Von Götz Egloff; Foto: Dmitry Ersler
Was im Titel auf den ersten Blick wie eine Verniedlichung klingen mag, soll eine Klarstellung im öffentlichen Diskurs sein. Vorab: alle drei hier genannten psychischen Störungen sind behandlungsbedürftige Syndrome. Sie gehören in die Hand von Psychotherapeuten. Unbehandelt chronifizieren sie fast immer, teilweise mit verheerenden Folgen. Aber selbst mit psychotherapeutischer Behandlung sind die Prognosen teilweise mäßig: bei der Anorexie je nach Schwere unterschiedlich, bei der Bulimie im Mittelfeld, bei der Hysterie recht gut. Hysterie? Die gibt´s noch? Ja, die gibt´s noch, und zwar häufiger als gedacht: eine unbemerkte Störung, die viel leiser daher kommt als ihr Name suggeriert.
Was hat es mit der Hysterie auf sich? Und warum reden nun alle von Essstörungen und niemand mehr über Hysterie? Dazu hier ein historischer Abriss: Freud entwickelte vor über 100 Jahren ein Modell des unbewussten Konflikts: das Konversionsmodell. In seinen Beobachtungen im Kontakt mit Patientinnen stellte er fest, dass es einen nicht bewusst zugänglichen Triebwunsch gab, der mit einer – wohlgemerkt: inneren – Norm in Konflikt gerät. Dabei entsteht Angst, die nicht leicht auszuhalten ist. Da diese auszuhalten psychische Energie kostet, ist es für den menschlichen Organismus ökonomischer, den Konflikt zu verdrängen. Wirkliches Verdrängen hieße jedoch, dass die Person keine Erinnerung mehr an den Konflikt hätte – etwas, wie jeder aus dem Alltag weiß, das kaum gelingt. Wenn in der Alltagssprache von Verdrängung gesprochen wird, weiß man meist sehr genau, welche Themen man zu verdrängen versucht hat. Die Verdrängung funktioniert also meist nicht vollständig, was im milden Fall nach Freuds Ansicht z.B. zu Versprechern führen kann, in vielen Fällen allerdings zu Symptomen führt, deren Sinn unverständlich erscheint, aber deren Bedeutungsgehalt erschlossen werden kann. Dies ist in der klassischen Psychoanalyse die Aufgabe der Therapie.
Oft zeigen sich die neuen Symptome, die aus der unvollständigen Verdrängung entstanden sind, körperlich, wie Freud feststellte; diesen Vorgang nannte er Konversion. Er griff dann auf das uralte Wort Hysterie zurück, wenn er feststellte, dass es um sexuelle Triebwünsche und deren Abwehr ging. Die Gebärmutter, die Hystera, galt in frühen Kulturen als Schlüssel zu manchen Auffälligkeiten, die Zeitgenossinnen zeigten, nur dass man damals konkret dachte, die Gebärmutter wandere durch den Körper und spreche praktisch durch ihn hindurch zur Außenwelt.
Heute ist es so, dass die sogenannten dissoziativen oder Konversions-Störungen sowie die somatoformen Störungen zum Kreis der früher als hysterisch bezeichneten Störungen gezählt werden. Schaut man sich nun die dissoziativen oder Konversions-Störungen an, so findet man z.B. Amnesie, Stupor und Krampfanfälle: etwas, was heute nicht mehr gängig erscheint. Unter den somatoformen Störungen befinden sich die Schmerzstörung und – die verschiedenen Formen der Somatisierungsstörung. Zu letzterer gehören all die landläufig so genannten psychosomatischen Erscheinungen: Magen-Darm-, Herz-Kreislauf- und ähnliche Störungen. Wie man weiß, hängen z.B. Herz-Kreislauf-Störungen oft mit Stressfaktoren zusammen – nicht nur äußeren –, wo hingegen o.g. Triebwunschkonflikte – sexueller Natur – dabei meist weniger eine Rolle spielen. Anders verhält sich dies bei den dissoziativen Störungen, die dissoziativ, also: getrennt heißen, weil hier eine Trennung vom eher psychischen Mechanismus des Triebwunschkonflikts zum eher körperlich ausgedrückten Symptom besteht. Es ist allerdings eine Gegentendenz zu beobachten, hier wieder mehr zum Hysterie-Begriff zurückzukehren. Vielleicht macht es Sinn, ihn mehr als historischen Begriff zu verstehen und das Bedeutungsfeld der Entwertung scheinbar spezifisch weiblicher Eigenschaften zu den Akten zu legen. Immerhin gibt es im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung auch eine Tendenz zu mehr hysterisch anmutenden Männern.
Warum nun, mag man fragen, sind hysterische Triebwunschkonflikte in einer Zeit der sexuellen Liberalisierung, wie sie in Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wie der unseren noch nie zuvor vorhanden war, überhaupt noch anzutreffen? Dies hängt wohl mit den Grundbedingungen des menschlichen Aufwachsens zusammen. Triebwunschkonflikte durchlaufen alle Menschen – zumindest in den sogenannten Zivilgesellschaften – regelhaft. Freud betonte sehr früh schon die Bedeutung der inneren Normen, die den Menschen umtreibt. Diese sind zwar eingebettet in äußere Normen, dennoch gibt es mehr individuelle Unterschiede in Urteilsfragen als man meinen sollte. Und was wohl immer bleibt, ist die Darwin´sche Erkenntnis von der Triebnatur des Menschen, die zügellos und brutal sein kann – das 20. Jahrhundert hat zwei Weltkriege hervorgebracht – und daher der Zähmung bedarf; der Triebwunsch verschwindet dadurch aber nicht, er ist eben nur gezähmt.
Und was ist nun mit Anorexie und Bulimie? Wieso wollen alle plötzlich so dünn wie irgend möglich sein? Ist das die neue, alte Hysterie? Sind dies die neuen Ausformungen dissoziativer Störungen? Ja und nein. Es gilt, jenseits von Mystifizierung und Panikmache einerseits genau hinzuschauen, andererseits genau zuzuhören. Was macht die betreffende Person aus und was hat sie zu sagen. Denn: das Motiv der Person ist entscheidend. Wie sie die Dinge erlebt, sagt etwas über ihr subjektives Empfinden aus – nicht mehr und nicht weniger. Es geht also nicht darum, ob eine Frau mit, sagen wir, einer Größe von 1,65 m nun 48 kg, 59 kg oder 78 kg wiegt. Entscheidend ist, wie sie sich mit ihrem Gewicht fühlt und ob dieses Gefühl ihr Leben in unverhältnismäßigem Maß beeinträchtigt. Wohlgemerkt: ihr Gefühl, nicht das Gewicht selbst. Dass das Schönheitsideal im neuen Jahrtausend deutlich dünnere Frauen als noch in den 80er Jahren konstruiert, ist offensichtlich. Nur: wer ist das Schönheitsideal, wer vertritt es? Jeder und jede selbst. Vielleicht nicht in jedem Fall, aber oft eben doch, z.B. mittels des Interesses an Schönheit und ihren bunten Erscheinungsbildern. Dabei gibt es einen Trend – den jeder einzelne mitträgt, oder eben nicht –, der Frauen trainierter, körperlich härter, ja männlicher konstruiert. Gleichzeitig sind aber auch große, runde Brüste und Hinterteile ebenso im Trend, die Idealform von etwas sehr Weiblichem. Lange Fingernägel ebenso – wohl auch eine Mischung aus traditionell Weiblichem, aber auch aggressiv besetztem Krallen-Bild. Das mag alles eine Idealbildung sein, die für Frauen mitunter schwierig zu verwirklichen ist – aber so ist das eben mit Idealbildern. Für Männer gilt mittlerweile ja Ähnliches. Festzuhalten ist, dass solche kollektiven Phantasien Ausdruck von kollektiven Wünschen sind, was im Fall der über Jahrhunderte andauernden kollektiven Benachteiligung von Frauen nicht verwunderlich ist. Welche Frau wollte denn nicht zäh und ausdauernd, bestimmt und direkt sein, aber auch verführerisch, weich und zart, je nach Situation, Bedürfnissen und Notwendigkeit? Also: Hysterie scheint dieser Trend generell nicht zu sein – es sei denn, es gäbe nach klassischer Lesart bei der einzelnen Person einen Triebwunsch-Konflikt, der – verkürzt gesagt – mittels übermäßigen Hungerns oder Erbrechens unterdrückt, abgewehrt werden soll, also nicht bewusst werden darf. Bei jungen Frauen könnte das z.B. ein innerer kindlicher Satz sein wie: ich möchte meine Mutter übertrumpfen, damit mein toller Vater mich heiratet und meine schreckliche Mutter in den Wind schießt. Oder auch: nur ein Mann zu sein ist lebenswert, daher möchte ich sein wie mein Vater (am besten: noch besser als dieser), damit ich am besten an seiner Stelle mit meiner geliebten Mutter zusammen bleiben kann. Auffallend ist allerdings – insbesondere, aber nicht nur – bei Essstörungspatientinnen das seltsam abgespaltene Erleben des eigenen Körpers, etwas, das wiederum als dissoziatives Erleben bezeichnet wird. Und da wären wir dann wieder bei – der leisen Form – der Hysterie.
Neben Therapie-Praxen existiert mittlerweile an nahezu allen deutschen Universitätskliniken eine Anlaufstation für Personen mit symptomwertigen Erscheinungen. Spezialisiert sind in
– Norddeutschland: Ambulanz für Essstörungen und Familientherapie an der Universität Göttingen, und in
– Süddeutschland im Raum Rhein-Main-Neckar: Universitätsklinikum Heidelberg,
Psychiatrische und Psychosomatische Klinik, Tel. 06221-56-4466