„The Invisible Hand“ von Ayad Akhtar, die neue Premiere am ETH

Nun mach’s schon, sag‘ mir die Wahrheit!

Dieses Geiseldrama des Pulitzerpreis-Gewinners Ayad Akhtar hält das Publikum des English Theatre of Hamburg zwei Stunden lang in Hochspannung. Ganz großes Theater!

Der schottische Moralphilosoph und Aufklärer Adam Smith (1723 bis 1790) war ein Verfechter des freien Marktes. Nachfolgend seine Definition: „Wenn Einzelpersonen ihren eigenen Interessen nachgehen, fördern sie oft das Gemeinwohl, auch wenn sie dies nicht beabsichtigen. Ein klassisches Beispiel für die unsichtbare Hand ist der freie Markt.“

Auf Gedeih und Verderb

Die Handlung spielt irgendwo in Pakistan. Der junge amerikanische Banker Nick Bright (Lee White) wird von islamischen Dschihadisten in einem finsteren Kellerloch gefangen gehalten, in das sich nur selten ein Sonnenstrahl  stiehlt. Nick hatte das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Zudem wurde er mit seinem Boss von der Citibank verwechselt. Aber was ist wertvoller als eine Geisel, für deren Freilassung man zehn Millionen Dollar erpressen kann. Da die Bank das eherne Prinzip vertritt, auf keinen Fall mit Terroristen zu verhandeln, befindet sich Nick in einer ausweglosen Lage. Was also tun?

Dar bewacht Nick in seiner Zelle

Während Explosionen die Mauern des Verlieses erzittern lassen, gibt Nick Dar (Aliyaan Asif), seinem etwas schlichten, aber schwer bewaffneten Wächter, Tipps, wie er den Seinen zu einer gewinnbringenden Kartoffelernte verhelfen kann. Dies hat zu einer kumpelhaften Beziehung zwischen beiden Männern geführt. Die Situation verändert sich jedoch schlagartig, als Bashir (Ismail Khan), ein führendes Mitglied der militanten Gruppe, den Raum betritt. Als er von Dars Geschäften erfährt, rastet er aus und schlägt ihn zu Boden. Wie kann er es wagen, dem westlichen Kapitalismus zu frönen und sich gegen Allahs strenge Gesetze zu vergehen?

Bashir beschuldigt Nick, er und seine Bank arbeiteten eng mit einem korrupten pakistanischen Lokalpolitiker zusammen, der die Wasserversorgung privatisieren und somit dem Volk das kostbare Nass entziehen wolle. Nicks Dementi ist nicht hilfreich. Ganz im Gegenteil. Bashir erinnert ihn daran, dass seine Leute nicht davor zurückschrecken würden, ihn „einen Kopf kürzer“ zu machen, wie es vor Jahren seinem unglücklichen Landsmann Daniel Pearl widerfuhr. Als Nick einen Nagelknipser am Boden entdeckt, den Dar versehentlich fallen ließ, hebt er ihn auf. Man weiß ja nie, wofür sein solches Werkzeug nützlich sein kann.

Auch ein Video von Nicks Frau, die die Entführer unter Tränen anfleht, ihren Mann frei zu lassen, fruchtet nicht. Bashir informiert Nick, dass alle Verhandlungsversuche fehlgeschlagen seien, weil die amerikanische Regierung Imam Saleem (Rohit Gokani), den hochverehrten religiösen Führer der Gruppe, auf die Liste der Terroristen gesetzt habe.

Eine clevere Überlebensstrategie

Nick verfügt nicht nur über einen scharfen Verstand, sondern kennt sich zudem bestens in den Mechanismen der globalen Finanzmärkte sowie der pakistanischen Terminbörse aus. In seinem unbändigen Überlebenswillen bietet er seinen Entführern an, sein Lösegeld höchstselbst zu verdienen, indem er den Markt manipuliert. Immerhin hat er auf diese Weise unlängst einer hochkarätigen pakistanischen Finanzgruppe einen Gewinn von zwanzig Millionen Dollar beschert. Beeindruckt von dieser Leistung, stimmt Bashir Nicks Vorschlag zu, ihn die Summe für seine Freilassung an der Börse verdienen zu lassen.

Imam Saleem behauptet, die pakistanische Gesellschaft sei die Gefangene eines durch und durch korrupten Systems. Man habe Nick aus dem einzigen Grunde entführt, um das Lösegeld zum Wohlergehen der lokalen Bevölkerung einzusetzen. Er bekäme einen PC zur Verfügung gestellt, den jedoch nur Bashir berühren dürfe. Daraus ergebe sich eine echte Win-Win-Situation, denn Bashir würde lernen, einen Computer zu bedienen und gleichzeitig Geld zum Wohl des Volkes generieren.

Na sowas, keiner auf der Straße

Allein in seiner Zelle, wagt Nick einen Blick durch sein hoch gelegenes vergittertes Fenster. Draußen ist es stockfinster, und nur das gelegentliche Bellen eines streunenden Hundes zerreißt die Stille. Mit dem aufgelesenen Nagelknipser beginnt er ein sich ständig vergrößerndes Loch in die Wand zu kratzen.

Inzwischen laufen die Börsengeschäfte dank Nicks Expertise mehr als zufriedenstellend. Das Verhältnis zwischen Nick und Bashir entspannt sich. Als Nick feststellt, dass 400.000 Dollar vom Lösegeldkonto verschwunden sind, wird er von Bashir aufgeklärt, Imam Saleem habe die Summe abgehoben, um Impfstoff für die Kinder seiner Gemeinde zu kaufen. Dadurch ist Nicks Lösegeld erheblich geschrumpft. Er ist empört, beherrscht sich aber, um seine Entführer nicht zu provozieren.

Nick ist es endlich gelungen, das Loch in der Mauer erheblich zu vergrößern, sodass er mühelos ins Freie gelangen kann.  Fünf Wochen später wird er jedoch von seinen Entführern aufgespürt und in seine Zelle zurückgeführt. Diesmal zu brutal verschärften Haftbedingungen. Bashir hat in der Zwischenzeit sehr viel über die Aktivitäten an den internationalen Börsen gelernt und entsprechende Artikel im Wirtschaftsteil der „Financial Times“ gelesen. Auch Nicks Doktorarbeit über das Bretton-Woods-Abkommen hat er mit Gewinn studiert. Kein Zweifel, die Geisel besitzt einen hohen Stellenwert.

Ist Imam Saleem zu trauen?

Bashir und Dar hegen den Verdacht, dass ihr hochverehrter Imam einen Immobilienkauf ins Auge gefasst hat. Wozu sonst war er bei einem Makler, der teure Häuser anbietet? Und in der Tat, das gesamte Lösegeld ist wie von Zauberhand vom Konto verschwunden. Bashir hatte die ehrliche Absicht, das Geld den armen Leuten seiner Gemeinde zugute kommen zu lassen. Und nun dieser Verrat! Mit einem Faustschlag  streckt Bashir den Imam zu Boden. Wenig später treffen ihn zwei Kugeln aus Dars Waffe, bevor der fromme Mann sein finales „Allahu Akbar“ murmeln kann.

Bashir im neuen Gewand

Drei Wochen lassen die Entführer Nick allein in seiner Zelle. In seiner totalen Verwahrlosung bietet er ein Bild des Jammers. Er reißt sämtliche Papiere mit den Börsenkursen von der Wand und lauscht den Gewehrsalven und Explosionen, die immer näherkommen. Ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen?

Du schuldest uns viel Geld.

Bashir hat inzwischen Imam Saleems Position als Führer der Gruppe übernommen und seinen Kampfanzug gegen ein feines goldbesticktes Gewand getauscht. Er fühlt sich offensichtlich in seiner neuen Rolle wohl. Andächtig verliest er einen Artikel aus der Times, der sich mit dem jährlichen Treffen der pakistanischen Zentralbanker befasst. Am Donnerstag detonierte eine Bombe in der Bank und riss sämtliche Vorstandmitglieder in den Tod. Das Resultat: Die pakistanische Rupie befindet sich im freien Fall. Hallelujah!

Nick, der Börsenguru, hatte recht. Mit dem Wertverfall einer Währung lässt sich ein Vermögen machen. Der gläubige, angeblich nur am Wohl seiner Landsleute interessierte
Bashir freut sich über seinen neuen Kontostand von 35 Millionen Dollar!  Das Beste aber: Die Zeit ist endlich reif für eine Revolution! Er bedankt sich herzlich bei Nick, der ihm mit seinem Wissen so tatkräftig bei der Umsetzung seiner umstürzlerischen Ideen behilflich war. Mit Dar im Schlepptau verlässt er die Zelle, ohne die Tür hinter sich zu schließen…

Fragen über Fragen

Was wurde aus Nick, unserem Helden in schimmernder Rüstung, der sich trotz aller widrigen Umstände dank seines wachen Verstandes so tapfer schlug? Wurde er auf der Stelle aus seinem Verlies in die Freiheit entlassen und mit Ehrenbekundungen, Preisen und klingender Münze überschüttet? Das, liebe Zuschauer, müssen Sie selbst herausfinden. Freuen Sie sich auf einen spannenden Schlussakkord.

Fazit: „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles. Ach, wir Armen!“ Gretchens Klage aus Goethes „Faust“.

Warnung! Dieses Geiseldrama ist nichts für schwache Nerven. Es lässt keinen kalt. Allein das finstere Kellerloch, in dem Nick, die unglückliche Geisel, gefangen gehalten wird, geht an die Nieren. Das Damoklesschwert hängt tief über Nicks Kopf. Mit dem schwer bewaffneten Gefängniswärter Dar ist trotz seines etwas kindlich naiv wirkenden Auftritts nicht zu spaßen. Während er mit dem Gefangenen freundlich spricht, hält er seine schussbereite Waffe stets im Anschlag.

Dem Zuschauer bleibt in diesem Stück keine Brutalität erspart. Da wird geprügelt, auf hinterhältigste Weise intrigiert und sogar gemordet. Hinzu kommen Scheinhinrichtungen, die unter die Haut gehen.

Gibt es etwas Feigeres und Unmenschlicheres als Geiselnahmen? Das Opfer ist seinen Entführern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ein falsches Wort oder eine unbedachte Geste entscheiden innerhalb von Sekunden über Leben und Tod. Nick Bright ist sich seiner prekären Lage in jeder Sekunde bewusst. Da er von seinen Vorgesetzten  offenkundig keine Hilfe erwarten darf, kämpft er auf einsamem Posten mit den Mitteln des Verstandes um sein nacktes Leben. Erinnert dieses Szenario nicht an das Schicksal der Scheherazade aus der Märchensammlung „1001 Nacht“, in der die schöne Frau eines rachsüchtigen Sultans ihr Leben rettet, indem sie ihren Herrn und Gebieter jede Nacht mit einer neuen Erzählung erfreut?

Der Fortgang des Dramas enthüllt schonungslos die Gier und Verlogenheit der Entführer. Ging es ihnen nach eigenen Angaben doch ausschließlich um die hehren Gesetze des Islam, die den Gläubigen verbieten, Gewinn in Form von Zinsen aus ihrem Kapital zu erzielen! Da sei Allah vor! Doch pecunia non olet – Geld stinkt nicht.  Auch hier gilt wieder das weise Wort George Orwells, dass alle Menschen gleich sind, aber manche eben gleicher. Was spricht also dagegen, dass der über jeden Zweifel erhabene Imam Saleem ein paar Dollar – realiter zunächst 400.000 – aus Nicks 10 Millionen „Ablöse“ aus dem Konto abzieht, um diese Summe in ein schönes Haus für sich und seine Frau zu investieren?

Bashir, der andere gestrenge Hüter der islamischen Gesetze, ist zwar zunächst scheinheilig empört ob des Ungehorsams des Imams, ergreift jedoch die sich bietende Gelegenheit,  den lästigen Rivalen loszuwerden, indem er ihn von seinem Lakaien Dar qua Schusswaffe ins Jenseits befördern lässt. Denn auch Bashir hatte die ganze Zeit über Dollarnoten in den Augen. Letztlich hat es sich für ihn gelohnt. Aus den ursprünglich zehn Millionen Lösegeld ergeben sich summa summarum jetzt 35 Millionen Dollar. Und obendrauf – sozusagen als Zuckerl – kommt noch der heiß ersehnte Sturz der verhassten Regierung. Allahu Akbar – Allah sei Dank! Der einzige, der leer  ausgeht, ist Dar,  der in unterwürfiger Treue bis zum Schluss seine Pflicht gegenüber seinem Herrn und Meister erfüllt.  Der Volksmund meint dazu lapidar: „Ja, das ist der Gang der Welt. Der Gutgläubige wird stets geprellt.“

Und Nick, das unschuldige in die Mühlen der Trickser und Manipulatoren geratene Opfer, hat zumindest sein Leben für den Augenblick gerettet. Auch er war am Ende wie Dar nur der nützliche Idiot in diesem perfiden Spiel.

Auch diesmal lohnt es sich, Brechts berühmtes Diktum an den Schluss zu setzen: „Und so sehen wir betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Vielen Dank für einen ebenso spannenden wie nachhaltigen Theaterabend, über dem die sichtbare Hand Clifford Deans schwebte.

Eine unter die Haut gehende Inszenierung, die von einem Schauspieler-Quartett getragen wird, das seinesgleichen sucht! Während Lee Bright in der Opferrolle glänzte, gab Ismail Khan den angeblich tief gläubigen Moslem, der dem Glanz des Goldes nicht widerstehen kann. Rohit Gokani überzeugte als schlitzohriger Imam und Aliyaan Asif in der Rolle des gutgläubigen Dar.

 

Der amerikanisch-pakistanische Autor Ayad Akhtar soll nicht unerwähnt bleiben. Neben „The Invisible Hand“ brachte er andere bemerkenswerte Stücke wie „Disgraced“ „American Dervish“ und „The War Within“ auf die internationalen Bühnen.

„The Invisible Hand“ läuft bis einschließlich 1. November 2025 Tickets unter der Telefonnummer 040 – 227 70 89 oder online unter www.englishtheatre.de

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