Immer schön cool bleiben

„O tempora, o mores”, ruft die Lehrerin in gespieltem Entsetzen aus, während ihre Klasse sich trotz ihrer Bitte um Ruhe und Ordnung schreiend und schubsend in den S-Bahn Waggon ergießt. Im Nu liegen Ranzen und Rucksäcke wild verstreut am Boden und ein zäher Kampf entbrennt um die Fensterplätze. Als zwei halbwüchsige Rowdys mit den Fäusten aufeinander losgehen, greift die Lehrkraft entschlossen ein: „Also, Daniel, Jörg, immer schön cool bleiben“, mahnt sie mit beschwörender Stimme und erinnert dabei lebhaft an eine Dompteurin im Raubtierkäfig.

Auf der Rolltreppe begegne ich den beiden Kampfhähnen wieder. Ihre Streitigkeiten haben sie inzwischen beigelegt. Dafür belästigen sie jetzt voller Inbrunst andere Leute, indem sie sich mit verschränkten Armen vor ihnen aufbauen und sie am Verlassen der Treppe hindern. Eine elegante ältere Dame, die offenbar den Anschlusszug noch erreichen will, versucht sich mit aller Macht an ihnen vorbei zu winden.
„Hey, du alte Gruftspinne, mal’n bisschen mehr Benehmen“, sagt der eine der beiden Flegel. Da entfleucht der Frau, die vor Wut putterot angelaufen ist, ein Wort, das zivilisierte Menschen üblicherweise mit „Armleuchter“ zu umschreiben pflegen. Wie von einem Zauberstab berührt, treten die Jungen zur Seite und sehen der eben noch Geschmähten mit unverhohlener Ehrfurcht nach. „Echt geil“, sagt der eine, „was die Mutter für Ausdrücke drauf hat.“

Nachwort: Das oben Geschilderte widerfuhr mir wenige Wochen vor dem ersten Lockdown, als unser Dasein in geregelten Bahnen verlief und wir alle noch unmaskiert die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen durften. Da tobte das pralle Leben, wozu auch gelegentliche verbale Entgleisungen von frechen Buben wie Daniel und Jörg gehörten. Ich gestehe, dass diese mir jetzt viel weniger ausmachen würden als die gegenwärtige depressive Stimmung, die wie Blei auf uns allen lastet.