Von Karlheinz Mose
Der Autor Karlheinz Mose ist ein langjähriger Wegbegleiter der Jubilarin. Er arbeitete jahrzehntelang als leitender Redakteur für das Rundfunk- und Fernsehmagazin HörZu.
Gerade kann sie nicht mehr gehen. Aber sonst ist die alte Dame mit dem klassisch schönen Gesicht und dem Mittelscheitel im schwarzen Haar voll da. Ein unverwüstlicher Humor und die geistige Frische einer 40-Jährigen sind ihr eigen. Hundert Jahre wird Ruth Geede jetzt alt, und bis zum heutigen Tag arbeitet sie noch als Journalistin in ihrem Haus in Hamburg-Niendorf – „mit eigenem Eichhörnchen“!
Die Arbeit, die sie leistet, hat sehr viel mit ihrer eigenen Herkunft zu tun: Ruth Geede stammt aus Ostpreußen, und sie schreibt seit 30 Jahren für das Ostpreußenblatt, das in die Preußische Allgemeine Wochenzeitung integriert ist, auf eine unaufgeregte, kenntnisreiche Art. Sie hilft jungen Wissenschaftlern weiter auf der Suche nach historischen Fakten oder letzten lebenden Zeitzeugen, sie besorgt auch mal eine Stanze, mit der früher die Königsberger Hausfrauen Marzipan hergestellt haben, aber vor allem bringt sie Familien und alte Freunde zusammen, die durch den Zweiten Weltkrieg getrennt wurden.
Bis heute, schätzt sie, hat sie hundert Menschen wieder vereint. 1985 hat ihr der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz überreicht.
Dieser Job, der sich nicht mit Gold aufwiegen lässt, weil er Sehnsüchte stillt und ein Stück Heilung ist für die vielen Vertriebenen, ist für Ruth Geede, die nie Sport getrieben hat, „mein Jungbrunnen. Weil ich etwas bewirken kann. Das fasziniert mich. Dadurch bleibe ich lebendig und in der Gegenwart.“
Weitere Rezepte, wie sie es geschafft hat, relativ gesund 100 Jahre alt zu werden, fallen ihr nicht ein, „der liebe Gott hat mir eben eine ganz schöne Festplatte eingebaut!“ Außerdem liebt sie ihre Arbeit, sie steht um halb neun auf, arbeitet täglich, auch noch mit 100 , sie hat sich selten Urlaube gegönnt, 50 Bücher geschrieben, für Rundfunk und für die Tageszeitung (Lüneburger Landeszeitung) geschrieben, außerdem Magazine, Märchen, Kochbücher, Reiseführer, plattdeutsche Stücke, Kindergeschichten – „ich bin glücklich in meinem Beruf!“
Nun ist die Preußische Allgemeine Zeitung ein konservatives, nationalbewusstes Blatt, das nicht selten Ängste und eine Stimmung schürt, die auf Abschottung zielt. Das will Ruth Geede nicht so recht kommentieren. Sie hält sich lieber an das, womit sie schon unter den Nazis gut gefahren ist: Ethnologisches und sprachgeschichtliches Wissen vermitteln, ostpreußisches Brauchtum durch Weitergabe bewahren, ihren Lesern zur Seite stehen.
Das Schlimme sei, dass „anscheinend vor den Nazis keine deutsche Geschichte zu Ostpreußen existiert hat. Das ist doch furchtbar! Hinzu kommt, dass Königsberg doch durch den polnischen Korridor ziemlich abgeschirmt vom deutschen Reich war. Ich will das Bewusstsein dafür bewahren, welchen großen kulturellen Wert Ostpreußen in der europäischen Geschichte hatte. Es erlebte eine einzigartige Blüte durch die vielen Siedler, zum Beispiel Mennoniten, Salzburger und Hugenotten, die sich dort wunderbar integrierten.“
In Königsberg, wo sie 1916 als jüngstes von drei Kindern und als Frühchen geboren wurde, gab es damals keine Brutkästen. Ihre Mutter blieb mit dem Winzling, den sie in Öltücher wickelte, im Bett, stillte ihr Kind ausgiebig und sehr lange, und so kam Ruth Geede zu Kräften, ungeahnten Kräften, wie sich bis heute zeigt. Nur die Knochen, die wollen nicht mehr so recht. Aber das ignoriert die energische Dame, die es schon immer verstand, sich durchzusetzen und „nie Probleme“ damit hatte, weil sie eine Frau war.
Das Oberlyzeum mit seinen altjüngferlichen Lehrerinnen ertrug sie, wobei sie es viel spannender fand, interessante Bücher zu lesen und auf dem Grammophon ihrer Geschwister die neuesten Schallplatten zu hören. Schon als Schülerin schrieb sie Gedichte, dann Märchen für die Zeitung in Königsberg. Ihr erstes Märchen wurde sogleich gedruckt, 40 Mark bekam sie dafür, „irrsinnig viel Geld! Am selben Tag hab’ ich mir eine Schreibmaschine gekauft.“
Mit 17 nahm sie der Deutsche Schriftstellerverband auf, mit 19 schrieb sie ihr erstes Buch, mit 20 das nächste, und so ging es in einem fort. Die Nazis übernahmen das Ruder, Ruth Geede, Tochter eines Universitäts-Quästors, blieb bei ihrer geliebten Heimatkunde, außerdem machte sie fürs Radio viele Kindersendungen.
Mit Heiraten hatte sie zunächst nichts am Hut, sie genoss ihre berufliche Selbständigkeit. Im Krieg wurde sie irgendwann halbtags freigestellt, um die Feldbuchhandlung zu führen, die die Soldaten mit Büchern und Musik belieferte. Das Lied „Lilli Marleen“ war tatsächlich genauso beliebt, wie in Fassbinders danach benanntem Film, außerdem „wurden sehr viele Opernplatten gewünscht.“
Im Januar 1945 kam die Anweisung, nach Westen zu fliehen und in Neubrandenburg wiederum die Feldbuchhandlung zu übernehmen. „Ich holte meine Nichte aus der Schule, und meine Mutter, meine Schwester mit ihrer Tochter und ich flohen in einem LKW. Trotz Panne und der Tatsache, dass es nur noch einen einzigen Durchschlupf gab, schafften sie es schließlich auf ein Minensuchschiff, das man zum Lazarettschiff umfunktioniert hatte, von Pillau nach Brandenburg.
Das Deck war voller verwundeter Soldaten, es herrschte Windstärke 8. Unversehrt langten sie im Mai 1945 beim vereinbarten Treffpunkt an. Von Feldbuchhandlung war längst keine Rede mehr, es ging ums nackte Überleben und darum, die schrecklichen Bilder zu verarbeiten, den Anblick des Soldaten, den sie schon aus dem Wasser gezogen hatte, der wieder hineinstürzte und vor ihren Augen ertrank.
Sie kamen nach Dahlenburg in der Südheide, wo sie Beeren und Pilze sammelten, Roggen und Kartoffeln auf den Äckern nachlasen, um nicht zu verhungern. Ihre Jugendliebe traf sie 1947 dort wieder. „Wir wollten heiraten. Nachmittags gingen wir zum Bürgermeister, um das Aufgebot zu bestellen. Der hatte aber schon geschlossen. Auf dem Rückweg kriegten wir uns so in die Wolle, dass mein Bubi abhaute. Wie das Schicksal so spielt…“ Ruth Geede grinst etwas schräg. Erst mit 38 Jahren fand sie ihre große Liebe, einen Reisejournalisten, mit dem sie auch zusammenarbeitete. Ihren ersten und einzigen Sohn brachte sie mit 41 Jahren zur Welt: „Ich war eine leidenschaftliche Mutter“, schmunzelt sie.
Aber sie hörte nicht auf zu arbeiten. Bis heute nicht. Wir gratulieren zum 100. Geburtstag!
Hier finden Sie einen weiteren Artikel über Ruth Geede von Uta Buhr