von Hartmuth Seitz
Hier geht sowieso alles den Bach runter
Vor 25 Jahren fiel bekanntlich die Grenze zur damaligen DDR. Das war der Grund, endlich einmal ohne Herzklopfen, ohne langwierige Grenzkontrollen, meine Geburtsstadt und die Geburtsstätten einiger unserer Teddys und Puppen aufzusuchen. Die hatten sich Dank der thüringischen Verwandtschaft – oftmals als „Bückware“ erworben und somit ohne offizielles „Ausreisevisum“ – auf den beschwerlichen Weg in den Westen gemacht. Bückware – man erinnert sich – das war die Ware, die zur Zeit der Grenzziehung nicht nur bei unseren Besuchen rund um Eisenach unter dem Ladentisch hervorgezaubert wurde.
Vor 25 Jahren war es nun erstmals für uns ein Leichtes, die legendäre Spielzeugstadt Sonneberg zu besuchen. Puppen und Teddys aus Sonneberger Produktion verließen bekanntlich vor der Maueröffnung in Massen die riesigen Produktionshallen. Im Stammbetrieb arbeiteten 1600 Menschen, dazu kamen mehr als 200 Heimarbeiter aus den Zulieferbetrieben des Umlandes. Fast 70 % der gesamten Produktion gingen in den Export.
Mit der Wende änderte sich in Sonneberg Vieles. Das war in den Straßenzeilen direkt abzulesen. Unser Besuch bei der Firma „Sonni Sonneberg“ war für uns damals ein Muss. Der Blick hinter die Türen der Gebäude wurde durch Aufbruchsstimmung getrübt – nein, es herrschte Abbruchstimmung. Eine ob unseres Besuches doch erstaunte Mitarbeiterin gab uns die Gelegenheit, einen Blick in Sonnis Musterzimmer zu werfen. Die Regale wiesen erhebliche Lücken auf. Nein, momentan wäre nicht klar, wie es weiterginge, wer die Firma nun zu welchen Konditionen übernehmen würde. Zeitlich gesehen war dies die Zeit des Umbruchs, der nach einigen Umbruchversuchen 2005 in einem Abbruch endetet. Das endgültige Aus für ein Unternehmen, das auf jahrhundertelange Tradition verweisen konnte.
Gut dass unsere Spurensuche rechtzeitig stattgefunden hatte. In einer der Vitrinen saß er – der letzte Sonni Teddy. „Nehmen Sie ihn mit, hier geht sowieso alles den Bach runter.“ Das war eine deutliche Aufforderung. Und so tauschte der letzte DDR-Teddy der Marke „Sonni Sonneberg“ seinen Vitrinenplatz in Sonneberg. Getauft auf „VEB sonni Sonneberg“, Made in GDR, war schon eine handschriftliche Namensänderung erfolgt.: „sonni Spielwaren GmbH“.
Sonneberg, nur wenige Häuser weiter, ein ganz anderes Bild: Hier war der Versuch gestartet worden, das sich Auflösende weiter zu führen. „Plüti nova Sonneberg – Made in Germany – diesmal nicht handberichtigt, sondern gedruckt.“ Plüti Nova Nummer 001“ ist Sonni Sonnebergs Kumpel. Vergangenheit und Gegenwart an einem Tag.
Bei uns haben die beiden im Übrigen viele Kumpels wieder getroffen. Einer davon ist der „Sonneberger Klöß Bär“ aus der Reihe der Hermann-Anekdotenbären. Er stammt nicht aus Sonneberg, sondern aus dem westlichen Pendant Coburg-Cortendorf. Mit diesem Bären der Firma Hermann (Coburg-Cortendorf) wird eine Begebenheit des frühen Max Hermann erzählt: Über die Sitte des Klößezählens wäre es fast zu einem Abbruch der Geschäftsbeziehung zwischen Hermann und der Kaufhaus-Kette Karstadt gekommen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nun die Klöße…
Das Besondere an diesem Bären ist seine „Beigabe“ – ein Kloßrezept aus dem Jahre 1922. Damit kommen wir zu einem anderen Aspekt der Erinnerungen. Klöße haben bei uns – nicht nur zu Feiertagen – eine lange Tradition. Heute nimmt man Kloßteig aus der Plastiktüte, forme ihn und bereite Klöße zu. Natürlich schmecken auch die Klöße. Doch „richtige Klöße“ der Kategorien „Rohe Klöße“ oder „Klöße Halb und Halb“ müssen von Hand gerieben werden. Und dazu benötigt man natürlich eine Kartoffelreibe und eine Kartoffelpresse. Bei von Hand geriebenen Kartoffeln fließt, falls man nicht aufpasst, selbstverständlich Blut – und geflucht wird ob der körperlichen Anstrengung auch. Die Reibekartoffeln werden also mit oder ohne Blutzusatz in lauwarmes Wasser gerieben, mit lauwarmen Wasser zweimal abwässert und im Sack durch die Presse vollständig trocken auspresst. Nach mehr als 50 Jahren Einsatz weisen Presse und Reibe deutliche Gebrauchsspuren auf.
Nur, wenn Presse und Reibe, seit mehr als 50 Jahren im Einsatz sind, leiden auch sie unter Abnutzungsspuren. Jetzt ist es kein Problem, geeignete Handreiben zu finden, schwieriger wird es schon bei der entsprechenden Presse nebst Säckchen. Papa Hermann wusste schon, was er seinem Gast vorsetzte. Familie Hermann hatte nicht nur das richtige Rezept, sondern auch das richtige Handwerkszeug. Ich habe lange nach entsprechendem „Werkzeug“ gesucht. Dank moderner Informationstechnik bin ich fündig geworden – wieder in Thüringen.
Und damit schließt sich der Kreis.
Übrigens, das Sonneberger Schaubild für die Weltausstellung in Brüssel, die Thüringer Kirmes, steht im Sonneberger Spielzeugmuseum. Gut, dass wir unser letztes Sonneberger Original vor den verfallenden Lagerhallen des ehemals größten Spielwarenherstellers der DDR „gerettet“ haben.
Fotos: Seitz