Vor zehn Jahren starb mit dem »roten Preußen« Willi Stoph der erste, der im SED-Politbüro Honeckers Rücktritt forderte
Von Manuel Ruoff
Als „roter Preuße“ ist der langjährige Minister- und Staatsratsvorsitzende der DDR bezeichnet worden. Böse Zungen mögen meinen, diese Bezeichnung sage mehr aus über das (negative) Preußenverständnis desjenigen, der sie verwendet, als über den Parteisoldaten, den sie charakterisieren soll. Fakt ist, daß das langjährige Mitglied von KPD und SED ein gebürtiger Preuße ist.
Am 9. Juli 1914 kam der Sproß einer Arbeiterfamilie in Berlin zur Welt. Dem Besuch der Volksschule folgten eine Maurerlehre und später ein Fernstudium der Bautechnik. Nachdem er vorher schon dem Kommunistischen Jugendverband Deutschland (KJVD) angehört hatte, trat er 1931 in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein.
Im Gegensatz zu vielen anderen Größen der DDR emigrierte er jedoch nicht, als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Regierung kamen. Er kam von 1935 bis 1937 seiner Wehrpflicht bei einem Artillerieregiment in Brandenburg an der Havel nach und nahm nach einer kurzen Tätigkeit als Bautechniker in einem Architekturbüro ab 1940 als Wehrmachtssoldat am Zweiten Weltkrieg teil. Kurz vor Kriegsende geriet er in die Gefangenschaft der Sowjets, konnte jedoch bereits im Juli 1945 aus deren Lager Deutsch Eylau fliehen und sich nach Berlin durchschlagen, in dessen von den Kommunisten kontrollierten Teil er nun Karriere machte.
Der gelernte Maurer leitete zunächst die Abteilung Baustoffindustrie und Bauwirtschaft und dann die Hauptabteilung Grundstoffindustrie der Zentralverwaltung der Industrie, bevor er 1948 die Leitung der Abteilung Wirtschaftspolitik beim Parteivorstand der SED übernahm. Nach der Gründung der DDR wurde er Anfang der 50er Jahre im Parlament Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses und bei der Regierung Büroleiter für Wirtschaftsfragen.
Außer mit (bau)wirtschaftlichen Fragen begann Stoph sich nun auch mit Sicherheitspolitik zu befassen. So wirkte er außer bei der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auch am Ausbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP) mit. Insofern kann es nicht verwundern, daß er 1952 im Ministerrat das Innenressort übernahm, das für die bewaffneten Kräfte der DDR zuständig war.
In dieser Funktion „bewährte“ sich Stoph in den Augen der SED-Führung bei der Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Hierfür wurde Stoph 1953 mit der Aufnahme ins SED-Politbüro, sowie 1954 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold sowie dem Titel eines stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates ausgezeichnet. Da das MfS mit seinem Minister Wilhelm Zaisser in den Augen der DDR-Führung während des Aufstandes versagt hatte, wurde aus dem eigenständigen Ministerium ein Staatssekretariat, das Willi Stoph als Innenminister unterstellt wurde.
Als 1956 nach der Gründung der Bundeswehr im Westen im Osten aus der Kasernierten Volkspolizei die Nationale Volksarmee (NVA) hervorging, wurde Stoph als Minister für Nationale Verteidigung deren erster Minister. Aus dem Stabsgefreiten der Wehrmacht wurde erst ein Generaloberst und 1959 ein Armeegeneral der NVA.
1960 wurde Stoph Walter Ulbrichts Verbindungsmann zur Regierung, denn er wurde mit der „Kontrolle und Koordinierung der Durchführung der Beschlüsse des Zentralkomitees der SED und des Ministerrats im Staatsapparat“ beauftragt. 1962 wurde er Otto Grotewohls Vize als Erster Stellvertreter des Ministerratsvorsitzenden. Ein Jahr später wurde er auch Mitglied des Staatsrates und damit des kollektiven Staatsoberhauptes der DDR.
Nach dem Tode Grotewohls im Jahre 1964 wurde Stoph dessen Nachfolger als Ministerratsvorsitzender und Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. In seiner Eigenschaft als Regierungschef der DDR traf er 1970 sowohl in Mittel- als auch in Westdeutschland Bundeskanzler Willy Brandt, wobei die Begegnung in Erfurt durch die rhythmischen Willy-Willy-Rufe in die Geschichte eingegangen ist.
Nach dem Tode Ulbrichts erreichte Stophs Karriere 1973 ihren Höhepunkt. Er trat als Regierungschef zurück und im Staatsrat die Nachfolge des Verstorbenen an – allerdings nur für drei Jahre. Als der starke Mann der DDR nach der Ära Ulbricht, Erich Honecker, wie Ulbricht und Leonid Breschnew die Kombination aus Partei- und Staatsführung anstrebte, wurde Stoph 1976 wieder das, was er vor Ulbrichts Tod gewesen war: Ministerrats- und stellvertretender Staatsratsvorsitzender.
Dieser Degradierung folgte eine Entfremdung zwischen Günstling und Gönner. Dabei ging Stoph jedoch nie soweit, daß er in Ungnade gefallen wäre und seine Privilegien verloren hätte. Seine vor dem gesamten Politbüro vorgetragene Kritik an der überbordenden Westverschuldung und der permanenten Mißachtung ökonomischer Gesetze ärgerte zwar Honecker, kostete den Kritiker aber nicht den Kopf. Nachdem Stoph bereits 1986 vertraulich gegenüber Michail Gorbatschow die Ablösung Honeckers unter Hinweis auf eine Analyse über den Zustand der DDR vorgeschlagen hatte, hielt er am 18. Oktober 1989 den Zeitpunkt für gekommen, sich im Politbüro offen an seinen Partei- und Staatschef mit den Worten zu wenden: „Erich, es geht nicht mehr. Du mußt gehen.“ Damit leitete der Regierungschef das politische Ende seines Partei- und Staatschefs ein.
Durch die (späte) Trennung von Honecker konnte die Nomenklatura sich und ihren Staat jedoch nicht mehr retten. Mit der DDR endete auch die Karriere des Willi Stoph. Am 7. November 1989 trat er mit seiner Regierung und einen Tag später mit dem Politbüro zurück. Am 17. November schied er aus dem Staatsrat und der Volkskammer aus. Am 3. Dezember wurde er aus der SED ausgeschlossen.
Noch zu DDR-Zeiten leitete der Generalstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. Das gar nicht preußische Vergehen, dessen er verdächtigt wurde, waren Schädigung der Volkswirtschaft und persönliche Bereicherung durch Amtsmißbrauch und Korruption. Vorausgegangen war die Informierung der Öffentlichkeit über Stophs luxuriöses Jagdhaus inmitten eines Naturschutzgebietes östlich der Müritz. Willi Stoph erging es jedoch ähnlich wie anderen ehemaligen DDR-Größen: Eben noch fit genug zur Leitung eines Staates reichte die Fitness nun nicht einmal mehr für die Haft. So wurde der zwischenzeitlich verhaftete Stoph bereits im Februar 1990 „aus gesundheitlichen Gründen“, wie es hieß, wieder entlassen.
Nach der deutschen Wiedervereinigung wiederholte sich das Spiel. Im Mai 1991 wurde Stoph abermals verhaftet, dieses Mal wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze. Im August des Folgejahres folgte dann die Haftverschonung. Ein im November 1992 eröffnetes Verfahren vor dem Berliner Landgericht wurde im Juli 1993 endgültig eingestellt, nachdem die Verhandlungsunfähigkeit festgestellt worden war. Für die Haftzeit wurde ihm sogar eine Entschädigung zugebilligt.
Wenn Stoph auch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen Amtsmißbrauchs zur persönlichen Bereicherung erspart geblieben ist, so ist der Tatbestand als solcher doch gerichtlich festgestellt. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied nämlich mit dieser Begründung, daß sein 1990 beschlagnahmtes Vermögen in Höhe von 388000 DDR-Mark einbehalten wird.
Vor zehn Jahren, am 13. April 1999, starb Willi Stoph als freier Mann in seiner Geburtsstadt Berlin. Vier Monate später, am 13. August 1999 wies das Bundesverfassungsgericht die noch von Stoph sowie Erich Mielke und Hermann Axens Erben eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen die Einziehung ihrer Ersparnisse ab und bestätigte die diesbezüglichen Urteile der Verwaltungsgerichte.