Zum hundertsten Todesjahr von Paul Cézanne
Von Uta Buhr
„Quelle honte – welche Schande! Fast hundert Jahre haben meine Mitbürger gebraucht, um endlich das Genie Paul Cézannes zu begreifen. Henri Pontier, der Direktor des Museums der Schönen Künste in Aix, hat sich seinerzeit geweigert, jemals ein Werk Cézannes zu zeigen. Zum ersten Mal wurde er dort 1984 ausgestellt.“ Josianes dunkle Augen blitzen vor Zorn. Sie selbst ist in Aix-en-Provence geboren, Studentin der Rechte an der hiesigen Universität und stolz auf ihre schöne Stadt. Bei strahlendem Sonnenschein schlendern wir mit ihr den Cours Mirabeau, die Prachtstraße mit ihren barocken Bürgerhäusern, belebten Cafés und sprudelnden Brunnen, hinunter. Bunte Fahnen, die auf die Festivitäten zu Ehren des großen Sohnes hinweisen, flattern in der leichten Brise. Die „Route Cézanne“ wird durch runde, in das Straßenpflaster eingelassene Bronzeplaketten markiert. Und schon stehen wir vor dem „Musée Granet“ an der Place Jean de Malte, in dem vom 9. Juni bis 17. September 110 Werke des Meisters unter dem Titel „Cézanne en Provence“ ausgestellt werden. Eine Menschentraube hängt vor dem Portal, babylonisches Stimmengewirr dringt an unser Ohr. Mit Kameras behängte Japaner steigen im Schlepptau einer resoluten Führerin die Freitreppe hinauf, gefolgt von einer Gruppe Amerikaner, die sich laut darüber auslassen, daß sie schon einen Teil des Oeuvres aus der National Gallery in Washington kennen. Nun sind sie ganz wild darauf, weitere Werke von „Ssässenn“ zu sehen. Anläßlich dieser Ausstellung zum 100. Todesjahr des Malers wurde das Museum völlig neu gestaltet und von 700 auf 4000 qm erweitert. Die zwölf Säle präsentieren mit Ölbildern, Aquarellen, Stilleben und Selbstporträts einen Querschnitt seines Schaffens. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die weltberühmten „ Badenden“ sowie die Gemälde des magischen Kalksteinmassivs Sainte Victoire. Das „Musée Granet“ ist täglich von 9 bis 19 Uhr geöffnet, am Dienstag sogar bis 23 Uhr. Der Eintrittspreis beträgt 10 Euro. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich: Von Deutschland unter der Nummer 0033 442 16 10 91 (vor Ort 42 16 10 91).
„Wer hier geboren wurde, ist verloren. Nichts anderes gefällt einem mehr“, soll Paul Cézanne
über seine Heimatstadt Aix-en-Provence gesagt haben, die er trotz ihrer kalten Ablehnung bis an sein Lebensende geliebt hat. „Das Licht der Provence und das milde Klima haben ihn selbst mit den Ignoranten und Kunstbanausen versöhnt“, lacht Josiane und führt uns weiter durch die Stadt. Auf unserer Spurensuche streifen wir das Haus in der Rue de l’Opéra, wo Cézanne am 19. Januar 1839 das Licht der Welt erblickte. Hinter den Mauern des Stadtpalais ging es streng und prosaisch zu. Vater Louis-Auguste war ein erfolgreicher Hutfabrikant mit Geschäftsräumen am vornehmen Cours Mirabeau. Später erwarb er noch eine Bank und wurde sehr reich. Dennoch galt er der feinen Gesellschaft von Aix auf Grund seiner proletarischen Herkunft als Parvenu. Es war sein innigster Wunsch, seinen Sohn als Advokaten zu etablieren, damit die Familie endlich „dazu gehöre.“ Nach dem Besuch des Collège Bourbon, wo er enge Freundschaft mit Emile Zola schließt, studiert er auf Geheiß des Vaters zunächst Jura. Selbstverständlich findet er keinen Geschmack an der trockenen Materie. Die liebevolle Mutter setzt sich für ein Kunststudium ein, indem sie argumentiert, nicht umsonst hieße der Filius Paul wie Rubens und Veronese! Der Vater gibt schließlich nach und schickt den Sohn auf die Académie Suisse in Paris, wo er Camille Pisarro kennen und schätzen lernt. Eine Freundschaft, die ein Leben lang halten soll. Beiden gefällt das riesige Atelier auf der Île de la Cité, wo abwechselnd ein Mann und eine Frau Modell stehen. Große Vorbilder wie Gustave Courbet und Eugène Delacroix verdienten sich hier ihre ersten Sporen…
Kein Wunder, daß Cézanne sich in ein Modell verliebt und es heimlich heiratet. In Aix erzählt man sich gern die Anekdote vom Sohn, der seinem Vater ein Schnippchen schlug, indem er ihm seine in aller Stille geschlossene Ehe mit Horthense Fiquet verheimlichte, aus der bald ein Sohn namens Paul hervorging. Er richtete sich mit seiner kleinen Familie in Auvers-sur-Oise ein, blieb aber der folgsame Sohn, der regelmäßig die Eltern besuchte. Durch die Verspätung der Straßenbahn erscheint Paul eines Tages verspätet an der väterlichen Tafel. Der Patriarch hatte inzwischen den von Horthense an Paul gerichteten Brief gelesen, der ihm zufällig indie Hände gefallen ist. Empört kürzt er Paul die monatliche „Apanage“. Ein Schlag für den Maler, der die Seinen von seiner Kunst nicht ernähren kann. Der „Verrat“ wiegt umso schwerer, als Paul Cézanne in den vornehmen Salons von Paris kategorisch abgelehnt wird und seine Werke lediglich in den „Salons des Refusés“ (Salons der Abgelehnten) ausstellen darf. Doch verbissen arbeitet er weiter und studiert akribisch den Faltenwurf auf den Madonnenbildern der alten Meister. Dieser findet sich in seinen Stilleben wieder, auf denen Früchte, Krüge und Kannen auf drapierten Tüchern dargestellt sind. Ein gutes Beispiel ist das Gemälde „Korb mit Früchten auf einem Küchentischtuch“, das im „Musée d’Orsay“ in Paris hängt.
„Jas de Bouffan“, die ehemalige herrschaftliche Sommerresidenz des Gouverneurs der Provence, erscheint dem Bankier Louis-Auguste Cézanne der angemessene Wohnsitz für einen erfolgreichen Bankier zu sein. In die ländliche Stille der provenzalischen „Bastide“ verschlägt es auch Paul, der zunehmend menschenscheu wird und die Einsamkeit sucht. In seinem neuen, inmitten eines schattigen Parks mit alten Kastanienbäumen und üppigen Blumenbeeten gelegenen Domizils arbeitet er unermüdlich. Hier lebt er von 1859 bis 1899. Die Idylle hat er auch in seinen Gemälden „Bäume in Jas de Bouffan“ und „Wasserbecken in Jas de Bouffan“ festgehalten. Leider ist das einst prächtige Haus etwas heruntergkommen, der Park romantisch verwildert. Nur der Salon ist für das Publikum geöffnet. Hier läuft eine Audio-Video-Schau, die das Leben des Künstlers vor Ort beleuchtet. „Cézanne würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was aus seinem einstigen Refugium geworden ist“, sagt die Leiterin von „Jas de Bouffan“ und weist auf die laute Umgehungsstraße, die um das Anwesen herum gebaut wurde. Die pastorale Stille, die er so genoß, und die unberührte Naturszene, die er von seinem Atelierfenster im ersten Stock des Hauses sehen konnte, gehören seit langem der Vergangenheit an. Gesichtslose mehrstöckige Gebäude erheben sich dort, wo sich zu Cézannes Zeit Felder und Wiesen bis zum Horizont erstreckten.
1901, fünf Jahr vor seinem Tod, findet Cézanne nach langer Suche auf dem Hügel von Les Lauves endlich sein Traumatelier. Da er nach dem Tod seines Vaters ein vermögender Mann geworden ist, kann er es sich leisten, seinen Kunsttempel mitten in einem Olivenhain nach eigenen Entwürfen gestalten zu lassen. Durch riesige Fenster strömt das gleißende Licht der Provence ungehindert herein.Seinen Verehrern gilt das Haus in der heutigen Avenue Paul Cézanne 9 als Wallfahrtsort. Der große, grau gestrichene Raum im Erdgeschoß ist angefüllt mit sehr persönlichen Gegenständen: Strohhut und Liegestuhl des Malers, Pfeife und dem eigens für de Arbeit an den Badenden konstruierten Gerüst. Anrührend ist der Anblick des Amors aus hellem Sandstein mit dem abgebrochenen rechten Arm. Auch ihn hat Cézanne liebevoll porträtiert. Eine unvollendete Skizze steht noch auf der Staffelei. Das „Atelier des Lauves“ ist ein Ort, an dem der Besucher noch den Geist des Künstlers zu spüren meint.
„Die im Atelier gemalten Bilder kommen gegen die in freier Natur geschaffenen einfach nicht an“, schrieb Cézanne einst an seinen Freund Emile Zola. „Die Landschaft ist großartig, und ich sehe wunderbare Dinge. Ich muß mich daher entschließen, nur noch im Freien zu arbeiten.“ Seinem idealen Sujet begegnet Cézanne auf längeren Ausflügen schließlich etwa 30 km von Aix entfernt zwischen Beaureceuil und Saint-Antonin in der heroischen Landschaft um den 945 Meter hohen Berg Sainte-Victoire. Wie ein Besessener malt er den schroffen Kalksteinfelsen, am liebsten vom Château Noir aus oder aus der Perspektive des Steinbruchs von Bibémus, der mittags ockergelb aufleuchtet und später in der Abendsonne in rötliches Licht getaucht ist. Fast jeden Tag bahnt er sich mit dem Skizzenblock unter dem Arm seinen Weg durch wildes Gestrüpp und Geröll. Seine Liebe zur Malerei im Freien wird ihm an jenem schwülen Tag im Oktober 1906 zum Verhängnis. Ein Gewitter überrascht ihn auf freiem Feld. Keine Mensch ist in der Nähe, und er muß lange auf Hilfe warten. Kurz darauf erkrankt er an einer schweren Lungenentzündung, der er am 22. Oktober desselben Jahres erliegt – im Alter von gerade einmal 67 Jahren.
„Cézanne hat natürlich nicht nur in und um Aix herum gemalt“, erklärt Jean-Claude, ein Kunststudent aus Marseille, der seine Besucher durch L’Estaque führt. Der alte Hafen in der Bucht von Marseille war einst das Eldorado aufstrebender Künstler. 1870 führt der Krieg gegen Preußen Cézanne hierher. Das Meer mit seinen wechselnden Farben verzaubert ihn. Begeistert schreibt er an seinen Freund Pissarro: „Rote Dächer vor dem blauen Meer. Die Sonne ist hier so erbarmungslos, daß es mir scheint, als ob alle Gegenstände sich als Silhouetten abhöben. Und das nicht nur in in Schwarz oder Weiß, sondern in Blau, in Rot, in Braun und Violett.“ Auch eine Industrieanlage mit qualmendem Schornstein bringt er ebenso auf die Leinwand wie das „Haus mit den blauen Fensterläden“ auf dem Hügel, das heute noch – frisch renoviert, aber immer noch reizvoll – am Impasse de L’Épargne zu sehen ist. „Auf den Spuren Cézannes folgten Raoul Duffy und Georges Braque“, sagt Jean-Claude und führt uns zu Stellen, an denen die beiden Künstler mit ihren Staffeleien gestanden haben. „Man sagt auch, der Kubismus sei in L’Estaque geboren worden. Sehen Sie sich die würfelartigen
Häuser von Cézanne an. Er hat nicht nur die Farben, sondern auch die Formen in der Malerei revolutioniert. Kein Geringerer als Pablo Picasso sah in ihm einen Übervater, den Wegbereiter der Moderne. Wenn er den Namen Cézanne aussprach, soll seine Stimme stets gezittert haben. Und Sie wissen , daß Picasso alles andere als sentimental war.“
„Wer noch nicht in Les Baux-de-Provence gewesen ist, weiß nichts von erhabener Schönheit“, heißt es im Volksmund. Treffender hätte es auch Rainer Maria Rilke nicht sagen können, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts das felsige Plateau inmitten einer grünen, von roter Erde durchsetzten Ebene besuchte. „Man kommt von Saint-Rémy, wo die Erde der Provence lauter Felder von Blumen trägt. Und auf einmal schlägt alles in Stein um“, schrieb er in sein Tagebuch. Wer sich die holperige, steil ansteigende Straße bis zur Oberstadt hinaufgearbeitet hat, genießt in unmittelbarer Nachbarschaft der Kapelle St.Blaise einen herrlichen Rundblick auf die provenzalische Landschaft. Im Tal wartet eine weitere Köstlichkeit auf den Besucher. In der „Cathédrale d’Images“, einem gigantischen Steinbruch, findet zur Zeit eine hinreißende visuelle Bilderschau unter dem Titel „Les couleurs de Cézanne“ statt. Die Steinbrüche dienen als Kulisse und riesige Leinwand für dynamische Projektionen. Sie lassen den Betrachter in eine furiose Bilderwelt voller Emotionen und Farben eintauchen. Das Schauspiel ist einfach atemberaubend. Landschaften, Porträts und Stilleben werden an die Wände, Decken und den Fußboden geworfen. „Noch nie bin ich über einen Teppich mit den berühmten Äpfeln von Cézanne geschritten,“ flüstert eine junge Frau, die bekennt, den Maler erst jetzt im Großformat richtig schätzen gelernt zu haben. „In den riesigen Darstellungen erkennt man jedes Detail. Einfach phantastisch!“ Zu den verschiedenen Bildern wurde Musik ausgewählt, die genau zu den Sujets paßt. Wie durch einen Schleier gleiten die „Badenden“ an uns vorbei, untermalt von einer Komposition des Komponisten Claude Debussy – perlend und durchsichtig wie Wasser. Die Meinung der Besucher ist einhellig, bis auf wenige Stimmen, die diese Präsentation etwas kitschig finden: Ein hinreißendes Spektakel – eine lange überfällige Hommage an Paul Cézanne, den Wegbereiter der modernen Kunst!
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