Europarat: Vom Hasen und dem Igel

Europaflagge. Foto: Willfried Wende, Pixabay

Wer das Liebfrauenmünster zu Straßburg besucht, der sollte die Apsis mit dem sogenannten Europafenster des französischen Glasmalers und Designers Max Ingrand mit der „Straßburger Madonna“ nicht unbeachtet lassen. Hoch oben über der Mutter Gottes sieht man vor überwiegend blauem Hintergrund einen goldenen Sternenkranz mit zwölf fünfzackigen goldenen Sternen. Wer dabei an die Europaflagge denkt, liegt richtig, wer dabei an die EU oder deren Vorgängerorganisationen denkt, eher weniger.

Erst 1986 wurde die Europaflagge von den Europäischen Gemeinschaften als Symbol für ihre Institutionen übernommen. Da zierte das Europafenster bereits seit drei Jahrzehnten das Straßburger Münster. Des Rätsels Lösung ist, dass die Europaflagge bereits 1955 vom Europarat als europäische Flagge eingeführt worden ist und der Sternenkranz im Europafenster daran erinnert, dass es 1956 vom in Straßburg sitzenden Europarat gestiftet wurde.

Genauso verhält es sich mit einem weiteren Symbol der EU, der Europahymne. 1972 nahm der Europarat die Melodie des Hauptthemas „Ode an die Freude“ aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens als eigene Hymne an (siehe Seite 9). Erst 1985 nahmen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften die Instrumentalversion als offizielle Hymne der EG an.

Auch für ihr Parlament griff die EU beziehungsweise ihre Vorgängerorganisation Montanunion gerne auf Bestände des Europarates zurück. Als die Montanunion einen Plenarsaal für ihre neugeschaffene Gemeinsame Versammlung, den Vorläufer des heutigen Europäischen Parlaments, brauchte, mietete sie den Sitzungssaal der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Erst 1999 erhielt das Europäische Parlament einen eigenen Plenarsaal.

Auch in existentieller Hinsicht ist die EU ein Nachzügler. Sie selbst wurde 1992/93 gegründet, die Montanunion 1951/52. Der Europarat hingegen besteht bereits seit 75 Jahren. Am 5. Mai wurde er von zehn seiner heute 46 Mitgliedstaaten gegründet.

Es verhält sich also so ähnlich wie beim Schwank „Der Hase und der Igel“. Der im Vergleich zum Hasen EU vergleichsweise schwache Igel Europarat, der gerne schon einmal analog zum Europäische Rat für ein Organ der EU gehalten wird, hat in mancher Hinsicht triumphieren können: „Ick bün all hier.“

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Preußischen Allgemeinen Zeitung.

Author: Dr. Manuel Ruoff

Vizepräsident der DAP; Journalist und Historiker, bei der Preußischen Allgemeinen Zeitung (PAZ) tätig