erschienen in der PAZ
Von Dr. Manuel Ruoff
Vor 60 Jahren starb Ernst Reuter, Berlins vielleicht bekanntester Bürgermeister und Antikommunist
Renegaten sind häufig am entschiedensten. Und Exkommunisten sind nicht selten die überzeugtesten Antikomministen. Letzteres gilt auch für Ernst Reuter.
Der am 29. Juli 1889 im heute dänischen Apenrade geborene Preuße entstammte einem bürgerlichen Milieu. Sein Vater war Kapitän und Navigationsschullehrer der Handelsmarine. Nach dem standesgemäßen Abitur begab sich der Geschichts-, Germanistik und Geografiestudent unter dem Einfluss seiner Professoren auf den Marsch nach links, wobei er am Ende seines Studiums 1912 in der SPD ankam. Angesichts seiner Studienfächer bot sich eine Beschäftigung im Staatsdienst an. Aber diesem preußischen Staat, wie er sich ihm darstellte, wollte er aus politischer Überzeugung nicht dienen. Stattdessen versuchte er, im Dienste seiner Partei sein Auskommen zu finden, was ihm ob seines unbestreitbaren Redetalents einigermaßen gelang.
Eine Zäsur bedeutete für Reuter der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der ihn nicht nur zum Soldaten, sondern auch zum Kriegsgefangenen des erst zaristischen und dann republikanischen Russland werden ließ. Reuter erlernte in der Kriegsgefangenschaft die russische Sprache und begeisterte sich für die Bolschewisten. Letztere wurde auf ihren deutschen Sympathisanten aufmerksam und machten ihn zum ersten Volkskommissar der Wolgadeutschen Republik.
Nach dem Ausbruch der Novemberrevolution in der Heimat kehrte Reuter jedoch in selbige zurück und beteiligte sich dort an der Gründung der KPD. Dort brachte er es bis 1921 bis zum Generalsekretär. Als sich allerdings herausstellte, dass seine Partei im Mitteldeutschen Aufstand jenes Jahres, der sogenannten „Märzaktion“, Agents Provocateurs eingesetzt hatte, forderte er Aufklärung und begab sich damit in Konflikt mit der Komintern. Als Folge seines unbotmäßigen Verhaltens verlor der Kommunist zuerst sein Generalsekretärsamt und 1922 auch sein Parteibuch. Über die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) fand der Exkommunist dann wieder zur Sozialdemokratie zurück.
Wie zuvor schon als Kommunist wirkte er nun als Sozialdemokrat an der Kommunalpolitik der Hauptstadt mit. Er spezialisierte sich dabei auf die Verkehrspolitik. 1926 wurde er Stadtrat für das Verkehrswesen. In dieser Funktion trug er maßgeblich zum Zusammenschluss verschiedener Betriebe des Personennahverkehrs zur „Berliner Verkehrs-AG“, den heutigen „Berliner Verkehrsbetrieben“, bei. Reuter wurde Aufsichtsratsvorsitzender dieses bei seiner Gründung 1928 größten öffentlichen Nahverkehrsunternehmens der Welt.
1930 kündigte in Magdeburg der dortige von der SPD gestellte Oberbürgermeister seinen Rücktritt aus Altersgründen an. Da sich die Magdeburger Genossen nicht auf einen der Ihren als Nachfolger einigen konnten, wandten sie sich an die Berliner Parteizentrale, die ihnen Reuter empfahl. 1931 wählte die Magdeburger Stadtverordnetenversammlung Reuter zum Oberbürgermeister. Seine Amtszeit währte nur zwei Jahre. Und die wirtschaftliche Not, die sich in klammen öffentlichen Kassen widerspiegelte, ermöglichte dem Stadtoberhaupt kaum Akzente setzende Investitionen. Im Jahr seiner Wahl verlor sein neuer Wirkungsbereich zudem weitgehend seine Finanzhoheit an einen vom Reichsland Preußen eingesetzten Staatskommissar. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten endete für Reuter dann auch dieses Amt.
Nach diversen Verhaftungen emigrierte er schließlich über Großbritannien in die Türkei Kemal Atatürks, der bei seinem Versuch, Anschluss an den Westen beziehungsweise die aufgeklärten Industrienationen zu finden, gerne auf Fachleute aus Deutschland zurückgriff. Von Reuter versprachen sich die Türken vor allem Hilfe bei Aufbau und Entwicklung ihres öffentlichen Personennahverkehrs. Auf diesem Gebiete arbeitete der Deutsche sowohl im Wirtschafts- als auch im Verkehrsministerium der Türkei. Um nicht in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen zu werden, entfernte der eurasische Staat zwar die deutschen Mitarbeiter aus seinen Ministerien, aber als Dozent hatte Reuter weiter sein Auskommen.
Nach dem Ende von Weltkrieg und NS-Herrschaft kehrte Reuter aus dem Exil nach Berlin zurück. Mit seiner Einstellung wurde der Antikommunist im Kalten Krieg zum natürlichen Verbündeten der USA und Gegner der Sowjetunion. Antikommunistisch gesinnt war auch Reuters Parteifreund Kurt Schumacher. Während der SPD-Vorsitzende im vor den Sowjets vergleichsweise sicheren Hannover jedoch die Hoffnung hatte, dass ein wiederherzustellendes beziehungsweise wieder handlungsfähig zu machendes unabhängiges gesamtdeutsches Reich stark genug wäre, sich gegen die Sowjetunion zu verteidigen, setzte Reuter in Berlin auf den Rückhalt der US-Besatzungsmacht und eines US-amerikanischen Satellitenstaates auf deutschem Boden. Folgerichtig setze er sich für die Gründung der Bundesrepublik und eine enge Bindung Berlins an diese ein. Letzteres unterschied Reuter wiederum von Konrad Adenauer und Berliner Parteifreunden wie Franz Neumann. Bundeskanzler Adenauer war zwar wie Reuter für die Westbindung und einen westdeutschen Teilstaat, doch wollte er die mitteldeutsche frühere preußische Hauptstadt gerne draußen wissen. Sozialdemokraten wie der Berliner SPD-Vorsitzende Neumann wiederum fürchteten weniger eine Angleichung an Stalins Sowjetunion als an Adenauers Bundesrepublik. Letztere Sorge war aus ihrer Sicht durchaus begründet, denn Berlin war stärker sozialdemokratisch geprägt als die Bonner Republik. Und vermeintliche egalitäre Errungenschaften in Berlin wie die Beschäftigung von Angestellten statt privilegierten Beamten im Staatsdienst oder die Einrichtung der überkonfessionellen zwölfklassigen Einheitsschule waren bei einer stärkeren Bindung an die Bundesrepublik im Allgemeinen und die von Reuter geforderte Übernahme von Bundesgesetzen im Besonderen in der Tat in Frage gestellt.
Ungeachtet dieser Differenzen entsprach Reuter mit seinem Antikommunismus durchaus dem Zeitgeist. So wurde der sozialdemokratische Oberbürgermeister Berlins Otto Ostrowski 1947 von seiner eigenen Fraktion wegen zu großer Nähe zur SED gestürzt. Zum Nachfolger wurde Reuter gewählt, der sich vorher wie bereits in der Weimarer Zeit als Stadtrat unter anderem um die Verkehrspolitik gekümmert hatte. Allerdings scheiterte die Amtsübernahme am Widerspruch der sowjetischen Besatzungsmacht.
Zu Berlins Oberbürgermeister gewählt, aber durch die Besatzer nicht bestätigt, hielt Reuter während der Berliner Blockade 1948 seine berühmte Widerstandsrede vor dem Reichstag mit den Worten: „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“
Nach der Teilung Berlins konnten es die Sowjets dann nicht mehr verhindern, dass Reuter wenigstens Regierungschef des Westteils Berlins wurde. Die aus den freien Wahlen in den Westsektoren von 1948 hervorgegangene Stadtverordnetenversammlung wählte ihn noch im selben Jahr einstimmig zum Oberbürgermeister.
1950 erhielt West-Berlin eine neue Verfassung, die der Stadt unter anderem den heute noch gebräuchlichen Titel „Regierender Bürgermeister“ statt Oberbürgermeister brachte. Geschwächt durch den geschilderten parteiinternen Streit um das Verhältnis zur Bundesrepublik, verlor die SPD bei den im selben Jahr abgehaltenen Abgeordnetenhauswahlen die absolute Mehrheit. Es kam allerdings zur Bildung einer Großen Koalition und da der bürgerliche Spitzenkandidat sich nach einer unentschieden ausgegangenen Kampfabstimmung im Parlament mit dem Posten des Stellvertreters begnügte, blieb Reuter trotzdem Regierungschef. Ungeachtet seiner großen Popularität war ihm allerdings auch an Berlins Spitze nur eine vergleichsweise kurze Amtszeit vergönnt. Diesmal waren es aber nicht die Nationalsozialisten, die ihr ein Ende setzten, sondern der Tod. Ernst Reuter starb am 29. September 1953 an den Folgen eines Herzanfalls.