Rezension von Götz Egloff zum Buch
Die Geburt ist nicht der Anfang. Die ersten Kapitel unseres Lebens – neu erzählt
von Marianne Krüll. Unter Mitarbeit von Flora Frank
Klett-Cotta, Stuttgart, 2009
Das Unbekannte in der Biographie – wie vor- und nachgeburtliche Erfahrungen den Menschen prägen
Die große Dame der Gender-Soziopsychologie Marianne Krüll hat ein herausragendes Werk über das Werden des Menschen vorgelegt. In gefühlvollem und klugem Ton führt sie in Welten ein, die manchem Menschen als weit entfernt liegend erscheinen mögen, deren unmittelbare Relevanz für das Leben jedoch größer nicht sein könnte.
Dass der Mensch ein historisches Wesen ist, ist nachvollziehbar. Dass der Mensch ein sprachliches Wesen ist, wer wollte das bestreiten? Dass schon früheste Erfahrungen – zurückreichend bis in den mütterlichen Uterus – Körpererinnerungsspuren hinterlassen, sind wichtige Erkenntnisse der prä-, peri- und postnatalen Psychologie. Kaum wird dies so plastisch dargestellt wie im Buch von Marianne Krüll. Mit einer fundierten biologischen Einführung eröffnet die Autorin den Raum für neurobiologische, psychologische und soziokulturelle Erkenntnisse und deren Relevanz im Blick auf das Werden des Menschen. Die Betrachtung des Anfangs des Lebens auf innerzellulärer Ebene, sozusagen von der Zygote, der ersten Zelle, an, stellt Grundlage und Prisma für die weiteren Überlegungen der Autorin dar. Medizinische Laien erhalten Einblick, Fachleute eine Auffrischung über die Entwicklung des Lebewesens auf molekularer Ebene. Das Thema Genexpression und zelluläre Entwicklung im Rahmen der Induktion durch die Umwelt bringt Licht ins Dunkel der zwischen Natur- und Sozialwissenschaftlern heftig geführten Anlage-Umwelt-Debatte. Dass Anlage und Umwelt eine Ergänzungsreihe bilden, die die Sozialisation des Menschen ausmacht, hatte bereits Sigmund Freud geahnt; Hirnforscher wie Gerhard Roth und Gerald Hüther haben dies inzwischen weiter herausgearbeitet. Möglichkeiten und Grenzen der Plastizität neuronaler Netzwerke in der Hirnentwicklung stellt Marianne Krüll anschaulich dar. Der Blick auf die frühesten Erfahrungen des Embryos und des Fötus erweitert hierbei die Perspektive, wobei wichtige Erkenntnisse der führenden Pränatalpsychologen wie Thomas Verny, John Kelly und Ludwig Janus herangezogen werden. Einblick in die Zwillingsstudien von Allessandra Piontelli ergänzen die Überlegungen der Autorin. Neben der Darstellung der Motorik und Sensorik des Fötus werden dann die Implikationen der heute möglichen pränataldiagnostischen Verfahren erörtert, deren Relevanz in ihren Auswirkungen auf das Schwangerschaftserleben der werdenden Mutter nicht zu unterschätzen ist. Gerade wenn man bedenkt, wie viele verunsicherte schwangere Frauen ärztliche und psychotherapeutische Praxen aufsuchen, um angesichts der heutigen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik Orientierung, vor allem aber Entlastung und Beruhigung zu erfahren, wird die Brisanz dieses Themas überdeutlich. Ob Chorionzottenbiopsie, Amniozentese oder andere Verfahren für die Patientin nützlich sein können, ist nur individuell auszuloten. Mit notwendigem kritischen Blick nimmt sich die Autorin dieses Themas an.
Und dieses Buch bietet noch mehr: Geburt und Geburtsformen werden dargestellt; der Geburt als krisenhaftes Geschehen für Kind (Rank) und Mutter wird nachgegangen. Ebenso werden die soziokulturellen Bedingungen des ersten Lebensjahres, dem besondere Beachtung zu schenken ist, da der Mensch ontogenetisch eine extrauterine Frühgeburt (Portmann) darstellt, ausführlich behandelt und denen auf Bali gegenübergestellt – dies mit dem notwendigen Augenmaß in Bezug auf interkulturelle Vergleiche.
Ein ebenso eindrucksvoller Teil des Buches beschäftigt sich ausführlich mit der Sprachlichkeit des Menschen und der damit konstitutiven kommunikativen Funktion der Sprache als anthropologische Grundkonstante des Menschseins. Auch hier finden anatomische und neurophysiologische Grundlagen ihren Platz. Die Sprache als Akt des Handelns und als Gefühlsausdruck werden beleuchtet und in kommunikationstheoretische Zusammenhänge eingebettet (Bateson). Symbolisierungsfähigkeit und Ich-Du-Unterscheidung, also Selbst- und Objektdifferenzierung, in der kindlichen Entwicklung stellt Marianne Krüll besonders spannend und anhand von höchst anschaulichen Fallbeispielen dar. Wie sehr Sprache psychische Wirklichkeiten konstruiert, wird eindrücklich erläutert. Dass psychische Störungen eben auch als Sprachspiele verstanden werden können und somit auch als kontextabhängige Symbolisierungsleistungen, deren Interpretation ebenso kontextabhängig ist, macht dieses Buch ebenso deutlich. Denn die Notwendigkeit therapeutischer Unterschiedsbildungen zum Verständnis intra- und intersystemischer Vorgänge kann gar nicht oft genug betont werden, ebenso wie die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, die Marianne Krüll schlussendlich nochmals ausdrücklich erläutert. Ein Ausblick und Kontakthinweise zu verschiedenen Fachgesellschaften sowie ein Glossar für medizinische Laien runden das Werk ab.
Als kritische Anmerkung bleibt einzig zu sagen, dass manche kurzen Einschübe fiktiver Dialoge nicht optimal gelungen scheinen; dies mag jedoch Geschmackssache sein. Allerdings ist das Gebiet der Gentechnik ein zu komplexes, als dass es im Vorbeigehen gestreift werden sollte. Gleiches dürfte für die Arbeiten von Margaret Mead gelten, deren Erkenntnisse mittlerweile umstritten sind. Die angesprochenen Punkte stellen jedoch die einzigen Schwächen dieser ansonsten eindrucksvoll gelungenen Zusammenschau biologischer, tiefenpsychologischer und systemtheoretisch-konstruktivistischer Aspekte der menschlichen Entwicklung dar, die immer praxisorientiert und lebensnah auftritt, ohne vielschichtige Zusammenhänge unnötig zu vergröbern.
Besondere Würdigung gilt dem Stuttgarter Klett-Cotta Verlag, der mit der Veröffentlichung dieser komplexen Verknüpfung aus anthropologischer Grundlagenschrift und Synopsis angewandter Forschung wiederum die, wie das Buch zeigt, unnötige Lücke zwischen Natur- und Kulturwissenschaften schließt. Dieses großartig gelungene Werk ist wärmstens zu empfehle