Dieser Artikel erschien am 8. August im Magazin von Schleswig-Holstein am Sonntag, am 30. Oktober 2010 in der PAZ (Preußische Allgemeine Zeitung) und am 4. Juli 2010 in der Pfalzpresse
Von Uta Buhr
Ukraine heißt übersetzt „das Land am Rande.“ Vom touristischen Standpunkt stellt es sich zurzeit noch so dar. Mag das Land auch in weiten Teilen noch nicht für den Tourismus gerüstet sein, so ist Kiew eine wahre Offenbarung, eine einzigartige Schatzkammer im Osten Europas, die eine Reise lohnt.
Es ist wie im Märchen. Bevor der Wanderer die mit Gold gefüllte Schatzkammer betreten kann, muss er eine Reihe von Prüfungen bestehen. Die Passkontrolle auf dem Flughafen von Kiew verläuft fast noch nach den Ritualen real sozialistischer Zeiten. Die Einreiseformulare werden von streng blickenden Beamten akribisch geprüft. Auch die Gesichtskontrollen haben etwas Bedrohliches. Hat man diese überstanden, folgt eine Fahrt über holperige Straßen und Wege durch baumlose Vorstädte mit tristen Plattenbauten. Einzige Farbflecken sind riesige, knallig bunte Reklametafeln, auf denen in kyrillischer Schrift für Haushaltsgeräte und Haarpflegemittel geworben wird.
Doch die Mühsal wird belohnt. Nach gefühlten mehreren hundert Kilometern zerreißt der Vorhang, und vor uns liegt eine zauberhafte Metropole – eine Symphonie aus Gold und Grün. Wie Smaragde funkeln die Dächer von Kirchen und Gebäuden, überstrahlt vom goldenen Glanz der Kuppeln. Das wie Rom auf sieben Hügeln erbaute Kiew ist eine Stadt voller Parks. Die ausladenden Kronen alter Kastanienbäume beschatten Straßen und Plätze. Mit dem Stadtplan in der Hand beginnen wir unseren Rundgang am Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan. Hier begann im Winter 2004 die „Orangene Revolution“. Hunderttausende Ukrainer protestierten seinerzeit friedlich gegen den Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl.
Auf dem riesigen Platz wimmelt es auch heute von Menschen. Sie sitzen fröhlich plaudernd auf dem Rand des plätschernden Brunnens, genießen ein Bier und einen Mlynzi (mit Schinken gefüllter Pfannkuchen) aus der „Faust“. Ganz nebenbei bewundern sie die akrobatischen Künste der jungen Leute, die auf ihren Inline Skates das Monument der Unabhängigkeit umrunden, einer Art ukrainischer „Goldelse“, die von ihrer 38 Meter hohen Marmorsäule auf das Treiben zu ihren Füßen herabblickt.
Die Stadt ist angefüllt mit Skulpturen und Statuen, und jede von ihnen hat eine Geschichte, die von den Einheimischen mit Begeisterung zum Besten gegeben wird. Da ist zum Beispiel der in Bronze gegossene Heiratsantrag eines zwar mittellosen, aber schönen Mannes, der um eine reiche, wenig attraktive Bürgerin der Stadt anhält. Auch die schneeweiße Figur der Heiligen Olga im Zentrum der Stadt wird von der Bevölkerung in hohen Ehren gehalten. Wenig beliebt hingegen ist das Monument Rodina Mat (Mutter Heimat), das eine martialische, in Eisen gegossene Frau mit Schwert und Schild darstellt. „Breshnews Tochter“, spotten die Kiewer, weil der einstige sowjetische Präsident das Denkmal in Auftrag gab. Die Russen schätzt man hier nicht, und die Menschen bestehen darauf, dass sie nicht Russisch, sondern Ukrainisch sprechen und schreiben.
Kiew, das Juwel des Ostens, prunkt mit seinen vielen schönen Kirchen, von denen jede ihren eigenen Charakter besitzt. Wer die vielen Stufen zur Andreaskirche erklommen hat, ist geblendet von der grün-goldenen Pracht ihrer filigranen Zwiebeltürme. Auch die fünfschiffige Sophienkathedrale, deren Ursprünge auf das 11. Jahrhundert zurückgehen, sowie die elegante, reich mit Blattgold verbrämte Michajlow-Kirche schlagen jeden Besucher in ihren Bann. Besonders sehenswert ist das am Westufer des Dnepr gelegene Höhlenkloster Lawra. Unter der Erde befinden sich winzige Mönchszellen und viele kleine Kirchen. In den Nischen dieser von Felswänden flankierten Katakomben sind mumifizierte Heilige in steinernen Särgen aufgebahrt. Nach diesem Rundgang durch Kiews Unterwelt wenden wir uns den irdischen Freuden dieser quirligen Metropole zu. Auf dem Kopfsteinpflaster der steil ansteigenden Straßen in Podil, dem ältesten Viertel, findet heute ein Flohmarkt statt.
Großflächige Bilder, die röhrende Hirsche, schneebedeckte Bergspitzen und romantische Seenlandschaften darstellen, konkurrieren mit Andenkenkitsch, Kaninchenfellen, Sowjetuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg und hübscher Töpferware. Auf die Frage, wie viel eine Pelzkappe kostet, holt die freundliche Marktfrau ihren Taschenrechner hervor und tippt den Betrag in der Landeswährung Griwna ein. 10 Griwna entsprechen ungefähr einem Euro. Die Verständigung vor Ort mit den Einheimischen erweist sich oft als äußerst schwierig, weil nur wenige Menschen Kenntnisse in fremden Sprachen besitzen.
Hinzu kommt, dass sämtliche Straßennamen ausschließlich in Kyrillisch ausgewiesen sind. Selbst an den markantesten Stellen – etwa dem berühmten „Goldenen Tor“ aus dem 11. Jahrhundert – in dem sich ein interessantes Museum befindet, fehlen Hinweise auf Englisch, der lingua franca unserer Tage. Unsere Mittagspause in einem lauschigen Straßencafé gerät zu einer Pantomime. Die hübsche junge Bedienung versteht kein Wort, lächelt aber zustimmend, als wir mit „Muhmuh“ und „Kikeriki“ zu erkunden suchen, mit welchem Fleisch die leckeren Teigtaschen gefüllt sind.
Ein weiteres Abenteuer ist die Fahrt in der ratternden Metro, in der wir uns fühlen wie in einer Sardinenbüchse. Schweißgebadet steigen wir nach ein paar Stationen aus und stolpern fast auf der Rolltreppe, die in hoher Geschwindigkeit dem Ausgang entgegenrast. Eine junge Deutsche, die seit längerer Zeit in Kiew lebt, warnt uns vor Taschendieben, die hier allgegenwärtig sein sollen. Besonders aktiv würden die in der stets gerammelt vollen U-Bahn, in der mit schönster Regelmäßigkeit das Licht ausfiele. Nein, zu Aggressionen mit Fäusten oder gar Messern käme es hier äußerst selten, denn – Zitat – „die Ukrainer besitzen ein hohes Maß an über Jahrhunderte praktizierter Leidensfähigkeit.“ Kein Wunder, wie ein Spielball gingen sie in ihrer langen Geschichte von einer fremden Hand in die nächste. Mongolen, Osmanen, Tartaren – die ganze Palette. Und schließlich fiel die Westukraine für lange Zeit unter die Herrschaft der Habsburger, während der Osten von den russischen Zaren vereinnahmt wurde.
Inzwischen sind wir an den Ufern des Dnjepr gelandet. Träge fließt der breite Fluss dahin. Hier und dort blitzen weiße Boote auf, winken Freizeitkapitäne uns zu. Mit der freundlichen Frau am Kiosk, die uns würziges Bier für umgerechnet 70 Cent auf einem in Windeseile zusammengebauten Tisch serviert, kommen wir prächtig zurecht. Auch hier funktioniert unsere bereits erprobte Zeichensprache. Sogar ihren Namen erfahren wir. Das blonde Kind heißt Natalya und zählt 27 Lenze, wie sie uns an ihren Fingern abzählt. Sie kann nicht klagen. Ihre Geschäfte laufen gut. Besonders mit Deutschen, die sie, wie sie uns mit Kusshändchen zu verstehen gibt, besonders gern hat. In unmittelbarer Nachbarschaft „tauft“ ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllter Pope einen nagelneuen Audi mit angeblich geweihtem Wasser. Die beiden Besitzer stehen ernst daneben und bekreuzigen sich. Das ist hier so üblich, erfahren wir, dieses Ritual garantiert den Fahrern stets unfallfreie Fahrten. Auch uns verpasst der Priester eine fatal nach Chlor schmeckende Dusche.
An lauen Tagen wird die von wunderschönen alten Häusern der Belle Epoque und protziger Zuckerbäckerarchitektur der Stalinära gesäumte Prachtmeile Kiews, die Chreschtschatyk, zum Laufsteg unter freiem Himmel. Wer einen guten Standort ergattert hat, kann sich am Défilé bildschöner langbeiniger Mädchen in knalligen Hot Pants und gewagten Kreationen aus Leder und Latex erfreuen. Trotz ihres Gardemaßes von einem Meter achtzig stöckeln sie auf Schwindel erregend hohen Absätzen über das Pflaster. Böse Zungen behaupten, der Frauenüberschuss im Lande zwinge die jungen Damen, ihre Reize vor möglichst wohlhabenden Ehekandidaten öffentlich ins rechte Licht zu rücken. An reichen Männern mangelt es nicht. Wo hat man je derart viele Porsches, Touaregs, Bentleys und Mercedes der S-Klasse auf so engem Raum gesehen? Der Turbokapitalismus feiert in Kiew fröhliche Urständ. Schicke Boutiquen, in denen teure Markenartikel angeboten werden, und hochpreisige Hotels sind stark frequentiert. Und an den Tischen der feinen Restaurants muss es einfach Kaviar sein. Der wird im Übrigen auch in der berühmten Bessarabischen Markthalle angeboten, und das zu sehr attraktiven Preisen. Aber Vorsicht – es handelt sich hier laut Aussagen von Insidern um raffiniert in Kaviardosen abgefüllten einfachen Fischrogen, der auch bei uns nicht viel kostet. Da halten wir uns lieber an einen Borschtsch, den leckeren ukrainischen Gemüseeintopf. Am besten schmeckt der in einem einfachen Lokal.
Zu guter Letzt noch ein wichtiger Tipp: Haben Sie stets Toilettepapier bei sich. Denn das scheint hier äußerst knapp zu sein. Selbst in den sanitären Anlagen des pompösen Rathauses suchten wir vergebens danach.
Anreise: Mit Wizz Air vom Flughafen Lübeck-Blankensee zweimal wöchentlich (Di./Sa.)
Auskunft unter www.kiew-info.de
Unterkunft: „Hotel Ukraina“, hoch über dem Majdan gelegenes Haus, www.ukraine-hotel.kiev.u, „Hotel President“, zentral gelegen, www.president-hotel.com.ua , Luxus- Boutiquehotel „Opera“, www.opera-hotel.com. Hotels sind über jedes Reisebüro buchbar
Ausflüge: Perejaslaw-Chmelnyzky : historisch interessantes Städtchen mit Bauernhäusern und Kirchen, Kosakenfort und Gedenkstätte an den Schriftsteller Scholem Aleichem, der die Vorlage für das weltberührte Musical „Anatevka“ schrieb. Tschernihiw: Dytinets-Museumspark und Christi Verklärungskirche. Eliaskirche und Höhlen aus dem 11. Jahrhundert sowie das Jeletsky-Nonnenkloster mit der schönen Mariä-Entschlafens-Kathedrale
Empfehlung: Das praktische Reiselesebuch „Ukraine… wie ich sie liebe“ von der Journalistin und intimen Kennerin der Ukraine Brigitte Schulze, erschienen im Brigitte Schulze Verlag, Preis: Euro 26,80
Hinweis: Für die Ukraine ist kein Visum, sondern lediglich ein gültiger Reisepass erforderlich