehr und mehr lyrikaffine Menschen kennen und lud sie nach Hamburg zu einem persönlichen Austausch beim sogenannten „Instalyrik-Treff“ ein. Kurze Zeit später entstand das lyrische Foyer und das Netzwerk wuchs weiter.

Das Festival ist nicht nur zur Präsentation eigener Werke gedacht, sondern hat gleichzeitig den Charakter einer Fachtagung und Fortbildungsveranstaltung. Interessierte werden an das kreative Schreiben herangeführt und bekommen neue Impulse. Zeit zum Austausch untereinander ist gegeben und es werden vielleicht neue Literaturfreundschaften geschlossen. So ist das Festival nicht nur ein Anlass der Begegnung der Autorinnen mit dem Publikum, sondern auch eine Zusammenkunft Kreativer, was für die Schriftsteller eine bereichernde Unterbrechung der ansonsten recht einsamen Tätigkeit bedeutet.

DAP: Du bist von Haus aus Jurist. Wann hast Du begonnen zu schreiben? Schreibst Du ausschließlich Lyrik?

FSK: Meine ersten Gedichte, natürlich Liebesgedichte, habe ich mit 18 geschrieben. Ich habe auch Prosa und Kurzgeschichten sowie zwei Romane verfasst. Alles aber unveröffentlicht und schon ein Weilchen her. Momentan schreibe ich, wenn überhaupt, Gedichte. Für längere Texte fehlt mir momentan die Zeit, vor allem aber die Muße. Denn würde ich wirklich wollen, würde ich die Zeit finden. Da muss ich mir nichts vormachen.

Max Prosa. Foto: DAP

Beim Festival Das lyrische Foyer sind viel mehr Altersgruppen vertreten als bei Lesungen in der klassischen Form. Es scheint, dass diese Form der Veranstaltung, die nicht nur einen Frontalvortrag darstellt, sondern die Zuschauer einbezieht, viel mehr Menschen interessiert als das pure Zuhören. Besonders beeindruckt hat mich das sehr junge Tandempaar, das sich literarisch mit der Generationenproblematik zwischen Großeltern und Enkelkindern befasst.

DAP: Fritz, glaubst Du, dass die klassische Art und Weise der Autorenlesung sich als Veranstaltungsform überlebt hat?

FSK: Nein, bestimmt nicht. Sie scheint mir nach wie vor das dominierende Format zu sein und ein schönes dazu.

DAP: Möchte das Publikum stärker auch in die Rolle der Akteure gehen und sich als Teil der Performance begreifen?

FSK: Das eine Publikum gibt es nicht. Manche hören gerne (nur) zu, andere beteiligen sich (auch) gerne. Bei uns sind alle willkommen.

Bewerbt euch für Das lyrische Foyer:

Das lyrische Foyer findet wieder am 4. Oktober 2024 statt. Es ist auf Instagram unter @das_lyrische_foyer sowie auf der Homepage von Fritz Sebastian Konka zu finden, man kann sich noch für die Teilnahme bewerben.

 

Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen

Der neuste  Lyrikband von Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, beschwört durch die Dichtkunst eine Metaphysik des Dauernden im Flüchtigen.

In diesem Band sind sowohl schematische, als auch manchmal intuitive Beschreibungen des persönlich erlebten Transzendentalen versammelt – sie gehen Hand in Hand mit Erörterungen von fernöstlichem Gedankengut und mystischer Tradition u.a. des Christentums: „Gib dich zufrieden und sei stille“ (S.11).

Hauptthema des Bandes, die Definition von „Wirklichkeit“ und deren Grenzen wird in Gedichten wie „Haiku I “ (S. 9),  „Vorläufigkeit“ (S. 28) ausgedrückt. Darum bedeutet Fritsch zu lesen immer auf einem Bewusstseinsstrom zu navigieren, auf dem alle Substanzen, Gefühle und Beziehungen unaufhörlich in Transformation sind: „Die nächsten 60“ (S.16) „Da“ (S. 34).

„Komm und wachse“ ist die eine Botschaft: „Ich werde nicht bescheiden sein“ die andere (S. 49).  und zum Moment zu sagen „verweile doch, du bist zu schön“ ist immer Falschheit und Selbstbetrug gewesen; Vervollständigung und Transzendenz wurden so verpasst. Dann wird die Zeit  zu einem Gefängnis, denn wo keine Veränderung stattfindet, wird Stasis zum Verfall: „Ewige Jugend“ (S. 62)  besagt in einem skeptischen Ton, was ebenso unmöglich wie unpassend ist: „Du willst …, dass ich Deinem Blick/anheimfalle/ … die Uhren/rückwärtsdrehn/Wunder wirken“. Stillstand erst bringt Sterblichkeit d.h. Gefangenschaft im Ich: „Zeitstillstand“ (S.74).

Sobald das „Glück ohne Ende“ sich erfüllt, wird es zu einer Erinnerung. Darum ist Glück ohne Ende eine Legende. „Die Legende vom Glück ohne Ende“ (S 65). Das von einer spießbürgerlichen Mittelschicht ersehnte „Glück ohne Ende“ (S. 69) steht als leer und hässlich entlarvt da.

Der Tod ist nicht das Gegenteil vom Leben, Nacht ebenso wenig das Gegenteil von Tag „Sehnsucht“ (S. 76), sondern Ausdruck der Ewigkeit: „Sehnsucht geerdet /in Sinn und Verstand … im Haar.“ Die letzten 7 Zeilen dieses Gedichts erinnern an die Aussage des Sufimystikers Imadeddin Nesimi: „Ins Absolute schwand ich hin. Mit Gott bin ich zu Gott geworden.“ Die Einheit der Welt  besteht in Gott, der nicht außerhalb oder über, sondern in der Welt realisierbar ist: „Zwischentöne“ (S. 82). Jedoch existiert neben der immanenten Gottesebene eine transzendentale (c.f. Spinoza), auf der alle Elemente vereint sind. Das kann man auch von „Ausflug in die Zeit“ (S.100) behaupten.

Gott ist für den Pilger ein Paradox: „Licht ohne gleichen, das dunkel ist,/ in dem wir sehn.“ Des Pilgers Auffassung der Wirklichkeit ist unvollkommen und „beschlagen“ (c.f. 1. Kor. 13:12): Doch am Ende seiner Zeit sieht er ohne Schleier, „Nur eins dies Jahr“ (S.101), „Von Angesicht/ zu Angesicht“. Die Zeit kann nur punktuell Heimat werden, sie bleibt ein Tal der Tränen.

Jenseits der Zeit kann und muss man sich dann von den Elementen treiben lassen – wenn alle Zeiten zu einer Zeit zusammenkommen – das ist die Dialektik von Sein und Nicht-Sein. „Ich“ enthält in einem ewigen Augenblick alle Emotionen und überhaupt alles, was gewesen ist und was kommen wird. Gegensätze und Gegenteile sind versöhnt. „Ich“ ist befreit und nicht in der Zeit, sondern umgekehrt. Diese Herrschaft über die zeit besiegt den Tod: „Liedchen für den ewigen Augenblick – ein kaltes Gedicht“ (S. 88-89). In die Zeit hineingeboren zu sein, heißt auf eine Pilgerfahrt losgeschickt zu werden  – „Nur eins dies Jahr“  (S. 101): „Die Zeit ein Wanderstab/ zu Gott…“ – auf der das Ego vor dem Körper stirbt – „Vorhangbrokat“ (S. 36)  – . Tod und Sterben als Ende des hiesigen Fortlebens bedeuten die Transformation in einen anderen Zustand, die Erlangung von Frieden.

Der Band endet mit dem Gedicht „Gebet“ (S. 105). Eine Bitte an Gott und eine Zusammen- fassung der Merkmale des Pilgerlebens und dessen Hoffnung: „Mut und Neugier“, „Schönheit“, „Klugheit, Liebe dieser Welt/ zu Füßen legen und auferstehn…/ und dir Verstand und Herz und Sinn verdanken/ und meine Schranken testen …/ Ich komme zur Ruh und komm doch nicht zur Ruh,/bis ich ganz göttlich bin./Ich glaube und ich glaube nicht -“. Darum, liebe Leser(innen), mit Sybille Fritsch beten und „AUFSTAND WAGEN…“ !

Sybille Fritsch, „DA! Gedichte“, Geest-Verlag 2024, 116 S., 12 Euro,
ISBN 978-3-86685-974-6

Festival „Das lyrische Foyer“ in Eppendorf

Plakat

Vom 5. bis zum 7. Juli 2024 findet in der Kunstklinik Hamburg zum zweiten Mal „Das lyrische Foyer Festival“ statt.

Dieses Jahr werden neben etablierten Künstler:innen wie der von der Kritik gefeierten Lyrikerin Ulrike Almut Sandig, dem Liedermacher Max Prosa, dem vielfach preisgekrönten Konzeptkünstler Lucian Patermann sowie dem Schauspieler Moritz Russ auch verschiedene junge Hamburger Lyriker:innen (Robert Hahne, Paulina Behrendt, Hannes Franzke) zu Gast sein. Zudem werden Workshops angeboten, in denen zusammen geschrieben werden kann. Auch eigene Gedichte der Besucher:innen erhalten einen eigenen Raum, zum Beispiel beim offenen lyrischen Foyer, einem lyrischen Spaziergang im Eppendorfer Park oder dem poetischen Kreis. Zwischen Lesungen, Workshops, Konzeptkunst, Yoga und Konzerten wird es weitere Möglichkeiten des lyrischen Austauschs geben, zum Beispiel bei gemeinsamen Essen.

„Das lyrische Foyer Festival“ hat sich aus der regelmäßig stattfindenden Veranstaltung „Das lyrische Foyer“ entwickelt. Premiere hatte jene von Fritz Sebastian Konka ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe am 29. September 2022. Zu Gast waren dort unter anderem bereits Dota Kehr, Max Czollek, Hasune el-Choly oder Sirka Elspaß. „Das lyrische Foyer“ legt den Schwerpunkt auf die hinter ihrer Lyrik stehenden Persönlichkeiten und kommt nahe. Den Menschen und den Zuschauer:innen. Es wird vorgetragen und analysiert, nachgefragt und interpretiert.

Lyrik jeden ersten Freitag im Quartal

„Das lyrische Foyer“ findet immer am ersten Freitag im Quartal Kunstklinik Hamburg, Martinistraße 44a Hamburg-Eppendorf statt; das nächste Mal im Rahmen des Festivals als offenes lyrisches Foyer am 5.7.2024 um 19.00h. Eigene Gedichte können auf Instagram an @das_lyrische_foyeroder per Mail an das.lyrische.foyer@gmail.com geschickt werden. Alle Gedichte sind willkommen und jede:r kann teilnehmen. Acht Autor:innen werden eingeladen, ihre Gedichte im Rahmen des Festivals vorzutragen.

Das lyrischen Foyer hat sich mittlerweile als Anlaufstelle für den poetischen Austausch im deutschsprachigen Raum etabliert. Es ist eine aktive Community entstanden, die auf Instagram mehr als 1.900 Follower:innen beheimatet. Täglich werden neue Gedichte auf dem Kanal veröffentlicht. Der Kopf hinter dem lyrischen Foyer (Festival) ist der Hamburger Lyriker Fritz Sebastian Konka (https://dasalltaeglichechaos.wordpress.com/ueber-mich/).

Die Tickets für das Festival sind über den folgenden Link erhältlich:

https://www.eventim-light.com/de/a/57330368e4b01fff8947d999/e/6634ce26f3098d58a3c62f7a

Die Preise (zzgl. VVK) gestalten sich wie folgt:

Festivalticket Freitag bis Sonntag, 59 € (ermäßigt bzw. Clique 49 € p.P.), Unterstützungspreis 79 €
Tagesticket Freitag 29 € (ermäßigt bzw. Clique 20 € p.P.), Unterstützungspreis 39 €
Tagesticket Sonnabend 39 € (ermäßigt bzw. Clique 30 € p.P.), Unterstützungspreis 49 €
Tagesticket Sonntag 19 € (ermäßigt 10 € p.P.), Unterstützungspreis 29 €
Einzeltickets 15€ (ermäßigt 10 €) für alle Einzelveranstaltungen, keine Einzeltickets für Workshops

Link zur Festival-Homepage: https://dasalltaeglichechaos.wordpress.com/ 

Instagram: Festival auf Instagram

Im Duft des Frühlings: Lyrik und Musik

Seit fast 50 Jahren ist der gebürtige Ungar Dr. László Kova als Wahlhamburger vom literarischen Geistesgut Wolfgang Borcherts, Günter Grass und Siegfried Lenz inspiriert. Er wuchs mit der Literatur der auch in Deutschland bekannten ungarischen Schriftsteller u.a. Péter Nádas, György Konráds, Péter Eszterházys sowie des Nobelpreisträgers (2002) Imre Kertész auf.

Am Fr., 17. Mai 2024 um 18:30 Uhr liest Dr. László Kova aus seinen veröffentlichten Werken Gedichte und Erzählungen „Im DUFT des FRÜHLINGs“ in der Bücherhalle Eidelstedt im steeedt (Kulturhaus Eidelstedt, Alte Elbgaustraße 12. 22523 Hamburg).

Der Lebenslauf des freischaffenden Schriftstellers, Journalisten und bildenden Künstlers László Kova ist bunt: Er war Hauptschullehrer, Wirtschaftsmanager, Hochschuldozent, Hilfsarbeiter, Arbeitsloser, Handballtrainer in der deutschen Bundesliga und 20 Jahre lang Deutschlehrer für ausländische Studenten in Hamburg.

Dr. László Kova

László Kova ist Mitglied der renommierten Hamburger Autorenvereinigung e.V.
Seine Kurzgeschichten erschienen in Anthologien im LangenMüller Verlag München zusammen mit Walter Kempowski, Sybil Gräfin Schönfeldt, Arno Surminski und Siegfried Lenz. Weitere Erzählungen von ihm veröffentlichten der net-Verlag Tangerütte, Zeitgut Verlag Berlin, Verlag Expeditionen Hamburg, Zeitschrift Hamburger Autoren und der Rowohlt Verlag Hamburg/Reinbek.

Die Autorenlesungen von Dr. László Kova beinhaltet diverse Themenkreise, u.a.

„ WORT-RAUSCH”
„Im DUFT des FRÜHLINGs“
„Aus dem FRÜHLING in den SOMMER”
„Im DUFT des Sommers“
„HERBSTBLÜTEN”
„LEBEN, LIEBEN und mehr…“
„ALSTER, ELBE, HAFEN, HAMBURG, VENEDIG”

Seine literarischen Stücke begleitet Kova live mit musikalischen Klängen (auf dem Keyboard), die die Phantasie der Zuhörer in zusätzliche Dimensionen heben. Das Publikum  erlebt während der Lesung  Unterhaltsames, Ernstes und Humorvolles.

Website: http://www.edition-kova.de/

Neue Literatur im alten Rathaus: Urs Heftrich

Der Lyriker Urs Heftrich, Jahrgang 1961, leitet an der Universität Heidelberg den Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft. Einen Namen machte er sich mit preisgekrönten Übertragungen und Editionen tschechischer Lyrik sowie als freier Autor für das Feuilleton der FAZ und der NZZ.

Sein Debüt als eigenständiger Dichter liegt noch gar nicht lange zurück. Nach langer Schreibblockade wagte er sich erst 2021 mit eigener Poesie an die Öffentlichkeit. Seither kamen in rascher Folge drei Lyrikbände heraus: die Foto- und Gedichtmappe „Maronenmond“ (Hamburg 2021), die von dem Komponisten Gilead Mishory vertont wurde, die „Reime“ des Bandes „Halbinselfisch“ (Niederstetten 2021) sowie der deutsch-englische Foto- und Lyrikband „Gehäuseschutt – House of Rubble“, 2023 verlegt bei Angeli & Engel in Hamburg.

Die Kritik reagierte ausnehmend positiv: Die Gedichte decken, so die Rezensenten, „ein ganz breites kulturgeschichtliches Spektrum“ ab, indem sie die „verblüffende Technik eines Arcimboldo“ mit der „Zerlegung einer modernen Ironie“ verknüpfen. Sie sind dazu angetan, „Sehgewohnheiten aufzubrechen“ und „Denkschemata rotieren zu lassen“. Natur wird in ihnen „auf sinnliche, sehr lebendige Art erfahrbar gemacht“, doch behalten sie dabei immer ein „Geheimnis“: „Als Leser lauscht man in diese Gedichte hinein, man möchte sie ergründen und weiß doch, dass es bei einer Annäherung bleibt, bleiben muss.“ Gelegenheit zur Annäherung an Gedichte und Autor gibt unsere Lesung am 10. April.

Neue Literatur im alten Rathaus, Folge 26
Urs Heftrich

Mittwoch, 10. April 2024, 19:00 Uhr
Haus der Patriotischen Gesellschaft, Säulenkeller
Trostbrücke 4, 20457 Hamburg

Moderation: Peter Engel

Eintritt frei. Bitte melden Sie sich an: https://www.patriotische-gesellschaft.de/veranstaltungen/neue-literatur-im-alten-rathaus-urs-heftrich 

 

Verlag Angeli & Engel
Saselbekstraße 113
22393 Hamburg
Tel.: 040-60566773
Mail: angeliundengel@gmail.com

Ein Drängen, das auf verstürzten Wegen Freiheit sucht

Gedenken an den Lyriker und Künstler Winfried Korf (1941-2021)

Als ich, frisch gebackene Sekretärin der Hamburger Autorenvereinigung, mit dem Korrekturlesen der Beiträge für die Anthologie „Spuk in Hamburg“ (Verlag Expeditionen, Hamburg 2014) befasst war, beeindruckten mich zwei Gedichte eines Lyrikers besonders, den ich bislang nur vom Sehen kannte. Dieser Lyriker arbeitete sehr traditionell, mit einem packend bildhaften und eloquenten Wortschatz, geschliffenem Metrum und gestochenem Versmaß. Wer war dieser Mensch, der einer offiziellen Version der Gattung Lyrik „linksbündiger Flattersatz“ mit althergebrachter Wortgewaltigkeit trotzte?

Bei unserer Lesung zur Vorstellung der Anthologie ließ ich mir auch ihm ein Autogramm auf seine Autorenseite schreiben. Seine Widmung lautete: „In Erinnerung an die glanzvolle Vorstellung unserer Anthologie“. Seine Schrift war genauso wie seine Gedichte: Barock und verschlungen.

Einige Jahre später war unser Kontakt zu einer Freundschaft gediehen, die auch das gemeinsame Arbeiten an unseren Gedichten – für eine ganze Zeit auch zu dritt mit einer weiteren HAV-Kollegin – einschloss. Wir diskutierten, manchmal hart, über Formulierungen und den Sinn von Interpunktion in Gedichten. Man konnte sich an ihm die Zähne ausbeißen! Aber gerade das machte es so spannend, denn sein Humor verließ ihn dabei nie. Unsere völlig unterschiedliche Art zu schreiben war kein Hindernis, sondern gerade eine Bereicherung. Dabei hatte Winfried die Angewohnheit, zu „schweren Fällen“ nicht nur Bearbeitungsvorschläge zu unterbreiten, sondern ein eigenes Parallelgedicht zu schreiben. Eine einzigartige Erfahrung, die eine völlig neue Perspektive auf den eigenen Text eröffnete.

Diese Parallelgedichte sind nun, gut anderthalb Jahre nach seinem Tod, neben seinen wunderbar gestalteten handschriftlichen Briefen und seinen Gedichten, ein großer Schatz für mich.

Karin Grubert und Winfried Korf, Foto: privat

Winfried Korf war Maler, Zeichner, Lyriker. Er war auch Historiker, Dozent in der Erwachsenenbildung und Dramaturg, er spielte Klavier, er war ein Tausendsassa. Und er war ein Mensch, der niemals stillzustehen schien. Wenn er nicht schrieb, zeichnete er. Wenn er nicht malte, fotografierte er. Er war ein Getriebener, manchmal kam er mir vor wie jemand, dessen Kerzen an beiden Enden brannte. In seiner letzten Lebensphase sagte er mehrmals, er könne noch nicht sterben, er habe noch zu viel vor. Und bis zu seinem letzten Tag am 14.12.2021 schrieb und malte er, unermüdlich. Die Überschrift dieses Textes, ein Zitat aus seinem Gedicht „Ewige Wanderung“ (Buchtitel s. u.) erscheint mir wie eine Beschreibung seines Wesens. Das Drängen, das ihn antrieb, blieb bis zum letzten Moment. Er hinterließ Mengen an Werken in Wort und Bild, ein Gesamtkunstwerk, das seine Frau Karin Grubert nun unermüdlich ordnet, sortiert und erfasst. Berührend dabei ist, dass er selbst vieles zusammengestellt hatte, das Ordnen seiner künstlerischen Dinge könnte man als Vermächtnis auffassen.

Uns verband die Lyrik, die Literatur, ein wenig auch die Malerei. Natürlich flossen in unsere Gespräche seine umfangreichen Kenntnisse aus den anderen Bereichen seines Wissens ein, aber nie schulmeisterlich, sondern immer dezent, zurückhaltend und bereichernd. Sein Sinn für das Schöne, der Hang, jede Box für Notizzettel, jede Schachtel, jede Mappe mit künstlerischen Elementen zu veredeln, umgab ihn wie ein Raum, in dem er lebte. Alles, was er anfasste, machte er zu Kunst.

Unsere Gespräche über unsere Gedichte, aber auch über andere Literatur, über das Leben, Gott und die Welt, den Garten, die Liebe – diese Gespräche fehlen mir unendlich. Dankbar bin ich dafür, dass wir uns begegnet sind. Dankbar auch für seine Gedichte, mit denen er seine Handschrift hinterlassen hat. Spät entdeckte er, der Reimdichter, das ungereimte und minimalistische Haiku; eine Form, der er exzessiv frönte und sie auch mit seinen Fotografien zusammenbrachte. Vielleicht hätte er heute, bei einer Feier anlässlich seines 82. Geburtstag, in fröhlicher Runde welche zitiert. Ganz bestimmt ist dieser Tag ein Anlass, in seinen Gedichtbänden zu lesen. Dies ist eins meiner Lieblingsgedichte:

Auf dem Stege
Betrachtungen im Böhmerwald

Immer anders, immer gleich: Geweb’ der Wellen,
Die hurtig über Wehr und Felsen schnellen,
Im Lichte springen, gleich gejagten Rudeln
im dunklen Grunde unter Wurzeln strudeln.

Immer gleich und immer anders: Streit der Steine.
Jeglicher am andern und für sich alleine
Werden sie flussab geschoben und im Schieben
Aneinander zu Geröll und Sand zerrieben
Und als Stoff zum späteren Gebären
Neuer Bergeswelt begraben in den Meeren. –

„Du steigst nicht zweimal in denselben Fluss“:
Er ist es und er ist es nicht.
Du bist es und du bist es nicht.
Wir alle ändern Leben, Lauf, Gesicht –
Ein jeglicher nach seinem Muss.

Und doch ist’s nur die eine Sphäre,
Darin Zerstörer durch die Zeiten kreisen,
Sich steigern, gipfeln, mindern und zerreißen,
Sich verflammend ineinander schweißen
Zu Gestalten, schmelzend in der Leere,

Daraus der Geist sich seine Körper schafft:
Die Dinge als Verdichtungen der Kraft.
Von dem Stege zwischen Hier und Dort,
Von seines Bogens aufgewölbtem Ort,
Der, keines Ufers Eigen, beide bindet
Und überschreitet und kein Ziel je findet,

Schau‘ ich hinunter auf das Schnellen,
Auf das Geweb‘ der Steine und der Wellen:
Strömen, strömen, strömen – Takt der Zeit,
Verschränkt in den Kristall der Ewigkeit.

Winfried Korf (1941-2021): Wanderung im Abend, BoD, Norderstedt 2016

Titel von Winfried Korf bei Amazon: https://www.amazon.de/s?k=winfried+korf&crid=11IILNECC0KER&sprefix=winfried+korf%2Caps%2C89&ref=nb_sb_noss

Siri, die Gänse reden

Alsterabend
Foto: Privat

Ich fragte Siri nach dem Sinn des Lebens
und sie sagte: 42
seitdem vertraue ich ihr
und nun warte ich vor dem Neptun
der seinen Dreizack hoch über das Gewässer hält
Zur Rechten und zur Linken flüstert der Wind
in Schilf und Weiden
in meinem Rücken eine asphaltierte Promenade
und das Gras auf der Liegewiese dahinter
ist raspelkurz gehaltenen von einer Herde Gänse
alle beringt und sprachfreudig und von guter Verdauung

Ich frage Siri, und sie sagt
die Gänse sprechen von Futter und Liebe
Genau wie ich, ist meine Antwort
und Siri sagt: deine Verabredung
ist 30 Minuten überfällig
Ich sage: das hat nichts zu bedeuten
sie wird schon kommen
wir haben uns mehr zu sagen
als alle Gänse zusammengenommen
und Bilder lügen nicht
davon hat sie mir auch genügend geschickt
das Grübchen, dieser offene Blick

Siri sagt: dein Provider ist vertrauenswürdig
aber das besagt nichts
über die Nutzerinnen der Programme
Ich ärgere mich über die Antwort
wir schweigen beide und lauschen den Gänsen
bis hinter dem Sockel des Neptuns
eine Bewegung entsteht und
meine Verabredung hervortritt und mich fragt
sprichst du mit deinem Handy?
ich habe mich nicht getraut dich zu stören

Darauf will ich etwas entgegnen
aber Siri übernimmt und sagt
so einfach liegen die Dinge nicht
ich kenne eine Angststörung
wenn ich sie höre
wie lange bist du schon in Therapie?
Und meine Verabredung sagt
seit einem Jahr, mein Therapeut meint
ich mache gute Fortschritte

In der Pause, die folgt, schnattern die Gänse
der Wind streicht durch Schilf und Weidenlaub
und winzige Wellen glucksen ans Ufer
während meine Verabredung
die Finger zu einer Raute aneinanderlegt
Siri fragt dann an meiner statt
warum versteckst du dich hinter einem Denkmal
gehört das zur Therapie?
Ich komme meiner Verabredung zuvor
und sage zu meinem Phone
die Frage ist berechtigt
doch sollte sie nicht zur Unzeit gestellt werden
hörst du nicht die Gänse
von Futter und Liebe und Sex reden?

Und Siri sagt: dieses Gespräch führt zu keinem Ziel
es ist ein Fehler, wir sollten es löschen
aber wie du willst – kein Problem
wenn du deine Verabredung behalten möchtest
dann wirf mich ins Wasser
Worauf meine Verabredung gründlich erschrickt
das kann ich nicht zulassen
also gehe ich jetzt wieder zum Neptun
dahinter hat es eine schöne Aussicht
über den See und wir alle tun so
als hätte es dieses Treffen nie gegeben

Siri sagt: das scheint mir eine elegante Lösung
bravo und nichts für ungut
richte das deinem Therapeuten aus
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Uhr
und Siri sagt: jetzt schon 45 Minuten Verspätung
du sollest dich nach einer Alternative umsehen
Meine Verabredung winkt mir Adieu und sagt
ich werde meinem Therapeuten von dir erzählen
Grüße an dein Phone, wenn’s genehm ist
Hinter mir schnattern die Gänse
während meine Verabredung Leine zieht,
Siri was reden die Gänse?
komm mit auf die Wiese
wir wollen uns umhören

 

Federn sammeln: Über den Lyriker Ilhan Sami Comak

Bild: Krzysztof Niewolny, Pixabay

Ilhan Sami Çomak wurde 1994 im Alter von 22 Jahren festgenommen und sitzt nunmehr seit 28 Jahren im Gefängnis. Bis heute wurden von ihm neun Bücher mit Gedichten veröffentlicht. Neben Lyrik hat er auch noch viele Essays geschrieben, die in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht wurden, und seine Autobiographie, die bereits in der 4. Auflage erschienen ist.
Wenn man seine Schriften liest, kann man Zeuge seiner Liebe, Freude und seines Optimismus werden.
Ipek Özel ist Sozialarbeiterin und besucht Ilhan zweimal im Monat. Sie hat eine Veranstaltung des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und des Letters with Wings aus Irland organisiert, die am 20. November 2021 zum Day of the Imprisoned Writers stattgefunden hat. Einen Mitschnitt der mehrsprachigen Veranstaltung ist auf YouTube zu sehen (https://youtu.be/3FTvXLpgpqI).

Mit einem Gratulationsvideo zu Ilhan Sami Çomaks Geburtstag am 8. März 2022 hat Gino Leineweber, Vorstandsmitglied des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, ein Gedicht von ihm gelesen, das hier vorgestellt wird.

Auf dem Video wird das Gedicht in Englisch vorgetragen.

Hier folgt der Text mit einer anschließenden deutschen Übersetzung.

FEATHER COLLECTING
By Ilhan Sami Çomak
Translated by Caroline Stockford

With my conscious dark I correct my writing
Why did I clap and come into this world?

Hear me

I asked the world whilst in your presence:
Why did I land?
These days my mind is seeded with flight
Not with the static stare of stone, but degree by degree
With a flight that denies the road

With the boundlessness that opens the woven cage of sky:
Frighten me
Prove me the stars’ slightest movement!
My consciousness I refresh in the darkness
Bird feathers I collect for you

At the sound of wings the pomegranate cracks
From the hoop that is love to the palm of the leaf
I came from the stratum of rain in the conscious-raising roar
I drank water
From this stairway of no sound and into the world
why did I come?

I sing songs with the distant dream of flying
my name suits well to blue, and you
Your name fits the distances
The wind blows, the wind is blowing, shadows leaning
I collect up the blowing, the footstep sounds of morning
The clear destiny of laughing to your heart’s content,
Yes, in this realm of sheer habit why did life
Come to me?

The limitless law of flight is steeping in your warmth
The lightness of embracing my awareness refreshes

What meaning has flying
I have bird feathers
I have the sky
A heartbeat that is washed by your smiles
I have that.

 

Ein Gedicht von Ilhan Sami Çomak
Aus der englischen Version von Caroline Stockford übersetzt von Gino Leineweber

Im Dunkel des Bewusstseins ändere ich meine Texte
Warum erfreute es mich in diese Welt zu kommen?
Höre!
Ich fragte die Welt als du bei mir warst:
Warum bin ich hier?
Mein Geist ist jetzt vom Fliegen berauscht
Nicht mit statischem Starren auf Mauern
sondern Stufe für Stufe
Vom Fliegen ohne Straßen zu berühren

Grenzenlosigkeit die den gewebten Himmelskäfig öffnet:
Lasse mich schaudern
Zeige mir die kleinsten Bewegungen der Sterne!

Im Dunkel erfrische ich mein Bewusstsein
Sammle für dich Vogelfedern
Vom Flügelschlag platzt der Granatapfel
Das Band der Liebe umspannt Palmenblätter
Ich kam aus den Regenwolken
im bewusstseinssteigernden Tosen
Wassertrinkend
Stillschweigend in die Welt:
Warum?

Ich träume Lieder von fernem Fliegen
Mein Name ist passend zum Blau
und deiner
Deiner zur Ferne

Der Wind bläst, weht und die Schatten neigen sich
Ich sammle das Wehen, die Trittgeräusche des Morgens,
Die heitere Fügung nach Herzenslust zu lachen
Ja und im Reich der reinen Gewohnheit die Frage:
Warum?
Warum ist das Leben zu mir gekommen?

Die grenzenlose Bestimmung des Fliegens taucht in deine Wärme ein
Die unbeschwerte Umarmung erfrischt mein Bewusstsein

Welchen Sinn hat Fliegen?
Ich habe Vogelfedern
Den Himmel
Und mein Herz ist von deinem Lächeln umspült
Das ist was ich habe

 

 

Manifest der deutschsprachigen Ikigai-Lyrik

Laotse, chin. Philosoph
Foto: Gontran Peer

Unsere Gegenwart ist die Zeit der geistig-seelischen Wende, für jeden von uns daher auch lebensentscheidend. Die Spiritualität findet im Alltag und im Leben jedes einzelnen Menschen jene Aufmerksamkeit, die diese Welt ins Positive verändern wird.

Das wahre Leben kennt nur Gegenwart, Harmonie, Licht, Liebe, Glückseligkeit, Wahrheit und Unschuld. Das wissen wir Menschen – egal, wo wir uns auf diesem Planeten befinden. Wir Menschen haben all das sogar in unseren Seelen gespeichert, wollen es allerdings nicht immer oder nur teilweise wahrnehmen und wahrhaben und vor allem nicht in die Tat umsetzen.

Deshalb sollte es wieder zur prioritären Aufgabe aller Kunstbereiche werden, Hilfe zu leisten und die Menschen auf die spirituellen Werte des Lebens hinzuweisen. Demzufolge spricht sich jetzt der Urheber dieses Manifests ganz klar für das Ikigai als Ziel eines kollektiven Glücks aus.

Eine japanische Lebensphilosophie

Das Ikigai ist eine japanische Lebensphilosophie, und Ziel des Autors dieses Manifests ist es, auch für die deutschsprachige Lyrik den japanischen Namen IKIGAI zu übernehmen.

Ikigai ist ein japanisches Wort und bedeutet auf Deutsch so viel wie Lebenssinn, Freude oder Wert des Lebens. “Iki” bedeutet Leben und “gai” Wert. Ikigai ist auch bewusste Wahrnehmung sowie Selbstfindung und Selbstverwirklichung jenes Wesens, das man selbst ist.

Im Wort Ikigai ist schon alles enthalten, wonach der Mensch streben und auch suchen sollte: das eigene und das kollektive Glück.

Die Suche nach dem Ikigai ist ein Prozess innerhalb einer Vielfalt von Existenzen.

Die Ikigai Lebensphilosophie will sich jetzt ganz sicher nicht zufällig im deutschen Sprachraum verbreiten, sondern aus der bereits genannten spirituellen Notwendigkeit des einundzwanzigsten Jahrhunderts heraus.

Das Ikigai will sich als literarische, aber noch mehr als spirituelle Strömung der japa- nischen Kurzlyrik in deutscher Sprache durchsetzen. Es ist deshalb also nicht nur eine lyrische Gattung oder Form, sondern eine Lebenseinstellung, ein Lebensweg und ein Lebensauftrag, welche sich einiger japanischen Kurzlyrikformen und Kurzlyrikgattungen bedienen.

Das Ikigai bezieht sich vor allem auf die japanischen Lyrikformen und Gattungen wie Haiku, Senryu, Haibun, Haiga und Tanka, die im deutschen Sprachraum seit dem zwanzigsten Jahrhundert – sei es in japanischer Sprache als Original, als auch in deutscher Sprache als Übersetzung oder als Neuschaffung – in Erscheinung treten.

Ikigai ist nichts Geringeres als das allumfassende essenzielle Thema, um welches sich das ganze Leben dreht.

Ikigai ist also ein Sammelbegriff. Alle in diesem literarischen Manifest genannten japanischen Lyrikgattungen und Formen in deutscher Sprache dienen dem Ziel des kollektiven Glücks und werden hier deshalb als Ikigai bezeichnet.

Alles ist und hat Ikigai

Der Verfasser des Manifests will sogar von der grundlegenden Erkenntnis ausgehen: Alles ist und hat Ikigai, und jeder ist und hat Ikigai.

Die deutschsprachige Ikigai Kurzlyrik nach japanischem Vorbild will nach dem Wert des Lebens, also nach dem kollektiven Glück suchen und in diesem Zusammenhang und Kontext an die japanische literarische Blütezeit in der Edo-Periode anknüpfen.

Religionen, Philosophien und Denkweisen wie Shintoismus, Taoismus, Konfuzismus, Buddhismus und vor allem Zen-Buddhismus sollen das deutschsprachige Ikigai unterstützen.

Die deutschsprachigen lyrischen Ikigai Dichtungen nach japanischem Vorbild sind einerseits ausgesprochen der japanischen Tradition verpflichtet, andererseits aber auch der japanischen Moderne.

Da für jeden Ikigai-Dichter der Ausgangspunkt seiner Lyrik seine gegenwärtig geistig-seelische Ebene ist und das Ikigai sein sich gesetztes Ziel, darf die deutsch-sprachige Ikigai Dichtung nicht als spirituell vollkommenes Werk verstanden werden.

Der Frosch ist in Japan ein Glücksbringer.
Foto: Gontran Peer

Dem Ikigai-Dichter muss es darum gehen, dass die Natur, die Umwelt sowie die Mitmenschen an seinem Alltag sowie an seinem inneren Leben vollkommen teilhaben können – um zu erreichen, dass er in einem immer umfassenderen Bewusstseinzustand die Freiheit des Geistes, also das Glück schrittweise für sich findet und es dann anderen Menschen weitergeben kann.

Der verantwortungsvolle Auftrag sowie die besondere, große Aufgabe des Ikigai-Dichters besteht darin, seine Leser sowie Zuhörer durch seine Lyrik schrittweise zum geistig-seelischen Glück zu verhelfen.

Das ist die Gegenwart, das ist die Wende. Es lebe hoch die Gegenwart – und hoch lebe die Wende!

Ebenda im einundzwanzigsten Jahr des einundzwanzigsten Jahrhunderts

Rucksack – A Global Poetry Patchwork

Rucksack 2020, Foto: Antje Stehn :: Die Installation ist seit September 2020 im Il Piccolo Museo della Poesia, Chiesa di San Cristoforo (Piacenza/Italien) zu sehen.

Drei unserer Mitglieder, nämlich Emina Čabaravdić-Kamber, Maren Schönfeld und Gino Leineweber, sind an dem internationalen Poesie-Projekt mit Gedichten beteiligt. Das von Antje Stehn initiierte Projekt beschreibt sie auf ihrer Seite thedreamingmachine.com:

Rucksack, bei Global Poetry Patchwork ist ein Kunstinstallationsprojekt, das am 26. September 2020 im Piccolo Museo della Poesia in Piacenza (Italien) eröffnet wird. Es besteht aus zwei Makroarbeiten: einer Installation mit einem großen Beutel, dem Rucksack, aus getrockneten Teebeuteln und einer Ausstellung mit kurzen Gedichten, die am Ende der Ausstellung in das Museumsarchiv aufgenommen werden sollen. Eine Audio-Loop-Installation bietet dem Publikum die Möglichkeit, den Stimmen von Dichtern zu lauschen, die in ihrer Muttersprache rezitieren. Das Werk vereint eine große Anzahl von Menschen, Orten, Visionen, Sprachen und unterstreicht den Wert der Nähe, der in diesem von Distanz und Enge geprägten historischen Moment, von der akuten Prekarität des menschlichen Netzwerks, so bedeutsam ist. 

Warum Tee? Warum Poesie?

Teebeutel haben eine lange Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, als die Chinesen anfingen, kleine quadratische Beutel zu nähen, um das Aroma der verschiedenen Tees besser zu bewahren. Die „Tee- und Pferderoute“ entstand während der Tang-Dynastie (618-907), lange vor der Seidenstraße, um die Handelsbeziehungen zwischen Tibet und China zu festigen. Und seitdem gehören Teebeutel zu den kleinsten Behältern, die wir in jedem Haushalt verwenden und finden. Tragetaschen gehörten zu den ersten Werkzeugen, die Frauen und Männer benutzten, um Gegenstände und Erinnerungen zu transportieren. Unsere Vorfahren waren Jäger und Sammler, aber in Wirklichkeit dominierten Sammler, da 80% ihrer Nahrung aus dem Sammeln von Samen, Wurzeln, Früchten in Netzen, Säcken und in jeder Art von Lichtbehälter stammten. Taschen waren gestern wie heute wichtige Transportmittel, wie wir sehen, dass Tüten in den Supermärkten als Einkaufsbehälter verwendet werden. 

seeking unity / by drawning the argument / in a cup of tea :: Haikuinstallation: Maren Schönfeld / Übersetzung: Barry Stevenson

Poeten aus aller Welt haben Gedichte eingereicht, teilweise auch künstlerisch verpackt, und kurze Filme mit der Lesung ihrer Gedichte in ihrer Muttersprache gedreht. Diese sind auf dem Youtube-Kanal Rucksack a Global Poetry Patchwork zu sehen.

Deutsch-italienischer Lyrik-Nachmittag

Gemeinsam mit der Hamburger Autorenvereinigung gestaltet Antje Stehn mit den Autorinnen und Autoren Emina Čabaravdić-Kamber, Sabrina De Canio, Uwe Friesel, Don Krieger, Gino Leineweber, Claudia Piccino, Mamta Sagar und George Wallace einen Lyrik-Nachmittag. Die Begrüßung übernimmt die Vorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, Sabine Witt (ebenfalls Mitglied der DAP), die Moderation erfolgt durch die Initiatorin des Projektes, Antje Stehn, sowie den Hamburger Autor und Ehrenvorsitzenden der HAV, Gino Leinweber.
Die Lesung findet am Samstag, den 10.07.2021, als Zoom-Meeting statt. Der Beginn ist um 19:00 Uhr. Anmeldung unter info@hh-av.de, den Teilnahmelink erhalten Zuhörer dann per E-Mail.
Die Teilnahmegebühr beträgt € 8, für Mitglieder der HAV frei.

Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien.

Was Körper und Geist im Inneren verbindet

Mit dem gut 200 Seiten starken Gedichtband „Silberfäden“ legt Gino Leineweber in einer Gesamtausgabe seine beiden ersten Sammlungen vor. Der Verleger und Poet Simo Eric aus dem Verlag „Das Bosnische Wort“ würdigt den international vernetzten Lyriker und Verleger in seinem Vorwort.

Dessen Lyrik wechselt zwischen – philosophischen – Blicken auf das große Ganze und situativen Betrachtungen einzelner Themen, Erlebnisse und Empfindungen. Der Autor verhandelt ehrlich und unverstellt, ohne inhaltliche oder formelle Attitüden, in knapp formulierten, prägnanten und überwiegend kurzen Poemen den jeweiligen Gegenstand seines Gedichts. Dabei lässt er angenehmen, aber nicht zu großen Raum für die Interpretation. Er bezieht Position, ohne eine Lesart zu vorzugeben. Ernste Themen, auch bedrückende wie das Leid, das Menschen an anderen begehen, wechseln mit lakonisch-humorvollen Texten ab, wenn der Autor sich selbst, aber auch das vermeintlich typisch Männliche bzw. Weibliche aufs Korn nimmt.

Der Einblick in männliches Empfinden, humorvoll zuweilen, manchmal auch größte Pein durchlassend, ist faszinierend. Das Alter(n), die Rolle in Beziehungen und in der Welt geht in die Lyrik ein und trägt zwischen den Zeilen Ungesagtes weiter, das nach der Lektüre fortwirkt. Die poetische Auseinandersetzung mit weltlichen Dingen wie Besitz und Status bleibt so angenehm zurückhaltend und verknappt, dass das Nachdenken darüber und das Herstellen eines Bezugs zur eigenen Lebenssituation fast unbemerkt beginnen. Von der allumfassenden Perspektive zurück im Detail, zeigt Gino Leineweber auf, was wir alle in den Beziehungen zu unseren Familien und Partnern erleben und versäumen. Berührend spiegelt er u.a. Bande zwischen Vater und Sohn, das als selbstverständlich Hingenommene der elterlichen Zuwendung und Versorgung, die Angst, dass es zu spät sein könnte, etwas zu äußern. Auch Prägungen der Kindheit sind eindrucksvoll Thema:

Schulzeit

Fliehen lernen
Andere Welten
Endlich lesen

Dabei schreibt er mal mit lyrischem Ich, mal in der dritten Person, was eine distanzierte, originelle Perspektive ist. Dass der Lyriker hieraus jedoch kein Dogma macht, sondern offensichtlich für jedes Gedicht entscheidet, ob es ein lyrisches Ich – oder ein Du – bekommt oder nicht, zeigt die aufmerksame Komposition. Überhaupt lassen die Gedichte den Schluss zu, dass Gino Leineweber ein reflektierter und bewusst wahrnehmender Mensch ist. Ein Gedicht aus dem ersten Kapitel empfinde ich als wegweisend:

Ich

Das Ich ist
Was Körper und Geist
Im Innern verbindet

Die Mitte der Platz
An dem
Von Augenblick zu Augenblick
Sich das Bewusstsein findet

Mich haben die Gedichte inspiriert, innezuhalten, hinzusehen, meine Innen- und Außenwelt bewusster wahrzunehmen und die Empathie für meine Mitmenschen nicht zu vergessen.

„Schreib einfach!“

Schreiben kann erfüllen, befreien, berauschen und glücklich machen, aber sich auch als schwierige Angelegenheit entpuppen.  Wie fängt man an, über was und in welcher Form soll man schreiben, wie überwindet man Schreibblockaden? Maren Schönfeld möchte mit ihrem neuen Buch hierzu Hilfestellung leisten, aber nicht nur das. Sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Autoren hat sie zahlreiche Tipps und Übungen zusammengetragen, die unmittelbar in die Kreativität führen und dazu einladen, rund um das Thema Schreiben Neues zu entdecken und auszuprobieren. Das erste von insgesamt drei Kapiteln beinhaltet 32 Übungen, die als Schreibimpulse mit teils spielerischem, teils reflektorischem Charakter helfen sollen, in den Schreibprozess zu kommen. Dazu gibt es Anregungen, wie man im hektischen Alltag regelmäßige, kleine Auszeiten zum Schreiben finden kann.
Das zweite Kapitel enthält umfangreiche Anleitungen zum autobiografischen Schreiben, während es im letzten Kapitel um das Thema Lyrik geht. Hier werden unterschiedliche Gedichtformen aus der klassischen Poesie vorgestellt, wie Tanka, Haiku, Sonett, Fünfzeiler, Elfchen und Rondell, dazu Scherz- und Nonsenspoesie, wie Limerick, Leberreim und Klapphornvers. Beispiele zur konkreten Poesie, sowie verschiedene Schreibspiele und Hinweise zu weiterführender Literatur runden das Buch ab.
Wie in allen Disziplinen helfen auch beim Schreiben handwerkliche Kenntnisse enorm, sich besser ausdrücken und weiterentwickeln zu können. Diesbezüglich hat das Buch einen großen Fundus zu bieten. Die fast zwanzigjährige Erfahrung der Autorin als Schreibcoach und Dozentin in der Erwachsenenbildung sind das große Plus des Buches. Die Tipps sind praxisnah und haben sich im Rahmen langjähriger Schreibkurse bei einer großen Teilnehmerzahl bewährt. Der einfühlsame und motivierende Schreibstil macht das Werk zum großen Lesevergnügen.
Fazit: Das Buch wird seinem Titel vollends gerecht und ist sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Autoren ein äußerst nützlicher Begleiter, den man immer wieder zur Hand nehmen kann. Eine klare Kaufempfehlung!

 

Taschenbuch : 112 Seiten
ISBN-10 : 3947911432
ISBN-13 : 978-3947911431
Abmessungen : 11.5 x 0.9 x 18.4 cm
Herausgeber : Verlag Expeditionen

Eine nicht eben unfrohe Botschaft

Peter Rühmkorf spricht bei Künstler für den Frieden im St. Pauli-Stadion, Hamburg, 1983, Foto Helga Kneidl, DLA Marbach

Vor fast genau 21 Jahren lernte die Verfasserin dieser Zeilen – noch mitten im Studium und ersten lyrischen Versuchen zaghaft Raum gebend – den großen, ihr jedoch unbekannten Peter Rühmkorf auf einem Literaturseminar im Hause Kempowski kennen. Der  schlaksige Autor saß mit einer Zigarette und einem Glas Wein an einem kleinen, runden Tisch auf der Empore im Spiegelsaal und hob an, aus seinen Gedichten zu lesen; ein rhythmischer, musikalischer Vortrag aus einem Guss, mit Humor und Tiefe, manches Lachen blieb im Halse stecken. Der Klang seiner Verse in dem ihm eigenen Hamburger Slang und mit der leicht angerauhten Stimme zog in Bann, auch die kniffligen Reime fielen auf, noch lange vor der dann folgenden Analyse der Texte auf dem Papier. Die nahm natürlich nicht Peter Rühmkorf vor – der hatte anderes zu tun mit den ganzen Damen, die ihn in den nächsten Stunden umringten. Hausherr Walter Kempowski zog sich bald ins Schlafgemach zurück, während die Heldenverehrung in der so genannten Lotterecke bis tief in die Nacht weiterging – bis wann genau und wie sie endete, wer weiß?

Grappa in Ottensen

Jedenfalls ergab sich Gelegenheit, dem berühmten Poeten, der gar nicht so weit entfernt von der aufstrebenden Lyrikerin wohnte, einige Bücher abzukaufen und sogar ihm wiederum mit klopfendem Herzen und leicht hibbeliger Hand ein Lyrikmanuskript zu überreichen, ihm tatsächlich das Versprechen abzuringen, das Gedichtete zu lesen und zu kommentieren. Seine Widmung im Buch „Außer der Liebe nichts“ lautete: „auf einen Grappa in Ottensen“. Leider kam es nie dazu. Man reiste zurück nach Hamburg, jeder in seine Ottensener Stube, und es verging die schweigende Zeit. Doch dann, als damit kaum noch gerechnet werden konnte, kam ein mit Schreibmaschine getippter Brief mit dem Absender Övelgönne 50. Jedes kleine o war ein Loch im Papier und die großen Buchstaben hopsten nach oben aus der Reihe. Dieser Brief war frech! Es war von „klavieren hier und da“ die Rede und davon, dass es an noch der eigenen, unverkennbaren Stimme fehle. Aber: Vereinzelt anerkennende Bemerkungen, in Witzigkeit gekleidet das Ganze, und am Ende dann doch unglaublich motivierend. Das Klavieren kann man doch nicht auf sich sitzen lassen! Insgesamt war es, gleichsam im Sound seiner Gedichte, eine nicht unfrohe Botschaft. Aber Grappa trinken wollte ich mit dem nicht mehr. Jetzt musste ich erst mal schreiben, schreiben, schreiben …

Laß leuchten! – völlig neues Konzept einer Ausstellung
Foto: SHMH

Es gab keine weitere Begegnung zwischen uns. Aber die Lektüre und Analyse seiner Gedichte, das wiederholte Anhören seiner Lesung auf CD und natürlich dieser freche Brief, das alles hat mein Schreiben und mich geprägt und vorangebracht. Eine Weile nun standen die Bücher im Regal, bis im letzten Jahr die Einladung von der Stiftung Historische Museen Hamburg kam. Diese Ausstellung ist rundum ein Meisterwerk. Die Modernität, die Rühmkorfs Gedichte unter anderem ausmacht, hat das Altonaer Museum zusammen mit der Arno Schmidt Stiftung in Präsentation umgesetzt. Rühmkorf war mit seiner Poetik immer einen Schritt voraus.

Foto: SHMH

Dem Konzeptteam ist es mit digitalen Medien, Bild und Ton, eingebettet in einen wunderbar gestalteten Raum mit Teppich und Mini-Sofas, ebenfalls gelungen. So etwas gab es noch nie. Die Ausstellung beginnt mit dem Werk, dahinter steht der Mensch, also folgen nach den Gedichten und den Installationen, die Besucher zum Mitmachen animieren, erst die Räume mit Rühmkorfs Lebensdaten. Imposant der Turm aus Archivkisten, den Rühmkorf dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vermacht hat. Sehr viele Aspekte und Stationen seines literarischen, politischen und persönlichen Lebens werden beleuchtet. Man hätte etwas mehr über Eva Rühmkorf und das gemeinsame Wirken und Leben erfahren können. Am Ende erwartet die Besucher ein in Dauerschleife laufender Film aus der „Lyrik & Jazz“-Produktion. Auch da war Rühmkorf wegweisend.

Ins Gästebuch hat jemand geschrieben, dass die Ausstellung der Werke des Fotografen Fide Struck der Rühmkorf-Ausstellung nicht ebenbürtig sei, was bedauert würde. Aber diese Ausstellung, die von der Arno Schmidt Stiftung mitfinanziert wurde, zeigt eben, was möglich wäre, wenn Museen ein anständiges Budget hätten, statt mit immer mehr Einsparmaßnahmen konfrontiert zu sein. Das sollte doch nachdenklich stimmen und mehr Menschen animieren, die Freundeskreise der Museen zu unterstützen.

Einzigartige Dichtung
Ausschnitt Buchcover „wenn – aber dann“, Rowohlt 1999

Peter Rühmkorf hat mit seiner Art zu dichten die Lyrikwelt geprägt. Die Mischung aus Eloquenz und Schnoddrigkeit, mit der er die großen Themen des Seins und Vergehens bearbeitete; das Reimen über verschiedene Sprachen hinweg, die Musikalität seiner Gedichte – all das wirkt über seine Lebenszeit weit hinaus. Für die Lyriker hat er diverse Einblicke in seine Arbeitsweise hinterlassen, die spannend und inspirierend sind. Denn er, dessen Poeme so leichtklingend daherkamen, hat an jeder Silbe strengstens gefeilt.

Leider dauert die Ausstellung nur noch bis zum 20. Juli. Es lohnt sich, sie noch anzusehen, und es lohnt sich sehr, Rühmkorf zu lesen.


Altonaer Museum Stiftung Historische Museen Hamburg
Museumstraße 23
22765 Hamburg
Tel. 040 428 131 171
www.shmh.de

Öffnungszeiten:
Montag 10 – 17 Uhr / dienstags geschlossen / Mittwoch bis Freitag 10 – 17 Uhr
Samstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr
Eintrittspreise:
8,50 Euro / ermäßigt 5 Euro / freier Eintritt für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Herr Fiek und die Wutwurzel

Zum Lyrikband „Global ins Affental“ von Rüdiger Stüwe

Buchcover

Mit einem gewissen Herrn Fiek, dessen Namen auf Ansage der Mutter in die Länge zu ziehen war – die Kinder gehorchten in diesem Fall aufs Wort – (Aufs Wort, S. 11) beginnt der Gedichtband des Lyrikers Rüdiger Stüwe aus Schleswig-Holstein. Und daran, dass die Kinder in diesem Fall gehorchten, ist sogleich zu erkennen, dass sie ansonsten eher aufmüpfig waren. Die Aufmüpfigkeit hat der Schriftsteller sich bewahrt und in seine meist kurzen, immer prägnanten Verse verstrickt. Mit wachem Verstand, scharfem Blick und einer Portion Ironie – die manchmal ins Tragische geht – betrachtet Rüdiger Stüwe sein Umfeld mit den weniger oder mehr bekannten Zeitgenossen.  Er widmet sich dem (eigenen) Älterwerden oder, nennen wir es ruhig beim Namen, dem Verfall mit tragikomischer Note: „Noch immer / sehe ich mich / hoch zu Ross / Windmühlenflügel // bekämpfend doch / meine Figur / ähnelt schon lange / Sancho Pansa.“ (Gravierende Veränderung, S. 18).

Fünf Kapitel umfasst der Gedichtband, dessen Bandbreite von freien Gedichten über Lautgedichte im Stile Jandls bis zu Kinderversen – nicht nur für Kinder – reicht. Er versammelt Aphorismen, Haiku und Limericks. Diese Formen verbindet Rüdiger Stüwe auch mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens und bezieht Position zu von ihm empfundenen Missständen regional und global. Das stumme Paar, das jeweils zum eigenen Smartphone redselig wird und damit das Kaffeegartenpublikum erfreut (Moderne Kommunikation, S. 70); das Trumpeltier, von es dem unverblümt heißt: „ (…) Mit alternativen Fakten / bringst du den all so Beknackten / sicher nicht zu Fall. (…)“(Trumpeltier, S. 72) bis hin zum Nachbarn, der mit seinem im Wind schellenden Klangspiel die Nachbarschaft in den Wahnsinn treibt (Gegenlärm, S. 68) – Rüdiger Stüwe nimmt all das wahr und lenkt die Leseraufmerksamkeit auf diese kleinen oder auch größeren Momente und Situationen, mit denen wir alle zu tun haben und die uns angehen, ob wir wollen oder nicht.

Ich würde ihn als Realpoet bezeichnen: Rüdiger Stüwe sagt, was ist, er nimmt kein Blatt vor den Mund, er verzichtet auf Schnörkel und Brimborium, seine Sprache ist eingängig und eloquent. Oftmals habe ich gegrinst, manchmal blieb mir das Grinsen auch weg. Und wann dem Lyriker die Wutwurzel schnurzel ist, das möge der geneigte Leser selbst herausfinden (Wutwurzel schnurzel, S. 84).

Rüdiger Stüwe: Global ins Affental, Donat Verlag, Bremen 2018

Biografie: Geboren in der Kalten Heimat, vor den Russen geflohen mit Mutter und Bruder; verschlagen ins idyllische Heidedörfchen Schneverdingen, wo die Häuser noch nummeriert waren und die Leute sehr fromm, jedenfalls war die Kirche immer voll; das färbte nicht sehr ab, nach krummer Schullaufbahn und anschließender Flucht ins Schülerheim (in Hermannsburg) Industriekaufmann gelernt (Hanomag Hannover); eigentliche Lehre auf dem Fußballplatz und im Jugendwohnheim der Arbeiterwohlfahrt Hannover; nach der Desertation als kaufmännischer Angestellter ins Lehrfach (Deutsch und Geschichte) ging es mit der Firma bergab, zur Zeit ist sie in japanischer Hand (Kommatsu); Lehrerlaufbahn, die letzten 18 Jahre an einer Gesamtschule, überzeugter Anhänger einer gemeinsamen Schule für alle Schüler bis zum 10. Schuljahr; heute als Schriftsteller lebend in Ellerbek, Mitglied im deutschen Schriftstellerverband (VS), im Literaturzentrum e.V. Hamburg, in der Hamburger Autorenvereinigung und im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt.

Homepage: http://ruediger-stuewe.de

 

Ein Buch mit vielen Zimmern

Zum Lyrikband „Bodenkunde“ von André Schinkel

Buchcover

Es gibt Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Denn sie zu lesen ist, als öffneten sich neue Räume, die entdeckt, betrachtet und bewohnt werden wollen; die lebendig werden durch den neuen Bewohner, der sich in ihnen bewegt. So ein Buch ist „Bodenkunde“ des Lyrikers André Schinkel aus Halle. Seine Gedichte erschließen sich nicht schnell, sie fordern Beschäftigung, auch mehrfache, sie verlangen ihren Lesern etwas ab. Und wer sich darauf einlässt, dem öffnet sich der Sprach- und Bildkosmos des Schriftstellers Schinkel in einer Weise, die einen verändert. Ja, diese Gedichte können etwas verändern im eigenen Weltbild, sie lassen einen neuen, anderen Blick zu – beispielsweise auf Sepien, jene Tintenfische, die man womöglich überhaupt noch nie betrachtet haben mag. Im gleichnamigen Zyklus verwendet, bringt mich die Lektüre der Gedichte zunächst in die Recherche nach dem Meeresgetier, und auch wenn das nicht wichtig ist, zeigt es die sorgfältige Wahl der Metapher: In der Homöopathie wird die Substanz Sepia u. a., wenn der Kranke „eine gewisse emotionale Distanziertheit und Kühle“[1] zeigt, und auch bei Frauenleiden. Es ist nicht wichtig, um diesen starken Zyklus zu verstehen, aber es zu wissen, verleiht ihm noch mehr Tiefe als er ohnehin schon mitbringt. Heute noch Liebesgedichte schreiben, über unglückliche Lieben zumal – ein Wagnis, dünnes Eis. So vieles schon tausendfach gesagt, kaum eine Metapher, die nicht bereits irgendwo verwendet wurde. Aber bei André Schinkel ist alles neu, dicht, „rastlos und atemlos“[2], düster verzaubert durch das Sepienthema und dabei so anerlebbar, nachfühlbar, verstörend schön: „(…) Das ist es, was ich von dir behalte: das Leuchten der / Sepien-Sprossen im Rausch, im bebenden Quirlen solch / Endloser Schwärme in der Brackschicht des Wassers; (…)“[3]

Lesen, immer wieder, leise und laut, nur diese sieben Gedichte des Sepien-Zyklus, und von ihnen umgeben, umschlossen sein, sich in der dichten Sprache bewegen und merken, wie sich einige Verse von selbst ins Gedächtnis einbrennen und sich allein rezitieren. Damit habe ich das Buch begonnen, nachdem ich André Schinkel im März 2018 in Leipzig daraus lesen hörte. Fast genau ein Jahr später habe ich natürlich das Buch mehrmals durchgelesen, all die thematisch unterschiedlichen und breit gefächerten Gedichte, die seinen archäologischen Hintergrund ebenso widerspiegeln wie seine weiteren Tätigkeiten, vieles verbirgt sich zwischen und hinter den Zeilen. Dieses Buch werde ich nie „durchhaben“, glücklicherweise, denn diese Gedichte bleiben ein Raum, der sich für mich geöffnet hat und den ich jederzeit wieder aufsuchen kann. Seine Opulenz, die Sperrigkeit der lyrischen Komposition, die dafür sorgt, dass man sich an manchen Gedichten durchaus ein bisschen abarbeiten muss, hier und dort ein Wort nachzuschlagen hat und überlegen darf, wie dieses und jenes Poem sich in der Beziehung zum Autor und dann zum Leser stellt – das sind für mich die Freuden der Lyrik. Zwischendurch finden sich an konkrete Poesie angelehnte sowie dem Tanka-Maß entsprechende Gedichte, die einen Kontrapunkt oder vielleicht eher einen weiteren Raum hinter dem Raum bilden, in jedem Fall aber die poetische Bandbreite abbilden.

[1] www.homöopathie-online.info
[2] SEPIA, II, S. 18
[3] SEPIA, VII, S. 23

André Schinkel wurde 1972 in Eilenburg geboren, er wuchs in Bad Düben und im Bitterfelder Raum auf. 1988 bis 1991 erlernte er den Beruf eines Rinderzüchters mit Abitur. Er studierte ein Jahr Umweltschutztechnik und danach an der halleschen Universität Germanistik und Archäologie, 2001 erwarb er den Grad eines Magister artium. Seit 2005 arbeitet Schinkel als freier Autor, Lektor, Übersetzer, Herausgeber und Redakteur – so leitet er die Redaktion der Literaturzeitschrift oda – Ort der Augen und ist Redaktionsmitglied der Marginalien. Texte von André Schinkel wurden in siebzehn Sprachen übersetzt, er nahm an Autorentreffen und Poesiefestivals in Italien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Belgien, Bulgarien, Armenien, Bergkarabach teil und wurde als Stadtschreiber in Halle, Ranis und Jena tätig. Seit vielen Jahren arbeitet André Schinkel als Autorenpate, Dozent und Workshop-Leiter an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Seine Arbeit wurde wiederholt mit Preisen und Stipendien geehrt, so u. a. mit dem Georg-Kaiser-Förderpreis, dem Joachim-Ringelnatz-Förderpreis, dem Walter-Bauer-Preis und dem Harald-Gerlach-Stipendium des Landes Thüringen. Seit 2016 gibt er die Edition Muschelkalk im Wartburg-Verlag Weimar heraus. Schinkel ist Mitglied des PEN, der Akademie der Künste Sachsen-Anhalt und der Sächsischen Akademie der Künste. Er lebt in Halle (Saale) und ist Vater zweier Töchter.