Von Dr. Manuel Ruoff
Vergebens versuchte das Deutsche Reich, dem afrikanischen Staat seine Unabhängigkeit zu bewahren
Der Anfang vom Ende der marokkanischen Unabhängigkeit begann damit, dass Frankreich an der ihm gegenüberliegenden Küste des Mittelmeeres Brückenköpfe bildete, diese immer mehr ausbaute und schließlich als Herr über Algerien zum Nachbarn Marokkos wurde. 1830 besetzten französische Truppen Algier, Oran und Beleb el-Anab.
Dass Marokko erst 1912 Kolonie wurde, was für ein afrikanisches Land schon bemerkenswert spät ist, lag zum einen am Deutschen Reich, das sich lange für die marokkanische Unabhängigkeit einsetzte, und zum anderen an der Zerstrittenheit zwischen den an Nordafrika interessierten Kolonialmächten. Noch 1880 garantierten die Vereinigten sowie ein Dutzend europäische Staaten, darunter die Großmächte, die Souveränität Marokkos.
1899 beendeten jedoch Großbritannien und Frankreich ihre Kolonialrivalitäten in Nordafrika, die schließlich in der sogenannten Faschoda-Krise kulminiert waren, mit dem Sudanvertrag. In ihm erkannte London Nordwestafrika mit Marokko als französische Interessensphäre an. Diese französisch-britische Aufteilung der Interessensphären wurde 1904 durch die Entente cordiale (herzliches Einverständnis) bestätigt. Auf die gegenseitige Neutralisierung Frankreichs und Englands konnte Marokko nun nicht mehr setzen.
Es blieb nur noch die Freundschaft Deutschlands. So wie Frankreichs Präsident François Mitterrand nach dem Mauerfall durch seinen Besuch in der DDR im Dezember 1989 diese aufwertete und deutlich machte, dass sein Land am Fortbestand dieses Staates interessiert war, besuchte der Deutsche Kaiser Wilhelm II. im März 1905 das Sultanat Marokko. Während Deutschland mit seiner wettbewerbsfähigen Industrie außer auf Marokkos Souveränität auch auf die ebenfalls in der Madrider Konvention beschlossene Chancengleichheit der Vertragsunterzeichner auf dem marokkanischen Markt pochte, versuchte das protektionistische Frankreich, Marokko mehr oder weniger offen zu kolonialisieren, um dessen Markt exklusiv für sich zu haben. Angesichts dieses Bruchs der Madrider Konvention durch die Republik setzte das Reich nach jener von Madrid eine erneute internationale Konferenz durch, die von Algeciras. Dort standen 1906 Marokko und Deutschland England und Frankreich gegenüber. Das Ergebnis war ein Kompromiss. Die durch die Madrider Konvention international garantierte Souveränität Marokkos wurde wie die Handelsfreiheit bestätigt. Dafür erhielt Frankreich Privilegien.
Diese reichten Paris jedoch nicht. So kam es schon kurz darauf in Marokko zu Unruhen, wobei ähnlich wie heute in Syrien der Verdacht besteht, dass das Ausland dahintersteckte, in diesem Falle Frankreich. Und mit der selben Begründung, mit der heute westliche Politiker eine Intervention in Syrien fordern, nämlich mit der Verhinderung eines Bürgerkrieges, intervenierte damals in Marokko ein französisches Expeditionskorps. Während allerdings heute selbst die radikalsten Befürworter einer Intervention in Syrien nicht auf die Idee kämen zu behaupten, dessen Präsident wünsche dieses, legitimierte Frankreich seine Intervention in Marokko mit einem angeblichen Hilferuf des Sultans. Im Frühjahr 1911 marschierten französische Truppen in die marokkanische Hauptstadt Fès und in Rabat ein.
Die Deutschen leisteten Widerstand und zeigten nun ihrerseits militärisch Präsenz in Marokko. Im Sommer des Jahres 1911 reagierten sie mit der Entsendung ihres Kanonenbootes „Panther“ nach Agadir. Dieser sogenannte Panthersprung nach Agadir gilt heute gemeinhin als Auslöser der sogenannten zweiten Marokkokrise. Dass er eine Reaktion auf eine französische Intervention war, wird meist verschwiegen.
Ähnlich wie Russland und China die Westmächte beim „Regime Change“ (Regimewechsel) in Libyen ließ damals Deutschland das von Großbritannien unterstützte Frankreich bei der Entmachtung des marokkanisches Sultans zugunsten eines französischen Kolonialregimes gewähren. Daran änderte auch nichts der gerne als Säbelrasseln und Kanonenbootpolitik kritisierte „Panthersprung nach Agadir“.
Im Herbst 1911 lässt sich das Reich sein Einverständnis zur Einrichtung des Protektorates Französisch-Marokko für eine Vergrößerung seines Schutzgebietes Kamerun abkaufen. Von der deutschen Schutzmacht alleingelassen, sieht sich der marokkanische Sultan gezwungen, am 30. März des Folgejahres im marokkanisch-französischen Vertrag von Fès zugunsten Frankreichs auf seine Souveränität zu verzichten.