Gezähltes Leben

erschienen im Hamburger Abendblatt am 31. Juli 2010

Von Johanna R.Wöhlke

Dieses Telefongespräch werde ich so schnell nicht vergessen. Unerwartet werde ich nämlich mit der Aussage konfrontiert: „Wenn ich mir überlege, dass mein Vater nur etwa 22 000 Tage gelebt hat!“ Diese Aussage sitzt. Das Gespräch geht weiter, und ich habe noch gar nicht nachzählen können. Wie viel Zeit ist das denn in Jahren, 22 000 Tage – so um die sechzig Jahre sind das wohl. Aber das Gespräch geht schon weiter, mittendrin in dieser Frage von Zeit und Leben. Continue reading „Gezähltes Leben“

Langstreckenfliegen oder Der Platz in der Mitte

erschienen im Hamburger Abendblatt am 30. Juli 2010

Von Johanna R. Wöhlke

Es macht Spaß zu fliegen? Die Meinungen zu dieser Frage sind geteilt. Sie reichen von enthusiastischer Freude bis hin zu der Aussage: Muss man eben machen, wenn man schnell in der Welt unterwegs sein will. Nun ja, dagegen ist wohl nichts zu sagen. Pragmatismus ist in diesem Fall wahrscheinlich nicht das Schlechteste. Continue reading „Langstreckenfliegen oder Der Platz in der Mitte“

Gesetze, Gesetze, Gesetze

Von Johanna R.Wöhlke

WolfTek: Haushaltsloch, 2008

Im Bundesanzeiger Verlag erscheint eine monatliche Broschüre, der „Gesetzgebungskalender“. Er enthält die Änderungen des Bundesrechtes auf einen Blick. Auf einen Blick? Das bedeutet schauen, aber bedeutet es auch verstehen? Nein, das bedeutet es nicht, aber: Vielleicht sollten wir als Bürger uns einmal so einen aktuellen Kalender einfach nur vor Augen führen lassen. Was und woran arbeiten Volksvertreter und Regierung in Berlin?

Liebe Leser und Leserinnen, verstehen Sie die folgende aktuelle Aufzählung von Gesetzesvorhaben als das, was sie ist: den Versuch einer Balance zwischen Verstehen und Nichtverstehen in der Komplexität einer parlamentarischen Demokratie, den Versuch einer ernsthaften Balance zwischen Notwendigkeit und Überfluss, den Versuch einer ganz normalen Bürgerin, ihren Staat und ihre Gesellschaft in ihren Stärken und Schwächen wahrzunehmen. Ganz einfach. Ohne zu belehren, ohne zu kritisieren, ohne Besserwisserei. Continue reading „Gesetze, Gesetze, Gesetze“

Postmoderne Hausfrauen

Rezension zum Buch                                                      

Verzweifelte Hausfrauen? Erscheinungsformen der Macht in DESPERATE HOUSEWIVES

von Julia Langner. Mit einem Vorwort von Kay Kirchmann

Tectum, Marburg, 2009

Von Götz Egloff

Da gibt es also Hausfrauen. Und die Soziologie. Und die Psychologie. Und Macht. Die Medienwissenschaften. Und Fernsehserien… Eine davon, die Erfolgsserie DESPERATE HOUSEWIVES, nimmt Julia Langner, Universität Erlangen-Nürnberg, in ihrem Buch unter die Lupe und bündelt viele der genannten Schlagwörter in einer Tour-de-Force durch die verschiedenen Disziplinen. Nach einer gelungenen Einführung in die Historie des Machttopos mit Ausflügen zu Hobbes, Nietzsche, Foucault, Plessner, sowie in die psychologische Forschung von McCleland, führt die Autorin die Leser mittels eines, sozusagen Close Viewing in die beziehungsverstrickten Welten der Protagonistinnen Bree, Lynette, Gabrielle und Susan ein und zeigt auf, auf welche Art sich zeitgenössische Frauenbilder in einem aktuellen Fernsehformat darstellen. Und gibt damit Einblick, inwiefern sich diese im Lauf der Zeiten verändert oder eben nicht verändert haben. In jedem Fall ist dies höchst spannend.

Was sich verändert hat, das wird deutlich, sind die medialen Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Themen. Einst – und teilweise zurecht – vielgeschmähte Fernsehserien werden mittlerweile zum Reflektionsort gesellschaftlicher Zusammenhänge, zum Ort gesellschaftlicher Selbstbefragung (s. Kay Kirchmann im Vorwort). Continue reading „Postmoderne Hausfrauen“

Wussten Sie schon…?

dass über 90 Prozent

des weltweiten Warenumschlags von grünem Kaffee  im Hamburger Hafen umgeschlagen werden?

Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie spielt im Wirtschaftsleben der Stadt eine wichtige Rolle. Als Europas Hauptumschlagplatz und Kaffeehauptstadt findet man in Hamburg von einer gewachsenen Infrastruktur über Lagerung und Spezialbehandlung bis zur Verarbeitung auch die Spezialisten für die Vermarktung und Versorgung mit Rohstoffen. Es ist daher offensichtlich, dass viele tausend Arbeitsplätze- nicht nur in Hamburg- an diesem Geschäft hängen. Continue reading „Wussten Sie schon…?“

Hinz und Kunzt beim „Edelitaliener“

Von Monika Landsky

Gestern haben wir bei einem sogenannten Edelitaliener im vollbesetzten Garten zu Abend gegessen. Nach einiger Zeit kam ein Hinz und Kunzt (Hamburger Obdachlosen Zeitschrift) Verkäufer in den Garten. Er ging still und unaufdringlich von Tisch zu Tisch und zeigte das Heft, um es zu verkaufen. Er wurde kaum oder gar nicht beachtet. Endlich wurden ihm an zwei  Tischen jeweils ein Heft abgekauft. Wir haben es ebenfalls gekauft und ihm geschenkt, damit er es nochmals verkaufen kann. Damit zollt man ihm mehr Achtung, als wenn man ihm so Geld in die Hand drückt. Continue reading „Hinz und Kunzt beim „Edelitaliener““

Rinnen muss der Schweiß

Von Uta Buhr

Welcher Mensch – wie prominent auch immer – würde sich heute noch trauen, das Winston Churchill zugeschriebene Diktum „No sports,  please“ öffentlich zu äußern? Auch wer jeder körperlichen Ertüchtigung abhold ist, gibt sich betont sportlich, weil sich das nun einmal so gehört. „Wenn du wüsstest, wie ich dieses stupide tägliche Gejogge hasse und wie mir das Training in meinem Fitnessstudio auf den Geist geht“, seufzt ein Freund. Auf meine Frage, warum er es dann nicht einfach lasse, reagiert er fast hysterisch: „Du hast Nerven! Das kann man doch nicht, wo doch alle Welt auf Fitness macht.“

Da schinden sich täglich Tausende mit Hanteln, auf Laufbändern oder  hochtourigen Rädern. Schweißüberströmt und mit vor Anstrengung verzerrten Gesichtern absolvieren sie ihr Pensum. Spaß zu haben scheint auch gar nicht das Anliegen der meisten zu sein. Das Wichtigste, sagt die keuchende Frau auf dem Fahrrad, ist den inneren Schweinehund zu bekämpfen und am Ende des Trainings vollkommen ausgepumpt zu sein. „Das geht echt an die Substanz. Das ist so eine Art Selbstkasteiung. Aber man wird topfit uralt“, triumphiert sie und tritt noch kräftiger in die Pedale. Continue reading „Rinnen muss der Schweiß“

Reisezeit ist immer…

erschienen im Hamburger Abendblatt am 22.Juli 2010

Von Johanna R.Wöhlke

So, der Sommer ist da. Die Ferien sind da. Reisen ist angesagt. Unterwegs sein ist fast zur Pflicht geworden in unserer Gesellschaft. Wir sind in der nur als wunderbar zu benennenden Lage, die Welt wahrnehmen zu können – und das nicht nur aus Büchern. Wir können reisen, erleben, kennenlernen, das Fremde in Gedanken mit nach Hause nehmen. Bis hierhin war alles ernst gemeint – nun kommen leicht skurrile Gedanken. Continue reading „Reisezeit ist immer…“

Wie in antiken Tragödien

Gemälde für Blinde des deutschen Malers Horst W. Müller
Von Hans- Peter Kurr; Bilder: Horst W. Müller

Im November endlich wird eine Ausstellung seiner Bilder für Blinde in Hamburg zu sehen sein: Die beträchtliche Sammlung des in USA lebenden Malers Horst W. Müller als Gesamtwerk wird  das “ Logenhaus an der Welckerstrasse“ im Zentrum der Hansestadt, nicht weit entfernt vom Gänsemarkt, zeigen.
Unser Mitglied, der Regisseur Hans-Peter Kurr, durfte bei der Auswahl der Motive mitwirken und kommentiert das Oeuvre des Malers:
Wenn in USA erschienene Würdigungen der Werke Horst W. Müllers seine Bilder als Bas-reliefs apostrophieren, so ist dies, kritisch besehen, nur begrenzt zutreffend. Denn: Müller gräbt seine Illsutrationen nicht, wie etwa bei den Grabwand-Dekorationen der ägyptischen Antike, in eine Grundfläche, sondern „verdichtet“ jene mit einem Gipsgemisch ( dessen detaillierte „Legierung“ sein Gehemnis bleibt!) um ein Mehrfaches und spachtelt, ritzt, sägt, instrumentiert seine eigenen Hände zum Werkzeug, Continue reading „Wie in antiken Tragödien“

Ein Mann mit vielen Talenten – Hans-Peter Kurr

In loser Folge stellen wir Mitglieder der Auswärtigen Presse e.V. vor, deren Vita besonders interessant ist.

Von Uta Buhr

Mit Hannelore Droege in "Der Biberpelz" von Gerhart Hauptmann

Bei diesem Mann drängen sich automatisch Vergleiche mit der Bibel und den Mythen der alten Griechen auf. Hätten laute Trompetenstöße  die wehrhaften Mauern der Stadt Jericho im Heiligen Land nicht zum Einstürzen gebracht, wäre dies der  Donnerstimme eines Hans-Peter Kurr mit Sicherheit spielend gelungen. Jene, die weiland die Trompeten bliesen, sind uns namentlich nicht geläufig, doch der Name des so ungemein wandlungsfähigen Proteus ist uns bekannt. Der allwissende, weissagende Meergeist der Danaer war in der Lage, ständig – je nach Gusto – seine Gestalt zu verändern.

Und da sind wir auch schon mitten im Thema. Ob Hans-Peter Kurr der Weissagung mächtig ist, wissen wir  nicht. Doch als Schauspieler erfindet er sich fast täglich neu, schlüpft von einer Rolle in die nächste wie in eine fremde Haut. Sein Répertoire ist schier unerschöpflich. Tritt er als der Narr in Shakespeares „König Lear“ auf, ist er der Narr. Dasselbe gilt für den Totengräber im „Hamlet.“ Der Mime verschmilzt mit jeder seiner  Rollen. Doch er verkörpert nicht nur dramatische Rollen, sondern bewährt sich mit derselben Verve  im komödiantischen Fach. Wer ihn je in Gerhard Hauptmanns Diebeskomödie  „ Der Biberpelz“ erlebt hat, ist begeistert von seiner Vielseitigkeit und seinem  Spielwitz. Continue reading „Ein Mann mit vielen Talenten – Hans-Peter Kurr“

Großzügig verzichtet


Von Uta Buhr

Die heiße Phase des Sommers ist in vollem Schwange. Und das nicht nur meteorologisch. Der Sommerschlussverkauf – auf Neudeutsch Sale – schlägt hohe Wellen. In den Kaufhäusern wird die Lage zunehmend unübersichtlicher. Stoffballen liegen kreuz und quer auf langen Grabbeltischen. Das begehrte Täschchen zieht man nur mit Mühe aus den untersten Schichten eines Berges von Rucksäcken und Handtaschen hervor. „Haben Sie den Koffer bezahlt?“, ruft die Verkäuferin einer Dame nach. Sie hat und weist den Kassenbon etwas mürrisch vor. „Man blickt bei diesem Gewühl nicht mehr durch“, entschuldigt sich die Angestellte bei der Kundin. Heureka! In einer Ecke entdecke ich meinen Traumschuh.

Continue reading „Großzügig verzichtet“

Zurück in der Realität

erschienen im Hamburger Abendblatt am 17. Juli 2010

Von Uta Buhr

Just zurück aus dem Urlaub in einem gastfreundlichen südlichen Land, noch randvoll mit sonnigen Erinnerungen, betrete ich in Fuhlsbüttel wieder hanseatischen Boden. Im Gewimmel empfange ich Püffe von allen Seiten. Auch trampelt man mir unsanft auf meinen zart gebräunten Füßen herum. Eine Entschuldigung hält indes keiner für nötig. Als ich einem besonders eiligen Mitmenschen zu verstehen gebe, der Unterste sei meiner, tippt er sich an die Stirn. Mit deutschem Gruß. Spätestens jetzt weiß ich: Ich bin wieder zu Hause!

Den zweiten Schock erleide ich am Gepäckband. Das Flughafenpersonal in Südfrankreich ist mit meinem neuen  teuren Koffer ziemlich rüde umgegangen. Irgendjemand hat  ihn offenbar an eine frisch getünchte Mauer gestellt. Er ist mit weißen Farbflecken übersät. Lass dir nicht die gute Laune verderben, denke ich, wundere dich nur. Also auf zur Schadensaufnahme. In einer langen Schlange warte ich über eine halbe Stunde. Offenbar gibt es viele Beanstandungen und wenige Mitarbeiter. Continue reading „Zurück in der Realität“

Lass das erste Glas stehen

Von Günther Falbe

Sie stehen nicht in den Schlagzeilen und sind auch nicht bei den Talk-Shows im Fernsehen zu finden. Sie sind keine öffentlichen Personen und fungieren nicht als Berater in irgendwelchen Institutionen. Sie sind und bleiben anonym in einer freiwilligen Gemeinschaft ohne Zwänge, die ihre Hilfe allein im Gespräch bietet, zwischen Menschen, die das gleiche Schicksal haben: Sie sind Alkoholiker. Zwei Millionen Abhängige soll es allein in Deutschland geben, die Dunkelziffer ist unbekannt. Ihnen den Weg aus der Sucht anhand des eigenen Schicksals aufzuzeigen, ist die selbst gewählte Aufgabe der namenlosen Träger der weltweiten Gesellschaft der Anonymen Alkoholiker, die vor 75 Jahren in Ohio/USA gegründet wurde. Continue reading „Lass das erste Glas stehen“

Empfehlung: Heider Marktfrieden 2010

Sag dem König Gute Nacht

Noch bis Sonntag, den 18. Juli 2010

Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Gestern war auf Deutschlands größtem Marktplatz, dem Marktplatz in Heide, Premierentag für „Sag dem König Gute Nacht“. Dieses großartige Freilicht-Festspiel hat unser Mitglied Dagmar Kurr- Mensing inszeniert und Regie dabei geführt. Unser Mitglied Hans-Peter Kurr zeichnete in den Jahren davor für dieses Festspiel verantwortlich. Wir freuen uns, Ihnen diese beiden Mitglieder durch ihre künstlerische Arbeit noch einmal aktuell vorstellen zu können. Continue reading „Empfehlung: Heider Marktfrieden 2010“

Es hat sich gewaschen!

erschienen im Hamburger Abendblatt am 16. Juli 2010

Von Johanna R.Wöhlke

Was ist das für ein dummes Gewäsch, was ist das für ein leeres Gewäsch! So sagen wir manchmal. Allerdings müssen wir nun umdenken, denn Forscher bieten uns interessante Ergebnisse rund um das Waschen an, genauer gesagt, um das Händewaschen – kein leeres Gewäsch also. Continue reading „Es hat sich gewaschen!“

Früher war alles besser

Von Uta Buhr

„Das Wetter ist auch nicht mehr das, was es einmal war“, seufzt der weißhaarige Herr und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die gebeugte alte Dame neben ihm auf der Parkbank nickt zustimmend: „Ja, früher, als ich noch jung war, da waren doch die Sommer noch ganz anders. Viel gemäßigter. Und auch die Winter waren viel angenehmer als heute.“ „Nun seien Sie doch endlich mal zufrieden“, wirft  ein junger Jogger ein, der sich  schwer atmend neben den beiden Nörglern niederlässt. „Immer dieses Gemecker über das Wetter. Ist der Sommer kalt und regnerisch, schimpfen die Leute. Und jetzt, wo es endlich sommerlich warm ist, gefällt es vielen auch nicht.“ Continue reading „Früher war alles besser“

Unser Körper als Heizquelle

Von Johanna R. Wöhlke

erschienen im Hamburger Abendblatt am 12. Juli 2010

Es ist Sommer. Es ist warm. Es ist sehr warm! Wer denkt da schon an kalte Tage, an denen die Wohnung geheizt werden muss und die warmen Wollsocken parat liegen müssen. Die Kleider vom Leib, abkühlen – schwitzen ist schrecklich! Wer sich von Berufs wegen mit Wärme und Energie beschäftigt, denkt da anders. Der sieht wahrscheinlich in jedem schwitzenden und Wärme abgebenden Menschen etwas ganz anderes als ein sich nach Kühle sehnendes Wesen: Er sieht darin eine Heizquelle, ja, eine Heizquelle! Continue reading „Unser Körper als Heizquelle“