Carpe diem! Stressfreie Tage auf „der Insel“

Der rote Felsen. Foto: Reimer Boy Eilers

Für meine friesische Großmutter Dede Wolff war Helgoland „das schönste Fleckchen Erde auf der Welt.“ Sie setzte regelmäßig aus ihrem heimatlichen Husum über und verbrachte ihre Sommerfrische, wie man seinerzeit noch sagte, auf „der Insel.“ Denn nirgendwo sonst sei die Luft so rein, das Wasser so klar und der Blick so weit, schwärmte sie und empfahl jedem in der Familie mindestens ein paar Tage im Jahr auf dem Roten Felsen. Rüm hart, klaar kiming“ lautet der berühmteste inselfriesische Wahlspruch: Reines Herz, weiter Horizont.

Eine Seefahrt, die ist lustig
Blick auf Helgoland vom Schiff aus. Foto: Reimer Boy Eilers

Oma hatte wie immer recht. Denn wir genossen wunderbare erholsame Urlaubstage auf Helgoland, sobald die Einheimischen wieder Gäste bei sich aufnehmen konnten. Die Unterkünfte waren seinerzeit noch sehr bescheiden. Doch das störte uns nicht. Das Abenteuer Helgoland begann bereits auf einem der Bäderschiffe, die wir an den Hamburger Landungsbrücken bestiegen. Nachdem ein lautes Tuten die Abfahrt verkündete, ging es los. Zunächst an den grünen Hängen der Elbe entlang und wenig später hinaus auf das offene Meer. Da herrschte Stimmung unter den Passagieren, mit denen wir aus voller Kehle „Eine Seefahrt, die ist lustig,“ sangen. Kam Wind auf, war es für manche an Bord vorbei mit lustig. Die gingen dann „Fische füttern“ und kehrten mit grünlichen Gesichtern zurück. Uns machte das bisschen Geschaukel nichts aus. Denn wir Hanseaten sind doch von Geburt an seefest, und das selbst bei Windstärke 10. Oder etwa nicht? Ein Erlebnis war das Ausbooten bei der Ankunft. Die Börteboote warteten bereits auf uns. Während wir behände hineinglitten, bedurften die „älteren Semester“ der Hilfe muskulöser Arme. „Nu mal ganz sutje. Eile mit Weile,“ beruhigten die Männer mit den Schiffermützen all jene, die sich nicht trauten und Angst hatten, über Bord zu gehen.

Die Seele baumeln lassen rund um die Lange Anna
Junger Basstölpel vor der „Langen Anna“, dem Wahrzeichen Helgolands. Das überwiegend weiße Gefieder ausgewachsener Vögel zeigen die Tiere erst ab einem Alter von ca. fünf Jahren. Foto: Reimer Boy Eilers.

Nachdem die Rucksäcke ausgepackt waren, stiegen wir die vielen Treppen zum Oberland hinauf. „Mal nachsehen, ob die Lange Anna noch steht“, pflegte mein Bruder zu sagen. Nachdem dies geklärt war und wir dem fast 50 Meter hohen Steinkoloss an der Nordmole unsere Reverenz erwiesen hatten, ging es unverzüglich auf die Düne. Auf diesem kilometerlangen schneeweißen Sandstrand aalten wir uns in der Sonne und schwammen mit unseren Freunden um die Wette. Zuweilen auch mit den Seehunden. Einmal wurde mein Bruder von einem besonders großen Kaliber gebissen. Tja, die ansonsten sanften Riesen mögen es gar nicht, wenn man sie zwickt. Also immer Abstand halten. Dann kommt man gut mit ihnen aus. Abends kehrten wir todmüde in unsere Unterkunft zurück, in der die Wirtin uns köstlichen fangfrischen Fisch servierte. Unbeschwerte Ferientage, an die ich noch immer voller Nostalgie zurückdenke.

Wat mutt, dat mutt – Halunder krempeln die Ärmel hoch

Die Engländer hatten sich nach 1945 vergeblich bemüht, „hell-go-land“ in der Nordsee zu versenken. Die Insel – eine Friesin von echtem Schrot und Korn – überstand die Bombardements, und die Halunder begannen zügig mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat, nachdem sie diese 1952 wieder in Besitz nehmen konnten. Zwar entstanden in der Folgezeit keine Prachtbauten und eleganten Villen, die einst den Charme der Insel ausmachten. Eine alte Insulanerin erinnerte sich vor Jahren noch voller Wehmut an das einzigartig schöne Kurhaus, das heute nur noch auf vergilbten Postkarten zu bewundern ist. „Wat vorbi is, is vorbi“, seufzte sie. Tempi passati.
Die Insulaner sind pragmatische Menschen, die immer schon im Jetzt und Heute lebten. Genau das bewiesen sie, als sie in den frühen Fünfzigern in die Hände spuckten und ihre Insel neu erstehen ließen, auf der nach den Zerstörungen kein Stein auf dem anderen mehr stand. Inzwischen haben sich alle an die neue Bauweise gewöhnt, die in ihrer schlichten Zweckmäßigkeit an die Architektur des Bauhauses erinnert. Die seit geraumer Zeit unter Denkmalschutz stehenden Gebäude, über die hochmütige Städter einst die Nase rümpften, erhielten einen Anstrich in leuchtenden Farben. Mit ihren blumengeschmückten Balkons und Fenstersimsen wirken sie adrett und einladend. In den ostereierbunten Hummerbuden, die wie Perlen auf einer Schnur die Uferpromenade zieren, sind heute Galerien, kleine Läden und Imbisse untergebracht, die Fischbrötchen und andere Leckereien anbieten.

Anpassung an die sich verändernden Verhältnisse lautet das Zauberwort
Zwei Robben am Strand von Helgoland. Foto: Reimer Boy Eilers

Sagen wir es gerade heraus. Was wäre Helgoland ohne den visionären Hotelier und „Entwickler“ Detlev Rickmers? Der agile Mann im besten Alter entstammt einer alteingesessenen Helgoländer Familie, deren Wurzeln bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Diese Tradition verpflichtet. „Rickmers Insulaner“, das erste Haus und „Vollhotel“ am Platze, erfreut sich seit seiner Entstehung größter Beliebtheit bei den Touristen. Die Zimmer sind freundlich und komfortabel ausgestattet, der Service erstklassig. Beeindruckend ist die Kunstgalerie im Erdgeschoss mit ihrer Vielzahl an Helgoland-Gemälden bekannter Künstler, die der Hausherr gern seinen Gästen zeigt. Detlev Rickmers betreibt in seiner Funktion als Gesellschafter der Rickmers Hotelbetriebs KG auf der Insel 23 Vermietungsobjekte, die insgesamt 260 Zimmer umfassen. Für das Jahr 2022 rechnet er trotz der Corona-Maßnahmen, die auch Helgoland empfindlich trafen, mit einem Umsatz von zehn Millionen Euro. Chapeau! Angesichts der Klagen vieler Hoteliers ist dies eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht.

Rickmers weist stets auf die Geschichte der Insel mit ihren vielen Brüchen unter verschiedenen „Besatzern“ hin. Eine Zeitlang hatten die Dänen das Sagen, dann die Briten und schließlich das Deutsche Reich unter Wilhelm Zwo, der die Insel 1890 gegen die britische Oberhoheit über das ostafrikanische Sansibar und Witu tauschte. In erster Linie ging es um die Handelsrechte in Ostafrika. Ein ganz schlechtes Geschäft in den Augen des seinerzeitigen Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck, der mit bissiger Ironie kommentierte, Seine Majestät habe eine Hose gegen einen Knopf getauscht.

Die bunten Hummerbuden, ehemalige Schuppen und Werkstätten der Fischer von Helgoland, befinden sich an der Hafenstraße am Binnenhafen des Unterlandes. Foto: Reimer Boy Eilers

Die Halunder mussten sich stets neu erfinden und sich an die wie auch immer schwierigen Zeitläufte anpassen. Wer die zauberhafte „Historie von der schönen Insel Helgoland“ des berühmten Kinderbuchautors James Krüss gelesen hat, der ganz nebenbei Detlev Rickmers‘ Onkel war, weiß, wovon die Rede ist. Denn die Insel durchlief im Laufe ihrer langen bis in die Steinzeit zurückreichenden Geschichte Phasen des Wohlstandes und bitterer Armut. Waren die Netze mit Heringen gut gefüllt, ging es den Insulanern gut. Zogen die Schwärme sich aus unerfindlichen Gründen zurück, mussten die Gürtel enger geschnallt werden. So spielt das Leben.

Zurück ins Jetzt und Heute

Während andere Hoteliers in der Zeit der Pandemie jammerten, investierte Detlev Rickmers in den letzten zwei Jahren 12 Millionen Euro in sein Unternehmen. Ein mutiger Schritt, der sich auszahlt. Mit den „Storytels“ Häusern ist ihm ein großer Wurf gelungen. Sie alle erzählen, wie der Name sagt, eine eigene Geschichte. Die Sujets umfassen u.a. Architektur, Segelsport und Themen der Zeitgeschichte. Besonders originell ist das im Stil der fünfziger Jahre eingerichtete „Storytels“ mit den typischen Nierentischchen, plüschigen Cocktailsesseln sowie kitschig gerahmten Spiegeln, bei deren Anblick man „sehkrank“ werden kann. Das der Literatur geweihte Haus hoch oben auf den Hummerklippen ist eine Hommage an James Krüss. Erwähnenswert sind noch die in verschiedenen Häusern untergebrachten „Hochsee-Apartments“, 1-Zimmer-Objekte sowie Ferienwohnungen, die auf den drei „Etagen“ der Insel – Unter-, Mittel- und Oberland – liegen.

Das Beste aus dem Lockdown gemacht
De Helgoländer Düne. Foto: Reimer Boy Eilers

Während des bundesweiten Lockdowns brachten viele Insulaner all das in Ordnung, wozu während der Saison einfach die Zeit fehlte. Hierzu gehört auch das Insel-Museum in der Nordseehalle. Das einst triste Kabinett mit einer Ansammlung verstaubter Objekte wurde in einen übersichtlich strukturierten „Showroom“ mit einer Vielzahl interessanter Exponate umgestaltet. Auf der in mystisches Halbdunkel getauchten Fläche wird die Historie Helgolands anschaulich dargestellt. Die gedämpfte Ausleuchtung spiegelt den Inselcharakter perfekt wider. Denn lag nicht von jeher etwas Mystisches über diesem Buntsteinfelsen, den die Römer während ihrer Eroberungszüge aus respektvoller Entfernung betrachteten? Der Geschichtsschreiber Plinius erwähnt in seinen Schriften einen weithin leuchtenden „Heiligen Hain“ mitten im Meer. Klaus Störtebeker sah die Insel wesentlich pragmatischer als Versteck für die Beute, die er und seine Likedeeler vorbeifahrenden Schiffen „abgenommen“ hatten.
Das Museum rückt einige prominente Persönlichkeiten mit Schautafeln in den Fokus, die Helgoland im 19. Jahrhundert besuchten. Der Weltreisende und Entdecker Alexander von Humboldt gehört ebenso in diese Reihe wie August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Heinrich Heine, der „göttliche Spötter“, der den Friesen Fischblut in den Adern attestierte und ihren Tee als eine Brühe aus Seewasser bezeichnete. Hoffmann von Fallersleben hingegen fand Gefallen an den Halundern, zu denen er eine „Inselfahrt aus Liebeskummer“ unternahm, die ihn zu seinem „Lied der Deutschen“ inspirierte. Es wurde im Verlag Hoffmann & Campe publiziert, der auch die Werke Heines herausgab.

Fazit: All dies und mehr bietet der Rote Felsen, der heute so bequem mit dem Katamaran „Halunderjet“ zu erreichen ist. Da sitzt der Passagier in seinem Sessel, liest oder geht an Deck, lässt sich die würzige Nordseeluft um die Nase wehen und steigt entspannt an der Mole aus, wo er freundlich mit einem „Welkoam iip Lunn“ empfangen wird. Stress wie wir ihn gerade auf den Flughäfen und in überfüllten Zügen erleben, ist ein Fremdwort auf der Insel, die ihr größter Sohn James Krüss mit folgenden Worten besang: „Irgendwo ins grüne Meer hat ein Gott mit leichtem Pinsel, lächelnd wie von ungefähr, einen Fleck getupft – die Insel.“ Das ist Lyrik, die nachklingt wie Musik. Womit das Diktum von Tacitus „Frisia non cantat“ ein für alle Mal widerlegt ist!

 

Das Helgoland, der Höllensturz – Reimer Boy Eilers

PS: Als Urlaubslektüre ist neben der „Historie von der schönen Insel Helgoland“ von James Krüss das fast 600 Seiten starke Opus des gebürtigen Halunders und Fahrensmannes Reimer Boy Eilers „Das Helgoland – der Höllensturz“ zu empfehlen. In dem Buch, das im frühen 16. Jahrhundert spielt, geht es um einen holländischen Kapitän, der bei einem Absturz von einer Klippe im Oberland zu Tode kommt. Unfall oder Mord. Das ist hier die Frage. Eine spannende Lektüre, die in anschaulicher Weise das Leben auf dem Felsen vor fast 500 Jahren schildert. Es ist im Verlag „Kulturmaschinen“ erschienen und kostet 19 Euro.

ISBN-10 ‏ : ‎ 3967630579
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3967630572