„Sprechwerk“ Hamburg offeriert zwei ungewöhnliche Neu-Inszenierungen

Eine Subsummierung von Hans-Peter Kurr

Auf dem Weg in die Zukunft
Theater „Sprechwerk“ offeriert zwei ungewöhnliche Neu-Inszenierungen unter dem Gesamttitel „Wortgefechte“

Wortgefechte-Reihe im Sprechwerk Hamburg; Antarktis Urauffuehrung von Christina Kettering. Mit: Stephan Arweiler, Kristina Bremer, Ines Nieri, Tom Pidde. Regie: Friederike Barthel. Premiere , Foto Stefan Malzkorn

Nicht nur wohlwollende, sondern zumeist begeisterte Zuschauer konnte Hamburgs größtes Off-Theater mit dem Titulum „Sprechwerk“ seit Beginn seiner Geschichte im Jahr 2004 aufweisen. Damals entdeckte der Regisseur und Dramaturg Andreas Lübbers eine ehemalige Speditionshalle in Borgfeld, die zwischenzeitlich als Ausbildungsstätte für Bühnentechniker gedient hatte, als möglichen Spielort für in erster Linie aktuelle Neu-Produktionen zahlreicher in Hamburg arbeitender Freier Gruppen, die an der Klaus-Groth-Straße eine erste Heimat fanden.

Noch im selben Jahr stieß die Schauspielerin, Regisseurin und Kulturmanagerin Konstanze Ullmer, Tochter eines renommierten Hamburger Schauspielers, dazu, die heute – als Lübbers‘ Nachfolgerin – Intendantin des Sprechwerks ist. Als Höhepunkt der künstlerischen Arbeit dieses Duos galt bisher die zum Jubiläumsjahr 2014 von den zwei Fleißigen verfasste und von Ullmer – mit einer handvoll prächtiger Hamburger Schauspieler aus der Freien Szene – inszenierte Bühnenfassung von George Orwells Roman „1984“.

Unbestreitbar: Ebenso kühn wie erfolgreich als Eigeninszenierung des Hauses, die von der Kulturbehörde mit einer minimalen Summe gefördert worden war. Und dieser ungewöhnliche Erfolg führte für den Sommer 2015 dazu, Ullmer und Lübbers zu einem neuerlichen Doppel-Höhenflug zu veranlassen, indem sie zwei sensationelle Uraufführungs-Programme offerierten.

Christina Ketterings ANTARKTIS , ein „Gedankenexperiment über das Archivieren von Erinnerung“ in der Inszenierung von Friederike Barthel mit vier herausragenden Menschendarstellern (Ines Nieri, Kristina Bremer, Tom Pidde und Stephan Arweiler) sowie die Kombination von Salman Rushdis ( der bekanntermaßen seit 1989 von Irans Kirchenfürsten“ mit dem Tod bedroht wird ) „Satanischen Versen“ und dem „Liebeskonzil“ des deutschen Dichters Oskar Panizza, der bereits im 19. Jahrhundert die Geschichte erzählte, auf welche Weise durch einen Bund zwischen Gott und dem Teufel die schwere Sünden-Sühnung der Syphillis über die Menschheit hereinbrach…und dafür von einem irdischen Gericht zu einem Jahr Festungshaft verurteilt wurde!

Diesen zweiten Abend inszenierte Ullmer mit einer Wucht, die den Zuschauer emotional an die Grenze des Ertragbaren führen kann, nicht zuletzt mithilfe der hohen Intensität ihres – oben bereits genannten – Schauspielerteams, das hier durch Jasmin Buterfas, Lars Ceglecki, Sandra Kiefer und Thomas Krecker in ihren bedrängenden Rollen-Figuren hochkarätig ergänzt werden konnte.
Die Frage bleibt:

Wie lässt sich – angesichts der beengten Möglichkeiten dieser Art von Kulturberichterstattung – eine Würdigung jener zwei ¬künstlerisch gesehen – sensationellen Produktionen zusammenfassen ?

Nun, es scheint folgende Gedankenübung wert zu sein:

Die Götter zu versuchen ist immer ein Spiel mit dem (Feuer-)Teufel und endet, wenn man den „Chefgott“ so genialisch darstellt wir Tom Pidde ( an der Spitze der Männerriege) – dies gelingt, unweigerlich im Zusammenbruch des gottgeschaffenen Kosmos auf den Status des „vorschöpferischen“ Chaos.

Das lässt sich an den zwei hochvirtuosen Inszenierungen ablesen : Kauen und Herunterwürgen dieser Erkenntnis ist für den- zumeist ja unvorbereiteten- Zuschauer vielfach eine Qual. Noch dazu, wenn ein Multitalent wie Ines Nieri ( an der Spitze der Frauenriege ) sich an beiden Abenden von Figur zu Figur wandelt, deren Lebenskämpfe auf schmerzlich erkennbare Weise zu einer Art Psycho-Corrida werden.

Das war gewiss auch für manche Zuschauer-Nerven zu viel – vor allem die, stets überraschend übergangslose, Mixtur von Moritat, Märchen und tragischer Farce! Dieser, sich an beiden Abenden ständig wiederholende Sprung über den Schatten des Unheils jenes hilflosen Wesens Mensch, das sich – wie Sartre das ausdrückt – Stück für Stück seiner „Geworfenheit“ bewusst wird und dadurch Lebensmut und Lebensfreude zwangsläufig eintauschen muss gegen – anscheinend unausweichliche – Direktheit, die nicht die geringste Sinnhaftigkeit oder Strahlkraft enthält!

Zwei wahrhaft grosse Theaterabende!

Foto: Stefan Malzkorn