Von Dr. Manuel Ruoff
Er wollte »blos zeigen, wie es eigentlich gewesen«
Franz Leopold von Ranke trieb nicht geschichtspolitischer Eifer, sondern die Suche nach Gott in der Geschichte
Mit Leopold von Ranke stammt einer der größten Geschichtswissenschaftler deutscher Zunge aus einem Theologengeschlecht. Der am 20. Dezember 1795 in Wiehe an der Unstrut geborene Lutheraner studierte neben Philologie Theologie. Und aus theologischen Gründen fand er zur Geschichte. Wie Fichte glaubte er: „Allem erscheinenden Leben liegt die göttliche Idee zugrunde; ein bestimmter Teil derselben ist erkennbar. Ihn zu erkennen und die Erkenntnis weiterzuleiten ist die Bestimmung des Gelehrten.“ Ranke zufolge offenbarte sich Gott dem Menschen in der Geschichte, dem gläubigen Wissenschaftler Grund genug, die Geschichte zu erforschen.
Da er keine Veranlassung sah, Gottes Offenbarung zu verfälschen, lag ihm auch Geschichtsfälschung fern. Analog zum Priester, der seine Aufgabe darin sieht, Gottes Offenbarung zu erkennen und anderen zu vermitteln, wollte er „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Ranke spricht von „blos“, denn dem viele Staatshistoriker auszeichnenden Ehrgeiz, Geschichte volkspädagogisch und geschichtspolitisch zu interpretieren, um nicht zu sagen instrumentalisieren, stand sein Respekt vor der Geschichte als Medium Gottes im Wege.
Rankes Forderung nach Objektivität verträgt sich nicht mit Geschichtspolitik. So wird von geschichtspolitischer Seite Ranke gerne entgegengehalten, dass Objektivität nicht möglich sei. Doch selbst wenn dieses richtig sein sollte – und manches spricht dafür, dass das der Fall ist –, muss das ja kein Grund sein, nicht wenigstens zu versuchen, sich dem Ideal anzunähern.
Auch dem Streben nicht nur moderner Staaten, sich als Krone des Fortschritts und den Vorgängerstaaten überlegen darzustellen, lief Rankes Geschichtsauffassung entgegen. Er war nicht fortschrittsgläubig und wähnte alle Epochen „gleich unmittelbar zu Gott“. Explizit wandte er sich dagegen, „die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren“. Analog zu Bundespräsident Philipp Jenninger in seiner legendären Rede, die ihn das Amt kostete, wollte Ranke mit Empathie Geschehenes nachvollziehbar machen, die dahinter stehende Motivationslage aufzeigen, anstatt sich einfach nur betroffen zu entrüsten.
Als inkorrekt gilt zumindest der Linken in der heutigen Historikerzunft auch das nicht nur von Ranke allein vertretene Geschichtsbild, große Männer machten Geschichte. Das gilt zum einen als sexistisch, da die Bedeutung der Frauen ausblendend, und widerspricht zum anderen dem egalitären Ansatz, dass Massenbewegungen und anonymen Prozessen, nicht aber durch Qualifikation oder Geburt herausgehobenen Einzelnen die (durchaus manchmal zweifelhafte) Ehre zukomme, Geschichte zu schreiben.
Wie wenig Ranke zum Geschichtspolitiker geeignet war, musste auch die Regierung seines Königs erfahren. Nach der französischen Julirevolution von 1830 hatte Außenminister Christian Günther von Bernstorff die „Historisch-Politische Zeitschrift“ (HPZ) als „Organ zur Verteidigung der Politik der aufgeklärten preußischen Bürokratie gegen die liberale Kritik von der Linken“ gegründet. Mit der Herausgabe wurde Ranke betraut. Doch obwohl der Preuße aus seinem Konservatismus keinen Hehl machte und seine Loyalität gegenüber seinem König über jeden Zweifel erhaben war, musste die Zeitschrift bereits 1836 wieder eigestellt werden. Die HPZ war einfach zu „historisch“ und zu wenig „politisch“.
Wenn Ranke trotz seiner geringen geschichtspolitischen Relevanz auch heute noch seinen Stellenwert in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung hat, dann liegt das nicht zuletzt an seinem neuen historiographischen Ansatz, nicht einfach nur die Berichte früherer Geschichtsschreiber weiter zu geben, sondern selbständig aus den primären Quellen die Vergangenheit zu rekonstruieren. Ranke hat dieses nicht nur gefordert, sondern auch vorgelebt. Sein Gesamtwerk von über 54 Bänden zeugt davon.
Ermöglicht wurde dieses Herkuleswerk außer durch ein außergewöhnliches Talent durch einen bewundernswerten Fleiß. Erklärbar ist das dahinter stehende Erkenntnisinteresse und Berufsethos wohl nur durch die religiöse Bedeutung, die Ranke der Geschichte und ihrer Erforschung beimaß.
Bezeichnenderweise hatte sich Ranke für seine erste große Arbeit mit Martin Luther den großen Theologen der Lutheraner, einen der „Heroen“ der Menschheitsgeschichte, in denen sich das „geheime Leben“ der „göttlichen Idee“ offenbare, zum Thema gesetzt. Die Arbeit blieb jedoch unvollendet. Stattdessen wurde sein Erstlingswerk „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“. Dieser 1824 veröffentlichten Arbeit folgte noch im selben Jahr die Berufung des in Frankfurt an der Oder tätigen Lehrers für Alte Sprachen und Geschichte zum Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Der historiographische Durchbruch gelang Ranke dann mit der 1834 bis 1836 erschienenen dreibändigen „Geschichte der Päpste“. Dieses Stück katholischer Kirchengeschichte ergänzte der Protestant 1839 bis 1847 durch sechs Bände „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“.
1841 wurde Ranke von Friedrich Wilhelm IV. zum „Historiographen des preußischen Staates“ ernannt. Der Berufung folgten 1847/48 drei Bände „Preußische Geschichte“. Hinzu kamen fünf Bände „Französische Geschichte“ 1852 bis 1861 und sieben Bände „Englische Geschichte“ 1859 bis 1868. Den weniger innovativen Ostmächten unter den fünf Großmächten Österreich und Russland schenkte Ranke weniger Aufmerksamkeit. Vielmehr folgten den mehrbändigen Arbeiten über die Westmächte weitere Werke vornehmlich zur preußischen Geschichte.
Schon seit Jahren blind, nahm Ranke im zu jener Zeit fast biblischen Alter von 85 Jahren noch ein Mammutprojekt in Angriff, eine „Weltgeschichte“. Er kam bis zum Tode Otto des Großen im Jahre 973. Dann setzte sein Lebensende auch seinem Schaffen ein Ende. Leopold von Ranke starb am 23. Mai 1886 in Berlin.