erschienen im Hamburger Abendblatt am 18. Februar 2011
Von Johanna R. Wöhlke
Die wohl unwichtigste Frage in unserem Kulturkreis ist sicherlich für die meisten Menschen: „Wie nehme ich möglichst schnell an Gewicht zu?“ Es ist ganz klar, dass 99,9 Prozent der Bevölkerung diese Frage mit einem ungläubigen Kopfschütteln begleiten. Da interessiert sich jemand dafür, wie er schnell zunehmen könnte? Keiner hier will zunehmen. Alle wollen abnehmen. Ich kenne Leute, die stellen sich jeden Morgen erwartungsvoll auf die Waage und gehen erfreut in den Tag, wenn sie nur 100 Gramm weniger wiegen als am Tag davor. Welch eine unwichtige Frage also, diese Frage?
Wie komme ich überhaupt darauf? Am Tisch gegenüber sitzt eine sehr schlanke junge Frau und berichtet lachend davon, dass sie ganz genau wisse, wovon sie sehr schnell ganz viel zunehmen könne: Wenn sie noch einmal jung wäre und wieder diesen Job als Verkäuferin in einer Eisdiele hätte. Damals, so erinnert sie sich, hat sie mehrere Kilogramm in kurzer Zeit zugenommen – so gut schmeckte das Eis. Heute machte sie das natürlich niemals mehr. Heute achtet sie auf ihre Figur, das sei selbstverständlich.
Am nächsten Tag treffe ich auf eine andere sehr schlanke, fast magere Frau. Sie ist nicht schlank, weil sie das schön findet und es ihr wichtig ist. Sie ist sehr schlank, weil sie krank ist und nun die Grenze fast überschritten ist, hinter der die Sorgen mit dem Gewicht beginnen werden – die Sorgen mit zu geringem Gewicht und die Sorgen um die Gesundheit wegen des zu geringen Gewichtes. Sie gehört zu den oben behaupteten 0,1 Prozent der Bevölkerung, denen die positive Beantwortung der Frage lebenserhaltend wäre: „Wie nehme ich möglichst schnell an Gewicht zu?“
Wichtige Fragen, unwichtige Fragen – das Leben hat es an sich, manchmal rigoros für uns zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht.