Von Johanna Renate Wöhlke
Dieser Artikel erschien 1996 im Rahmen einer Serie für das Hamburger Abendblatt zum Thema: „Womit haben Sie als Kind gespielt?“ Damals war Rauhe noch Präsident der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg
Professor Hermann Rauhe, womit haben Sie als Kind gespielt?
Erwartungsvoll, neugierig und gespannt fahre ich an diesem Morgen zum verabredeten Interviewtermin mit dem Präsidenten der Hochschule für Musik und darstellende Kunst am Harvestehuder Weg, Professor Hermann Rauhe. Denn schon auf dem Anrufbeantworter und später am Telefon hat er spontan und begeistert auf das Thema reagiert und dadurch in mir einen Erwartungszustand wachgerufen, Neugier auf das Gespräch, die Situation, das Zusammentreffen mit einer aufgeschlossenen, offenen und begeisterungsfähigen Persönlichkeit, die Zugänge zu sich selbst nicht versperrt, sondern weit aufmacht, so jedenfalls stellt es sich mir schon nach den wenigen Sätzen dar, die wir bislang miteinander gewechselt haben.
„Nirgendwo ist der Mensch so sehr er selber wie im Spiel“, empfängt er mich, und es sprudelt aus ihm heraus wie aus einer unerschöpflichen Quelle, die sich schon aus so
vielen Wassern gespeist hat, daß in ihr reiches Wissen und Erfahrung zu sein scheint, vernetzt und ineinander verwoben, wie das wohl nur auf der Höhe eines erfüllten Forscher- und Lehrerlebens möglich wird.
Spiel und die Bedeutung des Spielens als Bestandteil des menschlichen Lebens, das sei für ihn ein ganz heißes Thema, unmittelbar verknüpft mit den drängenden Zukunftsproblemen unserer Zeit. „Unsere Zeit ist geprägt durch Mangel an Phantasie, Mangel an Spielfreude“, diagnostiziert er. Aber gerade das im Spielerischen möglich werdende sich Ausklinken aus der Realität, mit Gedanken spielen, dabei Visionen und Modelle für die Zukunft zu entwickeln, sei so unendlich wichtig. „Alles was ich erreicht habe, habe ich durch Phantasie, Freiheit und Lockerheit erreicht, indem ich mit allen Möglichkeiten im kreativen, gestaltenden Sinne gespielt habe und damit das Spiel zum Beruf und den Beruf zum Spiel gemacht habe.“ Und er setzt hinzu: „Die Lust am Spiel hat auch zu tun mit dem Mut zum Experiment, zum Wagnis, der Suche nach Zusammenhängen und dem Eingehen von Risiken.“
Hier baut und findet er selbst die Brücke zu einem Spielereignis seiner Kindheit, die er auf einem ausgebauten Restbauernhof in Wanna bei Otterndorf nahe Cuxhaven verlebt hat. Dort gab es unter dem Dach eine Spielkammer mit viel Spielzeug, Hermann Rauhe erinnert auch eine schöne Eisenbahn. Angeregt durch den Beruf des Vaters, der Naturwissenschaftler war, baute er sich eine Versuchsreihe mit Reagenzgläsern und experimentierte mit chemischen Substanzen. Dabei kam es, als er 12 Jahre alt war, zu einer Wasserstoffexplosion, die einen Teil der Dachschräge zerstörte.
Das entstandene Riesenloch ließ den Jungen so erschrecken, dass sich seither seine Interessen von der Naturwissenschaft weg verlagerten. Es blieb die Liebe zum Forschen und Erkennen von Zusammenhängen, deren Gegenstand später die Musik als Modell sinnerfüllten Lebens wurde, in all ihren möglichen Vernetzungen zwischen Wissenschafts- und Forschungsbereichen wie zum Beispiel Medizin, Psychologie, Pädagogik, Religion, auf denen sich Rauhe inzwischen einen international anerkannten Namen gemacht hat.
Weltweite Rufe an fremde Universitäten haben ihn erreicht. Aber gerade hat er seinen Vertrag bis in das Jahr 2002 für Hamburg verlängert. „Brahms ist nach Wien gegangen, sie nicht“, weiß er in diesem Zusammenhang als eine bestätigende und seine Hamburger Arbeit würdigende Bemerkung anzuführen.
Noch heute zieht er seine Kraft aus der Stille, aus der Meditation und dem Gebet, vielleicht auch deshalb, weil die positive Erinnerung an das Elternhaus und dessen ruhige Lage zwischen Wald und Feldern ihn geprägt hat. Seine eigene Spielfreude mit Möglichkeiten, Modellen und für manche Fachkollegen radikal scheinenden, neuen Ansätzen hat der Hamburger Hochschule neue Gebiete dadurch erschlossen, dass er neben dem Absichern und Weiterentwickeln der klassischen Ausbildungsbereiche gegen die starre Trennung von „E“ und „U“ Musik kämpfte, mit Erfolg.
Gemeinsame Projekte mit Pop-und Jazzgruppen, enge Zusammenarbeit mit öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk-und Fernsehanstalten, Schallplattenfirmen, Film-und Fernsehproduktionsgesellschaften, Verlagen der Printmedien gehören inzwischen nach 18 Jahren der Präsidentschaft Rauhes in Hamburg zum Alltag der Hochschule.
„Spielend mit und denkend in Alternativen zwischen Risiko und Chance, immer auch träumend und umsetzend“, so sieht er sich. Dass dieser Ansatz weltweit bei der Lösung der anstehenden Probleme der Menschheit gefragt ist, spiegelt sich auch in der Sprache anderer Kulturen wider, ergänzt er. Im Chinesischen zum Beispiel sei das Wort für Risiko und Chance dasselbe – Lebenserfahrung, die uns allen zugänglich ist: Das Leben selbst spielt immer mit allen Möglichkeiten, egal in welche festgefügten Strukturen wir es gerne einfügen wollen oder nicht.
Fotos: JRWöhlke