Wissen ist Macht

Über die Entstehung von Schauspielen

Von Hans-Peter Kurr

Will ein Autor Theaterstücke schreiben, um Menschen aufzurütteln, ihnen dringende Probleme vor Augen zu führen, sie auf soziale Missstände aufmerksam zu machen? Will er ein persönliches Anliegen auf der Bühne dargestellt sehen oder möchte er für einen Schauspieler oder eine Schauspielerin, die der Autor bewundert, eine „Traumrolle“ schreiben?

Was auch immer die Motive sind, eines sollte nicht fehlen: die Lust, Figuren zu erfinden. Aber das funktioniert nicht ohne Basiswissen, denn: Theaterstücke werden für Schauspieler und Zuschauer geschrieben. Also wollen wir, die Autoren, beide zunächst kennen lernen.

Schauspieler

„Stellen Sie sich vor: Sie sitzen jetzt im Zimmer oder liegen im Bett und lesen. Stehen Sie auf, gehen Sie ans Fenster, sehen Sie nach, ob es regnet, schließen Sie das Fenster und begeben Sie sich in die Ausgangsstellung. Das kann jeder, das ist doch einfach, das ist keine Kunst? Haben Sie’s versucht? Wirklich und tatsächlich? Tun Sie’s, bitte, denn Sie erfahren dadurch vieles über das Theater, was Ihre Parkett- und Galerieweisheit sich nicht träumen lässt. Versuchen Sie’s – dann erst lesen Sie weiter!So! Sitzen oder liegen Sie genauso wie vor dem Aufstehen? Ja? Sind Sie dessen ganz sicher? Sie wissen es nicht? Nun, dann merken Sie sich Ihre jetzige Stellung ganz genau. Und nun wiederholen Sie den Gang zum Fenster, aber spiegelbildlich gleich. Sie erinnern sich nicht mehr genau, ob Sie zuerst den Kopf in die Richtung zum Fenster gewendet haben und dann aufgestanden sind oder umgekehrt? Legen Sie’s jetzt genau fest – nein: stellen Sie sich vor, dass ein Regisseur es Ihnen vorschreibt. Und jetzt gehen Sie! Stellen Sie sich vor, dass dieser kleine unwichtige
Akt: aufstehen, gehen, schauen, Fenster schließen, zurück in die Ausgangsposition, nur ein unendlich kleiner Teil dessen ist, was der Schauspieler in seiner Rolle absolvieren muss. Und dass alles dies auf Grund von Überlegungen genau festliegt und mit dem Dialog und den Aktionen der Partner koordiniert werden muss und auch ein ganz bestimmtes Tempo zu haben hat. Und dass im Ernstfall ja auch nicht Sie zu gehen hätten, sondern jener, welchen Sie darstellen, und dass Danton anders geht als Buttler, Julia anders als Colombe …“(Hans Weigel „Masken, Mimen und Mimosen“)
Darüber hinaus ist ein Schauspieler meist, so merkwürdig das auch klingen mag, ein introvertierter Mensch, der sich extrovertiert gerieren muss, um seinen Beruf ausüben zu können. Seine Arbeit liegt nicht etwa darin, Text zu lernen – das ist eine selbstverständliche Voraussetzung für diesen Beruf -, sondern die von Ihnen erfundene Figur „darzustellen“.
Deshalb besteht ein beträchtlicher Teil der Probenwochen für den Schauspieler aus der Überwindung der Sorge, den darzustellenden Typ nicht zu „finden“. Das heißt, als eigene Person zu verschwinden und mit erlernten Mitteln die vom Autor erfundene Figur zu verlebendigen. Eine sehr schwere Aufgabe!

Zuschauer

„Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es mangelhaft finden sollte, abzustellen und verbessern zu lassen? Es komme nur und sehe und höre und prüfe und richte!
Seine Stimme soll nie geringschätzig verhört, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!“ (G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie) Ja, der Zuschauer. Er will auf der Bühne Geschichten von Menschen erleben, aus denen er lernen, in denen er sich wiedererkennen kann. Nach Brechts „Organon“ funktioniert dies am besten über den Weg der Unterhaltung, eingebettet in eine Gruppe Gleichinteressierter.
Und das ist seit der Antike so. Ehrenplätze nahmen die Mitglieder des Rats und die Epheben ein. Wo genau sich diese Plätze befanden, ist umstritten: Entweder verteilten sie sich in den unteren Rängen oder sie nahmen den gesamten mittleren Keil ein.
Die restlichen Bürger verteilten sich so weit als möglich auf den angrenzenden Plätzen. Ganz oben, eventuell auch ganz außen, saßen Ausländer, Sklaven sowie vermutlich Frauen und Knaben. Um 390 v. Chr. kann Platon den Sokrates in einem fiktiven Dialog sagen lassen: „Jetzt also haben wir eine Redekunst gefunden an ein solches Volk, aus Kindern zugleich und Weibern und Männern, aus Knechten und Freien.“

Menschen

„Das Theater ist kein Abbild des Lebens, sondern eine Kundgebung des Lebens und nicht eine kraftlose, alltägliche Kundgebung, sondern eine wahrhaft kraftvolle Bestätigung der Muskeln und Gefühle. Der Zuschauer befindet sich einem Dutzend kräftiger, losgelassener Gesellen gegenüber, die alles einsetzen, was sie an Herz und Lunge besitzen, um ihre menschliche Kraft zu üben, wobei sie noch von etwa dreißig riesigen Maschinisten in Hemdsärmeln hinter den Kulissen unterstützt werden, sowie von Kritikern und kräftigen Türschließerinnen. Man führt dem Beschauer
mancherlei erfundene Figuren vor, die jedoch alle mit einem vollständigen menschlichen Körper und Geschlecht begabt sind, und man lässt ihn bis zu den drei Hammerschlägen beim Heben des Vorhangs merken, dass man
in dieser angeblichen Zauberhöhle über wahrhaftige und schwere Werkzeuge, über Hammer und Meißel verfügt. Das Theater ist also keine Flucht aus dem Leben, sondern im Gegenteil Blüte und Knospe des Lebens selbst und außerdem das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit.
Wenn der Zuschauer es auch nicht nötig hat, diesen Tatendrang durch eigene Handlungen zu unterstützen oder mit eigener Beredsamkeit mitzusprechen, so nimmt er doch an der Debatte teil. Es ist übrigens sein eigenes Stück, das hier vorgeführt wird, von ihm selbst verfasst – es ist sein Zeitalter, seine eigene Argumentation, sein eigenes Gefühlsleben, seine eigene Alltäglichkeit, der Zuschauer hat seit jeher immer im Theater nur sich selbst applaudiert oder ausgepfiffen.“( Jean Giraudoux)
Wir wollen auf theatergeschichtliche Aspekte hier nicht ausführlich eingehen. Dennoch soll gesagt und stets wiederholt werden: „Wissen ist Macht.“ Gilt auch, wenn jemand sich als Autor betätigen will. Das darf kein „Hobby“ sein, das muss ernst genommen werden, denn: Der Schriftsteller ist Erfinder, Schreiber, Regisseur, Schauspieler-Double, Dramaturg – „nehmt alles nur in allem“ – zugleich. Wir kennen alle diese Bezeichnungen. Aber wer weiß
schon, was ein „Drama“ ist? Die Antwort ist: Die heilige Handlung ist ein Dromenon, das heißt etwas, was getan wird. „Was dargestellt wird, ist ein Drama, d. h. eine Handlung, gleichviel, ob die Handlung in der Form einer
Aufführung oder eines Wettkampfes vor sich geht. Sie stellt ein kosmisches Geschehen dar, aber nicht bloß als Repräsentation, sondern als Identifikation; sie wiederholt das Geschehene.
Der Kult bringt die Wirkung zustande, die in der Handlung bildhaft vorgeführt wird. Seine Funktion ist nicht bloß ein Nachahmen, sondern ein Anteilgeben oder Teilnehmen.“ (Huizinga „Homo ludens“)
Wissen sollte man auch, wie „Theater“ entstand. Die Antwort: Es ist kein Zufall, dass die Geburtsstunde des abendländischen Theaters in die gleiche Epoche fällt, in der von Griechenland aus das Fundament für die gesamte
abendländische Kultur gelegt wird.
Schon im Rahmen dieser Ouvertüre erweist sich das Theater als eines der integrierenden Elemente für den Kristallisationsprozess der kulturschöpferischen Kräfte. Das aber ist im Wandel aller Stilepochen und aller lebensgeschichtlichen Zeitalter Europas so geblieben.
Jedes Mal wieder nimmt das Theater an dem kaleidoskopartig sich verändernden Kristallisationsprozess der jeweiligen Kulturgestaltung Europas aktiven Anteil; in seiner zweitausendjährigen Kontinuität gehört es
immer neu zu den für jedes Kulturvolk notwendigen Ausdrucksformen des Selbsterkennens. Mehr noch: Jedes einzelne Kapitel aus der Theatergeschichte Europas beweist, das dieses „transitorische“ Kunstwerk des Theaters
mit all seiner spontanen, fast draufgängerischen Unmittelbarkeit der Erscheinungsform und seiner charakteristischen Gemeinschaftsleitung profilformende Kraft im Leben der Völker besitzt. Darüber hinaus verhilft das Theater den einzelnen Völkern zu einer Art Selbstinszenierung ihrer dauernden und wechselnden Wesenszüge.
Selbsterkennen, Repräsentanz gegenüber den anderen Völkern und völkerverbindender Brückenschlag werden in gleicher Weise aus diesen profilformenden Energien der theatralischen Selbstinszenierung gespeist.
Sie tragen damit viel bei zum Innewerden dessen, was uns, im Rückblick auf die letztvergangenen zweitausend Jahre, die verpflichtende Größe und Tradition Europa bedeutet.
Wieso ist die Urständ des abendländischen Theaters gerade mit Dionysos, dem Gott der schwellenden Triebkraft der Natur, dem Sohn des Zeus und der thebanischen Königstochter Semele, eng verbunden? Weil dieser „berauschende“ Frühlingsgott thrakisch-phrygischen Ursprungs ein „Lebensbringer“ ist, der, wie der Mythos berichtet, einst vom Meer her in Hellas einzog, und der seither alles ringsum in seinen Bann zwingt, so dass die ihm Hingegebenen in Ekstase geraten und für die Zeit dieses enthusiastischen Götterdienstes „die Hürde des Ich abwerfen“, um in Tiergestalt, als Böcke, Satyrn oder Silene, singend und musizierend, mit Masken ihre Verwandlung kennzeichnend, durchs Leben zu ziehen. „Sinnberückend und schauerlich zugleich“, zur Begeisterung entflammend und in alle Dämonien des Daseins unbarmherzig hinableuchtend – so steht das Bild des „Maskengottes“ vor uns, dessen letztes Geheimnis ewige Verwandlung ist.
Schon diese Eigenheiten einer späten, orgiastischen Gottheit erklären uns, wieso gerade aus dem Dionysos-Kult die Welt des Theaters hervorgehen musste – auch sie ein Organon unaufhörlicher Verwandlung; auch sie ein nur durch enthusiastische Hingabe, durch „Ekstasis“ zu erreichendes Land des Ewig-Lebendigen. „Dionysos ist freilich auch „Lysaios“, der alle seelischen Fesseln und Bedrängungen Lösende, der den Geist beflügelt: ein Gott der „begeisterten Gemütsbewegung“, der den Menschen in die Spannung zwischen Jubel und Schmerz, zwischen überschäumender, bis zum Skurrilen entfachender Lustbarkeit und tief bewegender Klage oder erschütterndem
Leid führt. (Heinz Kindermann „Theatergeschichte Europas) Gegenwart „Der Dramatiker herrscht über den Stoff nicht mehr absolut. Er ist durch die Bühne begrenzt.
Auf der Bühne ist nicht alles darstellbar. Der Dramatiker vermag nicht unmittelbar von innen heraus zu erzählen,
sondern nur mittelbar durch die Bühne. Er ist gezwungen, seine Geschöpfe von außen her durch ihr Reden, Handeln und Erleiden zu beschreiben und durch Schauspieler darstellen zu lassen. Er schreibt Rollen.“ (F. Dürrenmatt)

Ein Stück, in dem die Figuren kraus und viel reden, ist langatmig und wirkt unfreiwillig komisch. Der schlechte Dramatiker hat nämlich das Wichtigste seiner Kunst vergessen: dass er „Rollen“ schreibt, also auf das Können der
Schauspieler bauen kann und muss. Und eine gute Schauspielerin ist sehr wohl fähig, alles in einen Satz hineinzulegen – durch Betonung, Färbung der Stimme, Mimik, Gestik und Habitus.
Fassen wir also das zusammen, was einem Autor helfen soll, zu überprüfen, ob er wirklich ein Theaterstück schreiben sollte. Dazu drei prominente Meinungen zu den drei Hauptmotiven: „Diese böse, korrupte, unmoralische
Welt muss verändert werden, muss humanisiert werden. Das ist die gemeinsame dichterische Botschaft von Aischylos über Shakespeare bis Brecht und Martin Walser.
Solange es uns nicht gelingt, eine andere, eine bessere Welt herzustellen, bleibt diese Botschaft immanent. Nicht sie kann veralten, sondern nur die Ausdruckskraft, mit der sie hervorgebracht, mit der sie brisant gemacht wird.“ (Harry Buckwitz „Nekrolog auf einen Scheintoten“) „Ich stimme darin absolut zu, dass die Frage, was für Kunstmittel gewählt werden müssen, nur die Frage sein darf, wie wir Stückschreiber unser Publikum sozial aktivieren (in Schwung bringen) können. Alle nur denkbaren Kunstmittel, die dazu verhelfen, sollten wir, ob alte oder neue, zu diesem Zweck erproben. (B. Brecht: „Das kleine Organon“) „In der frühesten Kindheit des Menschen ist die Schauspielkunst entstanden. Der Mensch, in ein kurzes Dasein gesetzt, ist eine dicht gedrängte Fülle verschiedenartigster Menschen, die ihm so nahe und doch so unfassbar fern sind, hat eine unwiderstehliche
Lust, sich im Spiel seiner Phantasie von einer Gestalt in die andere, von einem Schicksal ins andere, von einem Affekt in den anderen zu stürzen. Die ihm eingeborenen, aber vom Leben nicht befruchteten Möglichkeiten
entfalten dabei ihre dunklen Schwingen und tragen ihn weit über sein Wissen hinaus in den Mittelpunkt wildfremder Geschehnisse.

Er erlebt alle Entzückungen der Verwandlung, alle Ekstasen der Leidenschaft, das ganze unbegreifliche Leben im Traum.“ (Max Reinhardt: „Über den Schauspieler“) Nachgedacht und nachdenken lassen über die Frage „Was ist Theater?“ haben viel kluge Autoren seit Menschengedenken und vor allem seit es „Theater“ gibt. Dafür zum
Schluss noch einmal der eingangs zitierte Wiener Kritiker und Theaterwissenschaftler Hans Weigel: „Was ein Theater ist, weiß ich: Ein Gebäude. Was aber ist Theater? Wie nähert man sich dem, was den einzelnen Gebäuden und ihren Aktivitäten gemeinsam ist: durch den großen Haupteingang? Durch den Bühneneingang?
Die Sprache sagt, dass einer ‚ins Theater‘ geht, der dort nur kurze Zeit als Gast verbringt. Wer sich aber  lebenslänglich dem Theater ausliefert, der geht ‚zum Theater’, also nur auf es zu, an es heran.
Sind die Gäste mit dem Haus inniger verbunden als die Hausherren? Wir sagen im Süden des Gebiets, wo deutsch
gesprochen wird: ‚Das ist ein Theater!’ und meinen damit nicht das Gebäude und sein Wirken, sondern einen Spaß. Ist Theater mit Spaß identisch? Wir sagen: ‚Das ist ein Theater!’ und lachen, wenn Ehemänner betrogen werden, Menschen stolpern, hinfallen, einander auf den Kopf hauen oder mit cremigen Torten bewerfen. Das alles ist für die Betroffenen peinlich, schmerzlich oder tragisch, für uns ist es ‚ein Theater’. Besteht Theater in der Überwindung der bösen Wirklichkeit durch das Lachen?
Im Norden des Gebiets, wo deutsch gesprochen wird, meint man, dass einer ‚Theater macht’, wenn er nicht überzeugend, nicht wahrhaftig auf seine Umgebung wirkt, sondern gespreizt, äußerlich, übertrieben. Besteht
Theater in der Vortäuschung von Gefühlen, Stimmungen und Gesinnungen?
Ich habe ein halbes Leben mit dem Theater verbracht, ich liebe das Theater mit allen Symptomen der beseligend quälenden, erfüllend verderbenden großen Leidenschaft – diese Liebe, verschwendet in der kleinen Münze alltäglicher Reibung, missverstanden in der scheinbar zerstörenden, doch in Wahrheit nur Ordnung herstellenden Theaterkritik, diese Liebe will nun in einer gesammelten, umfassenden Liebeserklärung Gestalt gewinnen und findet keine Adresse.“ (Hans Weigel „Was ist Theater“)