erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Vor 100 Jahren wurde die Kleine Meerjungfrau an der Uferpromenade Langelinie in Kopenhagen aufgestellt
Sie gilt als eines der kleinsten Wahrzeichen der Welt. Nur 175 Kilogramm schwer und 1,25 Meter groß ist die Kleine Meerjungfrau in Kopenhagen. Dabei identifiziert sich nicht nur die Hauptstadt, sondern die ganze dänische Nation mit der sympathischen Figur. Für 38 Prozent der Dänen ist sie die Nationalikone. Das ist immerhin die relative Mehrheit. Sie verweist damit die für Dänemark so typischen reetgedeckten bunten Fachwerkhäuser, roten Briefkästen der Post Danmark und Rød pølse – die ebenfalls roten Hot-Dog-Würstchen, welche die EG einst verbieten wollte – auf die Plätze.
Ihre Entstehung verdankt die Kleine Meerjungfrau einem Ballettbesuch. 1909 besuchte Carl Jacobsen, der größte Kunstmäzen des Königreiches sowie Sohn und Nachfolger des Gründers der dänischen Brauerei „Carlsberg“, Jacob Christian Jacobsen, im königlichen Theater von Kopenhagen eine Ballettaufführung von Hans Beck nach Hans Christian Andersens Märchen „Die kleine Meerjungfrau“. In der Haupt- und Titelrolle war die Primaballerina Ellen Price zu sehen. Von dieser Aufführung war Jacobsen so sehr angetan, dass er den Bildhauer Edward Eriksen damit beauftragte, die Meerjungfrau dazustellen. Für das Gesicht stand Ellen Price daselbst Modell, für den blanken Oberkörper die Ehefrau des Künstlers.
Der Auftraggeber war für eine Flosse wie bei einer Nixe, der Künstler für zwei Beine wie bei einer Frau. Authentisch wäre beides gewesen, denn Andersens kleine Meerjungfrau lässt sich in dem Märchen für die Jagd nach einem Prinzen von der Meerhexe einen Trunk verabreichen, der ihr an Stelle ihres Fischschwanzes Beine wachsen lässt. Der Kompromiss besteht schließlich darin, dass man sich bei der Statue auf das Stadium der Wandlung einigt, was die Kleine Meerjungfrau zu einem Zwitter zwischen Nixe und Frau werden lässt. Sie besitzt zwar Beine, aber diese enden statt in Füßen in kleinen Flossen.
1911 ist die Tonfigur fertig und kann in Bronze gegossen werden. Nun entzündet sich zwischen Jacobsen und Eriksen ein Streit über den Standort. Dem Auftraggeber schwebt eine liebliche Variante vor. Er möchte die Figur inmitten von Blumen an einem Teich sehen. Der Künstler hingegen denkt eher an einen Standort am offenen Meer. Er kann dabei darauf verweisen, dass es sich ja schließlich um eine Meer- und nicht um eine Seejungfrau handelt, um die anmutigste und jüngste Tochter des Meerkönigs, wie es im Märchen geschrieben steht.
Der Künstler hat das Argument der Authentizität auf seiner Seite und setzt sich schließlich durch. Am 23. August 1913 wird die Kleine Meerjungfrau an der 1900 fertiggestellten Uferpromenade Langelinie am Eingang zur Hafeneinfahrt aufgestellt.
Selten hat ein derart vergleichsweise kleines Kunstwerk im öffentlichen Raum eine derart große Bedeutung für die Nation und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gewonnen. Vielleicht ist dies der tiefere Grund dafür, dass sich immer wieder Menschen bemüßigt sehen, sich an der Kleinen Meerjungfrau zu vergreifen: 1961 wird sie mit einem aufgemalten Bikini verunstaltet, 1963 übergießt man sie mit Farbe, 1964 wird ihr der Kopf abgesägt, 1984 nimmt man ihr den rechten Arm ab und 1998 wieder das Haupt. 2003 schließlich wird sie vom Sockel gesprengt und ins Meer gestoßen.
Wie gut, dass noch originale Gipsfiguren vorhanden sind, so dass notfalls entwendete oder zerstörte Teile nachproduziert werden können. Gerade auch wegen der geringen Ausmaße des Kunstwerkes wäre es schade, wenn die Behörden aus den Vorfällen die Konsequenz ziehen würden, die Kleine Meerjungfrau von der Küste ins Meer zu versetzen, wo sie vor den Menschen sicherer scheint. Dieses kann abgesehen von ihren vielen Bewunderern, die es Jahr für Jahr zu ihr treibt, auch nicht im Sinne der kleinen Meerjungfrau selber sein. Denn schließlich ist sie ja ganz bewusst aus dem Meer an Land gegangen, der Liebe wegen. Wer es nicht glaubt, lese es nach bei Hans Christian Andersen.