Von Hans-Peter Kurr
Neues Stage-Entertainment Musical im Operettenhaus
Dort, wo die Geschichte Hamburgs als Deutschlands Musical-Stadt Nr. 1 mit dem hinreißend-romantischen Märchen „Cats“ einst begann, als die Schlesselmann-Ära des damals scheinbar verlorenen Operettenhauses endete, wird jetzt, wie nunmehr die großen Musical-Bühnen der Weltmetropolen von New York, über London bis Hamburg beherrschende Fortsetzung des internationalen Hits „Phantom der Oper“ mit dem romantischen Titelsong „Liebe stirbt nie“ auf der Reeperbahn bejubelt.
Unter dem Dirigat von Bernhard Volk brillierten neben einer Riege namhafter Solisten, die hier nicht individuell gefeiert werden sollen, (weil die Mehrfachbesetzungen verständlicherweise wechseln) mit nicht weniger als 28 neuen Songs über zwei Teile verstreut, für die auch mehrere höchst originelle Sänger engagiert wurden wie etwa der Solist des Knabenchores Dortmund, Kim Benedikt als Gustave.
Die ans Herz greifende Geschichte der Wiederbegegnung zwischen dem maskierten Phantom und Christine auf New Yorks Sommerinsel Coney-Island setzt die Erfolgsreihe der „Stage-Entertainment“-Produktionen ungebremst fort und wird das hamburgische Operettenhaus gewiss einige Jahre lang zieren.
In unserem System der ( wenn auch inzwischen zumeist miserabel) subventionierten Stadt- und Staatstheater sind kommerzielle Musical-Produktionen wie diese immer noch umstrittene Konkurrenzunternehmen. Dabei wird gern vergessen ( oder verdrängt?), wie alles begann:
Der Theaterbesucher in der Zeit des Nazi-Regimes in Mitteleuropa konnte in vielerlei Hinsicht kulturell nicht auf dem aktuellen Stand des internationalen Theaters sein, weil alles, was nicht „deutschem Geist“ entsprang, als entartet galt. Dazu gehörte auch das amerikanische Vaudeville, das sich in USA langsam überlebte und zur Kategorie „Musical“ entwickelte.
Opera buffa, Operette und das Singspiel Vaudeville hatten schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Unterhaltungsbühnen in New York und London ihren Höhepunkt überschritten und daher keine große Bedeutung mehr. Langsam erhob sich der erste Glanz derjenigen Kategorie über den Horizont, die wir heute als „Mutter der Musicals“ zu nennen uns angewöhnt haben. Dazu zählen die großen Klassiker wie Cole Porters oder George Gershwins Arbeiten. Unbestrittener Höhepunkt dieser Zeit wurde Leonard Bernsteins „ West-Side-Story“. Damit sind wir aber bereits im Jahr 1957. Zwei Jahre zuvor erschienen die ersten Musicals, nachdem sie mit „Kiss me ,Kate“, „Annie, get your gun“, der Fabel „Die Schöne und das Biest“ oder „Anatevka“ London erobert hatten, auch auf deutschen Bühnen, obwohl es (noch ) kein dafür ausgebildetes künstlerisches Personal gab.
Beispiel: „Kiss me Kate“ ( basierend auf Shakespeare’s „Der Widerspenstigen Zähmung“) erlebt an den Städtischen Bühnen Frankfurt 1955 die deutsche Erst-Aufführung mit der glänzenden Lola Müthel in der Titelrolle und in der Inszenierung keines Geringeren als des Generalintendanten Harry Buckwitz, der sich gewöhnlich damit beschäftigte, Brecht in der damaligen BRD gegen heftigen rechten politischen Widerstand durchzusetzen. Später kam die Filmindustrie auf den Geschmack: Der Oscar-überschüttete „Amerikaner in Paris“ gilt als d a s klassische Beispiel für diese Behauptung, „The sound of music“ oder „Mary Poppins“ sind weitere.
Es folgte – auch in Mitteleuropa – die unruhige Zeit der „68er“, die ihren Niederschlag nicht nur in Musicals wie „Hair“ oder „Oh, Calcutta“ fand, sondern von vielen kleinen deutschen Stadttheatern thematisiert wurde, obwohl die Intendanten die Partien mit Operettensängern besetzen mussten, die etwa von den neuen Techniken des Musical-singers, wie etwa der des „Belting“, keine Ahnung hatten ( Das englische Wort„Belting“ heisst – wörtlich übersetzt – „schmettern“ und bezeichnet eine spezielle Gesangstechnik aus Rock- und Popmusic ). Von Hagen bis Flensburg geisterte in diesen Jahren zum Beispiel die Adaption von Shakespeares „Was Ihr wollt“ in der Donald-Driver-Version mit dem Titel „Your own thing“ durch die Provinz. Damals bekannte Schlagersänger wie Bully Buhlan, die junge Renate Kern oder die auf anderen Feldern durchaus erfolgreiche schwarze Altistin Mona Baptiste wurden für die Hauptrollen engagiert.
Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt: Im Zentrum des Betrachters erscheinen die großen Ausstattungsstücke der 80er Jahre ( fast sämtlich komponiert von Andrew Lloyd Webber) wie die eingangs erwähnten „Cats“ oder der Bochumer ‚Renner’ „Starlight Express“, Hamburgs Hafen-Klassiker „König der Löwen“ , das Revolutionsdrama „Les Miserables“ oder das – auch als Tournee reisende – „Phantom der Oper“.
Sie alle wurden und werden produziert von millionenschweren , selbstverständlich nicht subventionierten Firmen, die für eine einzelne, in der Regel jahrelang laufende, Produktion jeweils ein eigenes Haus bauen. Ein Vabanquespiel, das entweder glückhaft ausgeht wie in Hamburg , Stuttgart oder Köln oder in die Pleite führt wie beim Essener „Colosseum“ oder die Spielstätte in Niederhausen bei Frankfurt geschehen.
Einzuprägen hat man sich lediglich, dass alle diese Unternehmungen mit „Kunst“ nichts zu tun haben. Sie wollen ( und der ‚Zeitgeist’ scheint das zu rechtfertigen) nichts anderes als anspruchslos, aber nach der Maxime der „wertgleichen Wiederholbarkeit“ ( will sagen: Alle Aufführungen desselben Werkes sind international auf allen Spielstätten vollkommen identisch!) unterhalten und damit beträchtliche Summen eintreiben. Und sie machen kein Hehl daraus: Die Eintrittspreise sprechen Bände, die häufig 99%ige Auslastung der Häuser ebenfalls. Dafür wird in der Regel ein nachgerade sensationelles Personal- und Ausstattungsniveau geboten. Dies zeigt sich auch bei „Liebe stirbt nie“, jenem Musical, mit dem unsere Betrachtung begann.